«Die Schweiz ist keine urbane Gesellschaft»
Vor welche Herausforderungen stellen verdichtete Quartiere die Architekten – und wie gehen sie damit um? Anna Jessen und Ingemar Vollenweider erzählen von ihren Erfahrungen.
Veröffentlicht am 26. August 2015 - 12:11 Uhr
Zu den Personen
Anna Jessen und Ingemar Vollenweider führen seit über 15 Jahren ein Architekturbüro in Basel.
Daneben sind beide an Universitäten tätig: Jessen lehrt seit 2011 an der TU Darmstadt Entwerfen und Raumgestaltung, Vollenweider seit 2006 an der TU Kaiserslautern Stadtbaukunst und Entwerfen.
Beobachter: Wachstumsdruck und Dichtestress sind in aller Munde. Die Revision des Raumplanungsgesetzes fordert jedoch die innere Verdichtung von Siedlungen. Gleichzeitig wird Kritik am Wachstum laut. Wie begegnen Architekten und Planer diesen Problemen?
Ingemar Vollenweider: Grundsätzliche Konflikte mit der Verdichtung zeigen, dass die Schweiz keine urbane Gesellschaft ist. Städte wie Basel sind nicht durch dicht bebaute Viertel geprägt. Zudem sind wir in der Schweiz von einer starken Erweiterung der Städte verschont worden, wie sie beispielsweise in Deutschland in den 1960er Jahren betrieben wurde.
Anna Jessen: Noch zentraler scheint mir das ausgeprägte Selbstverständnis des Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen. Wir sind in der Schweiz geprägt von Föderalismus und politischer Partizipation und gleichzeitig geschult durch die öffentliche Debatte über das Bauen.
Beobachter: Wie lässt sich trotz ländlicher Prägung der Schweiz der Flächenkonsum reduzieren, um Verdichtung zu schaffen?
Vollenweider: Die Probleme bei der Verdichtung sind eigentlich nicht quantitative, sondern primär qualitative. Nur wenn wir in der Lage sind, wohnliche Orte zu schaffen, wird es uns gelingen, dass Menschen den Raum mit anderen teilen.
Beobachter: Was zeichnet Orte aus, an denen man gern wohnt?
Vollenweider: Zentral dafür sind gegliederte Übergänge vom öffentlichen Raum – also der Strasse – bis zum Privaten, der Wohnung. Entscheidend ist, dass man spürt, wie der Weg in die eigene Wohnung über differenzierte Stufen hinweg privater wird. Solche Schwellenzonen sind etwa der Vorgarten oder der Hauseingang, die Haustür, die Eingangshalle mit Briefkästen und dem Schwarzen Brett, das Treppenhaus sowie die Wohnungstür. In diese Stationen auf dem Weg von draussen nach drinnen fliesst oft zu wenig gestalterische Energie. Sie wären aber wichtig, damit aus einer Wohnung Heimat werden kann.
«Oft denken Architekten nicht über ihre Grundstücke hinaus. Man muss aber den Blick fürs Ganze behalten.»
Anna Jessen
Beobachter: Sorgfältig gestaltete Wohnbauten sind sicher ein wichtiger Punkt, doch wie reduzieren wir den Flächenkonsum?
Jessen: Unsere Vätergeneration hat auf grossem Fuss gelebt. Sie beglückte uns mit Auto- und S-Bahnen. Ein haushälterischer Umgang wäre aber seit je eine zentrale Grösse in der Handhabung von Raum und Boden. Dabei können wir paradoxerweise von der Landwirtschaft lernen. Dort sind Sorgfalt und ökonomischer Sinn für den kleinsten Flecken vorhanden. Im heutigen Alltag jedoch sind unnötige Restflächen auf allen Ebenen anzutreffen, nicht nur bei Aussenräumen oder Verkehrswegen. Es ist verrückt, dass man gerade auch in den sogenannt marktgängigen Wohnungsgrundrissen überall Bereiche findet, die gar nicht genutzt werden.
Beobachter: Wie liessen sich diese Restflächen vermeiden?
Jessen: Die Schlafwagen der Eisenbahn sind ein gutes Vorbild: Auf engstem Raum müssen verschiedenste Funktionen Platz finden. Die Dinge müssen passen.
Vollenweider: Passgenaue Bauten zu entwerfen, die sich gut in die bebaute Umgebung einfügen und keine Restflächen entstehen lassen, ist unsere Aufgabe. Wenn Menschen sich mit Orten nicht identifizieren können und sofort wieder ausziehen, ist alle Nachhaltigkeit umsonst.
