Süsses wird sauer verdient
Jeden Herbst rauchen die Schornsteine in der Zuckerfabrik Frauenfeld. Rund 600000 Tonnen Zuckerrüben werden zu Kristallzucker.
Veröffentlicht am 27. Oktober 2003 - 14:55 Uhr
Danke für Ihre Geduld!», sagt die Zuckerrübe auf dem Plakat. Diese Schilder, die dieses Jahr erstmals auf den Zufahrtsstrassen zur Zuckerfabrik Frauenfeld aufgestellt sind, sollen die Autofahrer milde stimmen. Es ist Kampagnenzeit: jene rund zweieinhalb Monate, während deren auf dem Fabrikgelände Berge von schmutzigen Zuckerrüben in mehr als 90000 Tonnen blütenweissen Zucker verwandelt werden – das ist die ganze Jahresproduktion. Und das bedeutet auch Hochbetrieb auf den Strassen, wo sich die Autos zuweilen stauen wie die Rüben auf einem defekten Förderband.
Täglich werden 10000 Tonnen der süssen Knollen angeliefert – auch an diesem feuchtkalten Oktobertag. Der grössere Teil kommt zwar per Bahn. Von den Feldern in der Umgebung wird die Ernte jedoch auf der Strasse angeliefert: 250 Lastwagen und Traktoren mit Doppelanhänger fahren jeden Tag zur Fabrik.
Der Duft der süssen weissen Welt
Die Kampagne wird in diesem Jahr voraussichtlich 76 Tage dauern – die Rübenabteilung der Zuckerfabriken Aarberg und Frauenfeld AG (ZAF) hat eine durchschnittliche Ernte prognostiziert. Heuer werden in Frauenfeld über 600000 Tonnen Rüben verarbeitet. In dieser Zeit liegt ein seltsamer süsslicher Duft in der Luft – ungewöhnlich allerdings nur für Nicht-Frauenfelder: Den Anwohnern ist der Geruch vertraut, der jeden Herbst den beiden Kaminen auf dem Dach der Zuckerfabrik entströmt.
Ein riesiger gelber Bagger wartet auf dem Hof auf die anderthalb Kilogramm schweren Knollen. Was von den Anhängern auf den Hof purzelt, häuft er zu meterhohen und zigtausend Tonnen schweren Bergen auf. So wird sichergestellt, dass die Arbeit in der Fabrik auch nachts und an den Wochenenden nicht ausgeht.
Wie viel geliefert werden darf, hängt vom Kontingent ab, das die Fabrik dem jeweiligen Bauer zugeteilt hat – im Mittel sind es 200 Tonnen. Früher legte der Staat fest, wie viel ein Bauer für seine Rüben bekam; heute handeln Vertreter der Pflanzer und der Verarbeiter die Bedingungen aus.
100 Kilogramm Rüben bringen dem Produzenten zurzeit zwischen acht und elf Franken zwanzig ein. Noch, denn der Bund lässt sich die Rübenverarbeitung ab 2004 jährlich zehn Millionen Franken weniger kosten – und die Fabriken werden den Fehlbetrag bei den Bauern einsparen. «Um trotzdem ein ausgeglichenes Ergebnis zu erreichen, werden wir die Preise um acht bis neun Prozent senken müssen», schätzt ZAF-Direktor Josef Arnold.
«Nun ists doch nur ein durchschnittlicher Jahrgang geworden», korrigiert der Werkleiter Joachim Pfauntsch seine hohen Erwartungen. Nach dem Hitzesommer und ersten Analysen hatte der Chemiker auf viel Zucker in den Rüben gehofft. Der Zuckergehalt jeder Lieferung wird im fabrikeigenen Labor gemessen und ist entscheidend für den Erlös, den ein Bauer für die Ernte erhält. Immerhin hat die diesjährige Hitze den Rüben im Vergleich zu andern Feldfrüchten wenig anhaben können, weil ihre Wurzeln tief in die Erde greifen.
Sogar der Dreck bringt noch Geld
Ein Teil der Erde klebt mit Kraut und Steinen an den Rüben. Je mehr Dreck bei den Stichproben gewogen wird, desto weniger Geld gibts für den Pflanzer. Selbst mit dem ungeliebten Erdanhang machen die Verarbeiter Geschäfte: Sie sind zur Hälfte an der Ricoter Erdaufbereitung AG beteiligt, die die Erde weiterverkauft – sie ist landesweit die grösste Herstellerin von Blumenerde.
