«Ich will die Kette sprengen»
Ihre Grossmutter, ihre Eltern und sie selbst litten unter den Folgen administrativer Zwangsmassnahmen – das Trauma wurde weitergereicht. Dem will Jana L.* ein Ende setzen.
Veröffentlicht am 22. Dezember 2022 - 16:44 Uhr
Mein Name ist Jana L.*. Die Schweizer Behörden haben meinen Vater als Kind ins Heim abgeschoben und dann fremdplatziert. Das hatte schlimme Auswirkungen auf ihn. Aber auch auf mein Leben.
Ich bin nicht nur die zweite, sondern mindestens die dritte Generation in meiner Familie, auf die das Trauma von administrativen Zwangsmassnahmen nachwirkt. Denn nicht nur mein Vater, auch meine Grossmutter war als Kind fremdplatziert worden.
Sie wurde später zudem administrativ versorgt, also weggesperrt. Das habe ich aber erst herausgefunden, als ich schon erwachsen war.
Gewalt und Panikattacken
Ich kam in den Achtzigerjahren als erstes von zwei Mädchen auf die Welt. Es war stets klar: Mein Vater hatte eine sehr schwierige Kindheit. Wir wussten, er war im Heim gewesen und in eine Familie fremdplatziert worden.
«Ich wusste, es war schlimm für meinen Vater. Einmal trat er meiner schwangeren Mutter in den Bauch.»
Allerdings wurde nie darüber gesprochen , was dort genau geschehen war und wie es überhaupt dazu kam, dass er nicht bei seinen Eltern leben konnte. Es war ein riesiges Tabu.
Aber ich wusste: Es muss schlimm gewesen sein. Mein Vater hatte immer wieder Panikattacken, wurde oft gewalttätig. Er trat einer Sekte bei, was unter meinen Eltern immer wieder zu Streit und gewalttätigen Eskalationen führte.
Einmal trat er meine Mutter in den Bauch, als sie mit meiner kleinen Schwester schwanger war. Er wollte das Baby töten und sie so «von den Dämonen befreien». Ich war damals etwa fünf und musste das mit ansehen.
Ich reagierte mit Bettnässen. Ich erinnere mich nicht, dass ich dafür bestraft wurde, aber ich muss grosse Angst gehabt haben. Ich schüttelte stundenlang die durchnässten Bettwaren am offenen Fenster, um sie zu trocknen. Dass sie trotzdem nach Urin rochen, kam mir nicht in den Sinn. Nach meinem Schuleintritt hörte ich eine Weile auf zu reden.
Als ich sieben war, trennten sich meine Eltern. Der Scheidungskrieg dauerte sieben Jahre. Wenn wir zum Vater durften, war es trotz seiner religiösen Anwandlungen, seiner Panikattacken auch schön. Wir waren mit ihm viel in der Natur unterwegs.
Meine Mutter heiratete in den Neunzigerjahren wieder, da war ich zehn. Ab da wurde mein Leben endgültig zum Albtraum. Der neue Mann war ein Familientyrann. Er terrorisierte uns psychisch und physisch und stellte ein so komplexes Regelwerk auf, dass es schlicht unmöglich war, keinen Fehler zu machen. Hatte man etwa einen Filzstiftflecken auf dem Finger, setzte es Schläge. Auch meine Mutter erfuhr Gewalt.
Von der Mutter verraten
Als ich mit sieben oder acht aufgehört hatte zu sprechen, steckte mich meine Mutter in eine Therapie. Aber dass ihr Mann mich schlug, war für sie kein Thema. Im Gegenteil, sie verriet mich immer wieder an ihn, wenn ich eine seiner Regeln gebrochen hatte, worauf er mich erneut schlug.
Ich realisierte erst viel später, wie sehr es mich verletzt hatte, dass meine Mutter nie für mich eingestanden war, sich nie schützend vor mich gestellt hatte. Dass sie mich an ihren Mann verraten hatte, wenn ich eine seiner Regeln missachtete. Damals wollte ich nur, dass es aufhört. Ich wollte nur weg.
Die Polizei kam einmal wegen der häuslichen Gewalt vorbei und nahm den Stiefvater für kurze Zeit mit. Aber dann stand er wieder da, hässiger als vorher … Damals gab es noch kein Gewaltschutzgesetz.
«Beim Amt hiess es: ‹Zieh doch zu deinem Vater.› Aber der war ja in seinem religiösen Wahn gefangen.»
Eines Tages, ich war schon älter, vertraute ich mich einer Lehrperson an. Aber es geschah – genau nichts. Ich habe bis heute keine Ahnung, was dieser Mensch mit meinen Informationen machte. Ob er sie für sich behielt oder zusammen mit anderen fand, das sei Familiensache und gehe niemanden etwas an.
Auch die damalige Jugend- und Familienberatung, die ich selbständig mit 14 aufsuchte, half nicht. Es hiess nur: «Zieh doch zu deinem Vater.» Aber das war keine Option, der war ja in seinem religiösen Wahn gefangen.
Also beschloss ich, so bald wie möglich auszuziehen. Mit 15 entschied ich mich gegen das Gymi, weil ich möglichst schnell mein eigenes Geld verdienen wollte. Ich suchte mir eine Lehrstelle. Die Lehre schloss ich zwar ab, aber der Job langweilte mich.
Mein Leben wäre viel einfacher verlaufen, wenn ich nicht die Matura hätte nachholen und auf dem zweiten Bildungsweg studieren müssen. Die Vergangenheit meiner Eltern hat auch meinen beruflichen Werdegang massiv beeinflusst.
