Die Kinder von einst «Versorgten» leiden bis heute
Die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen haben Schlimmes erlebt. Nun zeigt eine Studie: Auch ihre Kinder leiden darunter – bis heute. Doch sie haben auch Strategien entwickelt, mit denen sie ihr Leben trotzdem meistern.
Veröffentlicht am 22. Dezember 2022 - 14:00 Uhr
Zehntausende Kinder, die als Arbeitssklaven gehalten, in Erziehungsheime abgeschoben, geschlagen, psychisch misshandelt und sexuell missbraucht wurden; ledige Mütter, denen man die Kinder wegnahm, die man sterilisierte und ohne Verfahren ins Gefängnis steckte; Familien, die auseinander gerissen wurden – erst 1981 hatte die unmenschliche Praxis der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen
durch Schweizer Behörden in dieser Form ein Ende.
Die Folgen spüren selbst noch die Kinder der Betroffenen. Das zeigt die interdisziplinäre Studie «Von Generation zu Generation. Über die Folgen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen für Nachkommen» von Andrea Abraham, Nadine Gautschi und ihren Kolleginnen und Kollegen von der Berner Fachhochschule.
Bei der qualitativen Untersuchung im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms befragten sie 27 Betroffene mit Jahrgängen zwischen 1940 und 1990. «Wir wollten wissen, wie sie die Auswirkungen der Vergangenheit ihrer Eltern auf ihr eigenes Leben deuteten und welche Strategien sie zur Bewältigung ihres von Traumata geprägten Alltags entwickelt haben», sagt Studienleiterin Andrea Abraham.
Viele erzählen von Mitleid, Angst oder Schuld gegenüber ihren Eltern.
Die Interviews zeigen, dass sich bei vielen Kindern wiederholte, was ihre Eltern erlebt hatten: Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung. 6 der 27 Befragten wurden zudem ebenfalls in Familien oder Heimen fremdplatziert.
Ein Teil der Betroffenen berichtet von einer regelrechten Tabuisierung: Die Vergangenheit der Eltern sei omnipräsent gewesen, darüber gesprochen wurde aber kaum . Den Kindern war bewusst, dass der Vater oder die Mutter – in einigen Fällen sogar beide Elternteile – Schlimmes erlebt hatten, sie konnten es aber nicht einordnen. Heute berichten sie von einem ausgeprägten Gefühl von Mitleid, Angst oder Schuld gegenüber den Eltern, das sie als Kinder hatten.
Der Wille, es besser zu machen
Die meisten Opfer administrativer Zwangsmassnahmen wünschten sich für ihre Kinder ein besseres Leben und waren dafür bereit, auf vieles zu verzichten. Doch die Ausgangslage war für die meisten schlecht. Mit der Volljährigkeit wurden sie von einem auf den anderen Tag in die Selbständigkeit entlassen.
Sie hatten kaum Geld und wussten nicht, wie man damit umgeht. Sie hatten weder eine Familie noch ein soziales Netz, das Halt gab und an dem sie sich orientieren konnten. Und: Viele von ihnen hatten Gewalt erlebt, waren traumatisiert und mit teils kruden Moralvorstellungen auf gewachsen.
«Durch die Tabuisierung des Geschehenen, die in vielen dieser Familien teils seit Generationen vorherrscht, ist es schlicht keine Option, über das Erlebte zu reden.»
«Das Problem ist, dass solche Traumata so lange weitergegeben werden, bis ein Glied die Kette sprengt», sagt Nadine Gautschi. Der Wille, diese Ketten zu sprengen, sei bei allen Befragten vorhanden. «Ich wollte beweisen, dass ich es besser machen werde. Ich habe studiert, ich habe einen guten Beruf ... Ich will nicht, dass meine Kinder das tragen müssen», erzählte etwa Daphne* (Name geändert).
Aber nicht alle hätten die Kraft, die Möglichkeit oder das Bewusstsein, das für ein Ausscheren aus diesem Teufelskreis nötig wäre, sagt Gautschi. Da viele Betroffene aus einem eher sozial schwachen und bildungsfernen Umfeld kämen, sei auch die Bereitschaft, sich psychotherapeutische Hilfe zu holen, für viele mit Scham behaftet. «Durch die Tabuisierung des Geschehenen, die in vielen dieser Familien teils seit Generationen vorherrscht, ist es schlicht keine Option, über das Erlebte zu reden.»
Die eigenen Kinder misshandelt
Auch die nachfolgende Generation sei misshandelt und vernachlässigt worden. Schockierend sei gewesen, dass das von ihrem Umfeld zwar registriert worden war, aber nicht reagiert wurde, so Andrea Abraham. «Alle wussten es, aber niemand unternahm etwas.»
Viele der Interviewten verliessen das Elternhaus sehr früh. Etliche gründeten eine Familie, mit dem Wunsch, es mit ihren Kindern besser zu machen, ihr Trauma nicht weiterzugeben und so die Kette zu durchbrechen. Viele erforschten ihre Familiengeschichte und suchten Antworten, die sie von ihren Eltern nie bekommen hatten. Eine grosse Anzahl arbeitet heute in sozialen Berufen.
Nachkommen berichten aber auch Positives über ihre Eltern. Sie hätten als Folge ihrer schweren Vergangenheit Überlebensstrategien entwickelt, etwa einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, grossen Durchhaltewillen, ein hohes Arbeitsethos und tiefe Tierliebe. Diese Eigenschaften übernahmen die Kinder der Opfer und versuchten, sie an ihre eigenen Kinder weiterzugeben und ihnen so das gute Leben zu ermöglichen, das sie und ihre Eltern nicht hatten.
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1 Kommentar
Was Andrea Häfeli über Jana L. (betr. Verdingkiner) schreibt ist für mich - ehemalig Pflegkind - sehr wichtig dass man diesbezüglich Aufklärung betreibt......Verdingkinder leiden Lebenslang an den dessen Folgen, wo man das wohl des Kindes arg vernachlässigte......mit schweren pychischen Störungen gehen betroffene als erwachsene ins Leben......Schlimmer noch, sie geben ohne es zu wollen, an ihren eigenen Lebenspartner und die Kinder weiter....die wiederum selische Störungen ins Leben hinaus mitnehmen.....Dies schreibe ich....da meine Krankenakte, infolge Vernachlässigungen diesbezüglch.....seit weit mehr als 50 Jahren nie geschlossen wurde....und bis an mein Lebensende offen sein wird...es fällt mir nicht leicht dies zu schreiben.....sehe ich doch, was es meinerseitz weitergegeben hat.....Schmerz - Leid - Entäuschung......und sehr HOHE KOSTEN.... Peter Kammermann