Hinter den Türen der grauen Fabrikhalle rattern die Maschinen rund um die Uhr. Die Luft ist heiss, der Geruch derselbe wie draussen, aber konzentrierter. Auf Förderbändern werden die Rüben durch die einzelnen Verarbeitungsstationen geschleust. Frisch geschrubbt und gebadet, geht es ihnen an den Kragen: Die riesige Schneidemaschine schreddert sie in feine Späne, denen anschliessend im heissen Wasser der Zucker entzogen wird. Die Überreste der Rüben werden zu Tierfutter verarbeitet. Im Idealfall sind die Rübenlieferanten gleich auch die Abnehmer der entzuckerten Rübenschnitzel.
Im zentralen Leitstand, einem unscheinbaren Raum inmitten der Fabrik, laufen alle Informationen über die Produktion zusammen und erscheinen in Zahlen und Grafiken auf den Bildschirmen. Dumpf dringt der Maschinenlärm durch die Fenster und vermischt sich mit dem Gesang der kolumbianischen Hitparadenschönheit Shakira aus dem Radio.
In dieser Zeit will niemand fehlen
Salvatore Tramacere ist einer der Männer, die von hier aus die ganzen Abläufe überwachen, in drei Schichten, rund um die Uhr. Seit Rechner Einzug gehalten haben, ist vieles einfacher geworden und genauer. «Stress gibt es erst, wenn der Computer ausfällt», sagt der 40-Jährige. Tramacere hat elf Jahre Erfahrung auf dem Buckel und kann im Leitstand jede Aufgabe übernehmen. Allrounder wie er können einspringen, wenn während der Kampagne einer der Überwacher ausfallen sollte. «Während der Kampagne wird aber kaum einer krank», sagt Werkleiter Pfauntsch. Es ist Ehrensache, dass man seine Kollegen in dieser hektischen Zeit nicht hängen lässt.
Tramacere mag die Kampagnenzeit: «Es läuft etwas, und du musst nicht in die Kälte raus.» Auf dem Hof packen andere an. 47 Saisonniers helfen dieses Jahr mit. Ein grosser Teil der Arbeiter kommt aus Spanien, manche sind seit 40 Jahren dabei.
Der Einsatz von Computern ist die jüngste von zahlreichen technischen Entwicklungen in der Zuckerverarbeitung. Fortschritte wurden vor allem beim Energieverbrauch erzielt: Heute benötigt die Fabrik rund 40 Prozent weniger als Anfang der neunziger Jahre. «Energetisch stehen wir mit 160 Kilowattstunden weltweit im Spitzenfeld», sagt Pfauntsch. Gleichzeitig nahm die Produktion markant zu: Heute werden fünfmal so viele Rüben pro Tag verarbeitet wie noch vor 40 Jahren.
Doch der technische Fortschritt forderte seinen Tribut: Zählte der Betrieb in Frauenfeld im Jahr 1963 noch 308 Mitarbeiter, sind es bei dieser Kampagne noch 182, davon sind 135 fest angestellt.
Hinter den weissen Zuckerbergen ziehen dunkle Wolken auf. Noch produziert die ZAF in einem gut geschützten Markt, denn auf billigen Importzucker schlägt die Schweiz Einfuhrzölle, die fast das Doppelte des Weltmarktpreises betragen: derzeit 61 Franken pro 100 Kilo. Doch damit könnte es bald vorbei sein: Vor allem exportierende Entwicklungsländer fordern von der WTO die Beschränkung oder gar Aufhebung der Zölle auf landwirtschaftlichen Erzeugnissen.
Noch ist es nicht so weit, und die Schweizer Produktion läuft auf Hochtouren. In der grauen Fabrikhalle reihen sich glänzende Stahltanks aneinander. Schilder verraten unkundigen Fabrikbesuchern, was hinter den Metallwänden vor sich geht, zu sehen ist davon wenig. Dem so genannten Dünnsaft werden mit Kalkmilch und Kohlesäuregas die Nichtzuckerstoffe entzogen. Nach der Filterung und Reinigung wird er eingedickt und kristallisiert. Die Zentrifuge trennt die Melasse vom Kristallzucker. Die Melasse dient als Futtermittelzusatz oder Anzuchtmedium in der Hefeproduktion. Der Kristallzucker landet nach der Trocknung in einem der fünf Silos. Eine anderthalb Kilo schwere Rübe wird zu 220 Gramm Zucker.
Es gibt nur einen Zucker
Sollten die Einfuhrzölle erheblich sinken, sieht ZAF-Chef Arnold «katastrophale Auswirkungen» für die hiesige Zuckerindustrie. «Diese Verluste könnten nicht mehr mit einem tieferen Rübenpreis aufgefangen werden», ist er überzeugt. Beliebig gesenkt werden kann der Preis ohnehin nicht, da sich irgendwann kein Bauer mehr findet, der zu diesen Bedingungen produzieren will. Ausweichmöglichkeiten auf Nischenprodukte gebe es im Zuckerbusiness nicht, erklärt Josef Arnold: «Zucker ist nun mal ein global gleiches Produkt.»