Jessen: Oft denken Architekten leider nicht über ihre Grundstücke hinaus. Man muss aber den Blick fürs Ganze behalten. Dazu gehören auch die Bauten auf den Nachbarparzellen. Ein Neubau soll sich so einfügen, als ob er schon immer dazugehört hätte, auch wenn er neue Züge trägt.
Beobachter: Sie haben jüngst ein Wohnviertel am Schaffhauserrheinweg in Kleinbasel errichtet. Obwohl es möglich gewesen wäre, haben Sie die Parzellengrenzen nicht komplett zugebaut, sondern extra Lücken gelassen. Ist das ein Rezept, um mit Dichte umzugehen?
Vollenweider: Um die Bauten gut einzupassen, haben wir uns stark am Vorhandenen orientiert. Und Lücken zu lassen ist typisch für die Umgebung des Schaffhauserrheinwegs.
Beobachter: Welche weiteren Vorteile hat solch eine offene Bebauung?
Jessen: Wir konnten die Wohnungen auf vier Häuser verteilen. Durch ihre versetzte Lage können die Bewohner an den Nachbarbauten vorbei ins Freie sehen. Selbst aus der zweiten Reihe hat man so den Blick auf den Rhein.
Vollenweider: Die Idee dazu stammt aus dem Film. Dort spricht man vom Off-Screen-Space, jenem Raum, der im Bild nicht sichtbar ist. Das ist sehr ökonomisch und spannend. Schauspieler schauen an der Kamera vorbei. Das öffnet den imaginierten Raum des Zuschauers. Dasselbe kann man im Städtebau machen. Wenn man Lücken und Durchblicke zulässt, entsteht trotz Dichte kein Gefühl von Enge.
«Wenn man Lücken und Durchblicke zulässt, entsteht trotz Dichte kein Gefühl von Enge.»
Ingemar Vollenweider
Beobachter: Neben dem Trick mit der Blickregie ist aber auch der private Aussenraum wichtig, damit man sich in dichten Quartieren wohl fühlt. Bei Ihrem Beispiel in Basel läuft eine hölzerne Veranda rund um die Häuser.
Jessen: Die Veranden machen die Fassade benutzbar und veränderbar. Sie bilden eine Struktur, in der sich das Leben einnisten kann.
Beobachter: Wie funktioniert die Fassade mit den Veranden denn konkret?
Vollenweider: Die Veranda ist ein Filter, der in beide Richtungen wirkt: gegenüber dem privaten Wohnen wie auch gegenüber dem öffentlichen Raum. Sie ermöglicht gleichzeitig Blicke in die Weite und die Nähe zu den Nachbarn. Dafür bieten flexible Vorhänge Schutz vor neugierigen Blicken.
Beobachter: Lücken und Freiräume oder die Veranda als privates Aussenwohnzimmer dienen Ihnen als Mittel, um die Dichte angenehm zu gestalten. Ist der Freiraum wichtiger geworden als die Architektur?
Jessen: Die Objektfixierung der Architekten ist ein grundsätzliches Problem. Das beginnt leider schon in der Architekturlehre. Situationen statt Objekte zu entwerfen ist deshalb das Rezept für die Zukunft.
Vollenweider: Zentral ist für uns die räumliche Qualität: Im Freiraum und an der Fassade darf sich die Architektur nicht verschliessen, aber die Bewohner sollen sich auch nicht ausgestellt fühlen. Dieses Verhältnis gut abzustimmen ist die Herausforderung bei der Verdichtung.
Beobachter: Mit welchen Tricks werden knappe Grundrisse optisch grösser?
Jessen: Wie beim Aussenraum gilt auch im Innern: Der Blick in die Tiefe vergrössert optisch jede Wohnung. Ist das nicht möglich, lässt ein Rundlauf durch alle Wohnräume den Eindruck von Grosszügigkeit entstehen. Korridore können so entfallen, und Zimmer sind direkt über die Wohnräume erschlossen.
Vollenweider: Manchmal geht es um kleine Details. Wir selber lebten lange in einer Wohnung aus den 1950er Jahren. Dort führte sowohl von der Küche wie auch vom Wohnzimmer eine kleine Tür auf den Balkon. Solche Dinge sind genauso wichtig wie gut geschnittene Zimmer, die man einfach möblieren kann, damit man sich auch in kleineren Wohnungen wohl fühlt.
Jessen: All das bedeutet aber mehr Arbeit: Für die Planung eines verdichteten Wohnquartiers arbeitet man als Architekt länger pro Quadratmeter Fläche.
Zum Autor: Roland Züger ist Architekt, lehrt am Institut «Urban Landscape» der ZHAW in Winterthur und ist Redaktor der Architektur-Fachzeitschrift «werk, bauen + wohnen». Dort erscheint in der Oktobernummer sein ausführlicher Bericht zum Wohnviertel von Jessen und Vollenweider in Basel.