Mit 15 war ich dann weg. Meine Mutter sagte nur: «Ich habe dich so erzogen, dass du das schaffst. Ich weiss, dass du das hinkriegst, du bist so selbständig.» Was für eine Verdrehung der Tatsachen!
Ihre «Erziehung» war ja unter anderem schuld, dass ich überhaupt aus meiner Familie flüchten musste. Das begreift sie bis heute nicht. Sie hatte wohl ebenfalls nicht die beste aller Kindheiten. Aber darüber weiss ich nur sehr wenig.
Eines Tages meldete sich mein Vater bei mir. Seine leibliche Mutter sei gestorben, sagte er. Ich ging mit ihm in ihre Wohnung.
Es roch. Sie hatte einen Monat lang tot in der Wohnung gelegen. Offensichtlich hatte sich niemand um sie gesorgt. Sie muss Vögel gemocht haben, drei Käfige standen in der Wohnung.
Ich nahm eine Tasche mit Fotos mit, die auf dem Estrich stand. Irgendetwas in diesen Bildern liess mich vermuten, dass auch sie von Zwangsmassnahmen betroffen gewesen war.
Die Geschichte des Vaters
Mittlerweile erhalten Betroffene und Angehörige Zugang zu den Akten . Als ich meinen Sohn bekam, begann ich nachzuforschen. Ich wollte wissen, wie die Traumata, die auch mein Leben so stark beeinflussten, zustande gekommen waren. Und so fand ich heraus, wieso mein Vater fremdplatziert wurde.
Seine Mutter, meine Grossmutter, war ledig und stand unter Vormundschaft, als sie meinen Vater bekam. Die Behörden hielten sie offensichtlich nicht für fähig, allein für den Buben zu sorgen. Er wurde in einem Heim untergebracht. Danach kam er in eine Pflegefamilie.
Der Vater meiner Grossmutter war gestorben, als sie einige Monate alt war. Erst kam sie ins Waisenhaus, dann wurde sie von einem Heim ins andere geschoben. Als ihre Mutter erneut heiratete, durfte sie zurück. Doch irgendwie muss das nicht gut gelaufen sein, denn sie musste wieder zurück ins Heim.
Schliesslich willigte sie – angeblich freiwillig – in eine Vormundschaft ein. Es folgten Aufenthalte in der Psychiatrie. Später arbeitete meine Grossmutter im Zürcher Milieu als Prostituierte und wurde deswegen zwei Jahre in eine Arbeitserziehungsanstalt gesteckt. Das war in den 1960er-Jahren.
Ich arbeite heute im sozialen Bereich, lebe in einer Partnerschaft und Patchworkfamilie. Und ich will alles Nötige tun, dass mein Sohn nicht unter diesen familiär weitergereichten Traumata leiden muss. Ich will diese Kette sprengen.
*Name geändert
Das Elend der Verdingkinder ist seit den 1940er-Jahren ein Kernthema im Beobachter. Opfer von administrativen Zwangsmassnahmen waren Waisen, Kinder von alleinerziehenden Müttern sowie aus Familien, die die Behörden als sozial auffällig einstuften. Unangepasste, «Arbeitsscheue» und ledige Mütter liefen Gefahr, verwahrt und gar sterilisiert zu werden. Anfang der Siebzigerjahre deckte der Beobachter auf , dass die Pro Juventute im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» seit 1926 systematisch die Familien von Fahrenden auseinanderriss und Tausende Kinder fremdplatzierte. Viele wurden sexuell missbraucht, körperliche und seelische Misshandlung galt als Erziehungsmethode. Das endete erst in den Achtzigerjahren.
2008 erzählte der Beobachter das Schicksal von Ursula Biondi, die ohne Gerichtsurteil im Frauengefängnis Hindelbank «administrativ versorgt» worden war. Dieser und weitere Fälle sorgten dafür, dass die damalige Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf 2010 die unschuldig weggesperrten Frauen rehabilitierte. 2013 bat die damalige Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga die Verdingkinder im Namen der Regierung öffentlich um Entschuldigung und ordnete die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte an. Im selben Jahr eröffnete die Guido-Fluri-Stiftung in Mümliswil SO die erste nationale Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder. Die 2014 lancierte Wiedergutmachungsinitiative forderte, dass die Opfer mit 500 Millionen Franken entschädigt werden. 2016 stimmte das Parlament einem Fonds mit 300 Millionen Franken zu. Noch lebende Opfer sollten zwischen 20'000 und 25'000 Franken Entschädigung erhalten. Die anfänglich festgelegte Frist, dass Gesuche nur bis Ende März 2018 eingereicht werden können, wurde mittlerweile aufgehoben.
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2 Kommentare
Danke für diesen Artikel. Es ist wichtig das Thema national, aber auch international zu thematisieren. Wir sind nicht die "heilige" Schweiz wie wir immer nach aussen tun. Jahrelang wohnte ich im Ausland. Da denkt jeder in der Schweiz ist alles perfekt, von Verdingkindern wissen sie nichts. Mein Grossvater war auch ein Verdingbub. Auch ich erfuhr erst davon als ich erwachsen war. Jedoch durfte ich ohne Gewalt und behütet aufwachsen. Mein Grossvater hat die Kette spregnen können. Das wünsche ich Jana auch.
Schön, wenn die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Aber gelernt wurde nichts daraus. Dank der KESB werden heute Familien wieder zerstört. Kann es sein, dass die Gründerin der KESB sich bei den Verdingkinder entschuldigte und zugleich den neuen Terror gründete? Der Psychoterror, der durch die KESB-Mitarbeiter und -Beistände produziert wird, ist kein bisschen besser. Psychischer Terror ist ebenso schlimm, wie physischer Terror.