Sie will 10-Minuten-Nachbarschaften für die 10-Millionen-Schweiz
Die Schweiz braucht bis 2050 über eine halbe Million zusätzliche Wohnungen. Das Wohnen muss darum viel näher zu den Arbeitsplätzen rücken, sagt ETH-Forscherin Sibylle Wälty.
Veröffentlicht am 2. März 2023 - 16:59 Uhr
Sibylle Wälty, Sie fordern eine massive Verdichtung der Städte durch den Bau von mehr Wohnungen in höheren Häusern. Viele Städter beklagen heute schon den Dichtestress. Wie soll das funktionieren?
Der Eindruck entsteht nicht wegen zu vieler Stadtbewohner, sondern weil täglich viele Leute mit Autos oder ÖV zum Arbeitsplatz oder zum Freizeitangebot in die Städte fahren. Der Bevölkerungsstand in der Stadt Zürich beispielsweise entspricht dem Wert von 1960, es wird aber deutlich mehr Wohnfläche beansprucht als damals. Auch gibt es fast doppelt so viele Arbeitsplätze.
Stadtregierungen sind stolz darauf. Arbeitsplätze machen Städte auch attraktiv, um dort zu wohnen.
Ja, aber mehr Arbeitsplätze erhöhen die Nachfrage nach Wohnraum. Wenn dieser nicht in der Stadt gedeckt wird, nimmt der Bau von Wohnsiedlungen in suburbanen und ländlichen Regionen zu. Es ist kontrovers: Zusätzlicher Wohnraum in den Zentren wird verhindert, aber Milliarden werden investiert in den Ausbau von Verkehrsinfrastrukturen und Subventionierung des Pendelns und Wohnens in den suburbanen und ländlichen Regionen.
Die 45-jährige Raumentwicklungs-Wissenschaftlerin und Stadtökonomin Sibylle Wälty forscht am ETH-Wohnforum und lehrt an der ETH Zürich.
Mit dem Schlagwort 10-Minuten-Gesellschaft wollen Sie aufzeigen, wie urbane Zentren sozial und ökologisch funktionieren können. Was braucht es dazu ausser mehr Einwohnern?
Eine 10-Minuten-Nachbarschaft erfordert in einem Radius von 500 Metern mindestens 10’000 Einwohner und 5000 Arbeitnehmende in Vollzeit. In diesem Perimeter kann attraktives, urbanes Leben entstehen, weil vieles in 10 Gehminuten erreicht werden kann. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit. In dieser Dichte hat es genügend Laufkundschaft, und das ist überlebenswichtig für Läden, Restaurants und andere Anbieter. Doch nicht nur das: Der Anteil der mit dem Auto zurückgelegten Etappen sinkt auf etwa 15 Prozent, in Agglomerationen und auf dem Land liegt er dagegen bei rund 50 Prozent.
Wie wollen Sie in den Städten mehr Wohnraum schaffen, wenn es dort kaum noch Bauland hat?
In der Schweiz werden aktuell jährlich rund ein Prozent der Gebäude saniert. In den vergangenen 60 Jahren entstanden dabei viele Ersatzbauten, doch wegen der grösseren Wohnflächen führten sie meist zu einer Ent- statt zu einer Verdichtung. Damit genügend Wohnraum in den Städten möglich wird, müssten an geeigneten Standorten Hochhäuser gebaut werden dürfen. Spürbar entlastet wäre auch der Wohnungsmarkt, wenn bestehende Gebäude um zwei Geschosse auf sechs bis acht Geschosse aufgestockt würden. Hat es genügend Wohnraum, werden auch die Preise sinken.
«Fachpersonen und die Politik entscheiden häufig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg.»
In Städten werden heute für den unteren Mittelstand kaum bezahlbare Wohnungen gebaut. Städte entwickeln sich zu Wohn-Bubbles für Reiche. Was soll dem entgegenwirken?
Gemeinnütziger Wohnraum bedeutet zwar günstigere Wohnungen, doch das wird nicht reichen. Ein spürbares Plus an Wohnraum sollte einfacher und mit mehr Rechtssicherheit erstellt werden können.
Das tönt ja alles sehr schön. Aber auch nach Sandkastenspielerei. Was braucht es, damit 10-Minuten-Städte tatsächlich gebaut werden?
Städte, die sich der Verantwortung ihrer Zukunftsfähigkeit bewusst sind und bei der Raumplanung eine umfassende Interessenabwägung bei der Planung von Verdichtungen vornehmen. Sie stellen die Weichen für 10-Minuten-Nachbarschaften.
«Die meisten Menschen beschäftigen sich mit dem Lebensraum, den sie vor ihrer Haustür antreffen.»
Bei Raumplanung denken viele eher an das Einrichten der eigenen Wohnung. Den Rest überlässt man gern Expertinnen und der Politik. Haben diese versagt?
Fachpersonen und die Politik entscheiden häufig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg. Dass das revidierte Raumplanungsgesetz nicht vollzogen wird und nicht ausreichend Möglichkeiten für eine nachhaltige Verdichtung geschaffen werden, ist der Öffentlichkeit kaum bewusst. In der Stadt Zürich zum Beispiel fehlen rund 300’000 Einwohnerinnen und Einwohner, um eine Stadt der kurzen Wege möglich zu machen, wie es der kommunale Richtplan fordert. Über Raumplanung muss viel transparenter informiert werden. Dann kann die Bevölkerung auch bei der Gestaltung ihres eigenen Lebensraums mitwirken.
Den idealisieren viele Menschen mit ländlichen Gegenden, Blick auf Kühe.
Die meisten Menschen beschäftigen sich mit dem Lebensraum, den sie vor ihrer Haustür antreffen. Wenn raumplanerische Massnahmen für die Bevölkerung nicht nachvollziehbar sind, wehren sich Anwohner auch gegen sinnvolle, neue Vorhaben. Damit die wichtige Verdichtung gelingen kann und unsere Landschaft nicht einfach weiter zersiedelt wird, braucht es eine nachvollziehbare Planung, die 10-Minuten-Nachbarschaften erst möglich macht.
2 Kommentare
Damals, ich war grad in der Berufslehre, sprach man schon aufgeregt davon, dass Firmen aus den Städten raus aufs Land müssten. Dann würde ein Teil der Bevölkerung auch dorthin ziehen. Dadurch würden nicht diese gigantischen Pendlerströme entstehen. Die Zentren wären entlastet und wohnlicher.
In 5 Jahren werde ich pensioniert. Sind wir schon einen einzigen Millimeter weiter? Irgendwelche einflussreichen Kräfte scheinen von dieser steten Verknappung zu profitieren. Welche?
Ich sehe als Laie zunächst zwei Möglichkeiten:
1. Nationale Harmonisierung der Steuerlast. Dann verteilt sich vieles räumlich ganz automatisch besser.
2. Nationale Harmonisierung der Gehälter von Angestellten der öffentlichen Hand. Dann werden auch Randregionen wie der Kt. SH attraktiver. Die sinnlosen Abwanderungen verringern sich.
Der Segen, den einst die Konföderation brachte, ist inzwischen ein Fluch: Jeder Kanton gegen jeden; ebenso jede Ortschaft. Die Reibungsverluste sind phänomenal und treiben die Teuerung zusätzlich hoch. Jetzt hat man ein halbes Jahrhundert geplaudert. Wer hat Taten verhindert? Oder können wir’s einfach nicht? Wir werden nochmal ein halbes Jahrhundert plaudern.
Abgesehen davon kann ich mir schwer vorstellen, dass eine Schweiz grösser als 10 Millionen Sinn macht. Warum denkt man beim Staat nicht über Auswandererprämien nach?
Reine Symptombekämpfung.