Kranke Post-Mitarbeiter erhalten oft den blauen Brief
Der staatseigene Konzern Post ist kein gutes Vorbild: Jedem zehnten Angestellten, der längere Zeit ausfällt, wird gekündigt.
Veröffentlicht am 23. Juli 2013 - 09:11 Uhr
Manuela Steiner* wirkt engagiert und selbstsicher, wenn sie von ihrer Arbeit am Postschalter erzählt. Ihre Begeisterung für den Job ist immer noch spürbar. Jeden Tag sei sie gern zur Arbeit gefahren, erzählt sie. Doch dann schiessen der 46-Jährigen plötzlich die Tränen in die Augen. Obwohl die Vorgesetzten ihre Leistungen immer als sehr gut beurteilt hätten, hat Manuela Steiner im Februar die Kündigung erhalten – nach fast 30 Dienstjahren.
Der Grund: Nach einer langwierigen Erkrankung mit extremen Glieder- und Gelenkschmerzen bis zur Bettlägerigkeit konnte die alleinerziehende Mutter dreier Kinder fast zwei Jahre lang gar nicht, am Ende nur mit Hilfe eines Spezialstuhls und reduziert arbeiten. Ausserdem hinkt sie immer noch. «Man sagte mir, es sei zwar erstaunlich, wie schnell ich mich nach so langer Absenz wieder eingearbeitet habe. Doch das Hinken mache gegenüber den Kunden keine Falle.»
Gegenüber dem Beobachter begründet die Post die Kündigung anders: «Es zeigte sich, dass ein Einsatz in der bisherigen Funktion aufgrund des langen Stehens und der weiteren körperlichen Anforderungen trotz Spezialstuhl nicht mehr möglich ist», schreibt Mediensprecher Bernhard Bürki. Alternative Stellen seien «in einem geographisch zumutbaren Umkreis» leider keine vorhanden gewesen.
Rechtlich gesehen hat sich die Post korrekt verhalten. Wird jemand unverschuldet arbeitsunfähig, darf der Arbeitgeber nach Ablauf einer bestimmten Frist kündigen. Bei der Post sind das zwei Jahre.
Manuela Steiner war im Februar 2011 erkrankt. Sie hat zahlreiche Behandlungen und Therapien hinter sich, die Ursache für ihre Beschwerden konnten die Ärzte nie wirklich klären. Sie selber vermutet Nebenwirkungen eines Medikaments, das sie wegen aufsteigender Magensäure einnehmen musste. Steiner wurde vom Gesundheitsmanager der Post begleitet, doch trotz dessen Bemühungen konnte keine auch nur partielle Arbeitsfähigkeit erreicht werden. Auch therapeutische Arbeitsversuche waren nicht möglich.
Im Juli 2012, als sich immer noch keine Besserung abzeichnete, unterschrieb sie deshalb eine Vereinbarung mit der Post, wonach der Arbeitsvertrag auf Februar 2013 aufgelöst werde. Darauf mochte die Post auch nicht mehr zurückkommen, als es Steiner dank homöopathischer Therapie Ende 2012 plötzlich deutlich besser ging und sie ab November doch noch an einem Arbeitsversuch teilnehmen konnte. «Die Post wollte nur jemanden, der zu 100 Prozent genau gleich weiterarbeiten kann wie vorher», sagt sie. «Mir hat man gesagt, ich sei ein Gesundheitsrisiko.»
Ein Einzelfall ist Steiner nicht. Post-Mediensprecher Bernhard Bürki erklärt, im Jahr 2007 habe man von 1612 verunfallten oder erkrankten Angestellten, die mindestens zwei Monate ganz oder teilweise arbeitsunfähig waren, etwas über 300 kündigen müssen, weil eine Wiedereingliederung nicht möglich gewesen sei. 2011 waren es bei 1746 Fällen etwa 200 Kündigungen. Das ist zwar eine sinkende Tendenz, aber immer noch mehr als jedem Zehnten wurde gekündigt.
«Jemanden nach einem Armbruch weiterzubeschäftigen ist doch selbstverständlich, das ist kein Integrationsfall», sagt Bernadette Häfliger Berger, Rechtsanwältin und Leiterin des Rechtsdienstes bei der Gewerkschaft Syndicom.
Die Juristin beobachtet einen Trend: «Die Post stellt nach Ablauf der Sperrfrist die Leute immer häufiger auf die Strasse und tut wenig, um sie wieder zu integrieren.» Eine interne Erhebung der Syndicom über die in den letzten drei Jahren begleiteten Fälle bestätige, dass die Post im Vergleich zu anderen Arbeitgebern besonders grosse Mühe habe, Kranke wieder einzugliedern: Über 70 Prozent aller Gewerkschaftsfälle beträfen Mitarbeitende der Post. «Das ist überdurchschnittlich, auch wenn wir als Gewerkschaft viele Postangestellte vertreten», sagt Bernadette Häfliger Berger. Das sei erstaunlich, denn gerade in einem Unternehmen mit derart vielen Arbeitsplätzen sollte es eher möglich sein, Alternativen zu finden.
Ein weiteres Indiz für die Mühe der Post bei der Reintegration: Beim Beratungszentrum des Beobachters erkundigen sich auffallend viele Postangestellte zum Thema Kündigungsschutz bei Krankheit oder Unfall – ein deutlicher Fingerzeig, dass sich der bundeseigene Konzern kein bisschen vom allgemein in der Privatwirtschaft feststellbaren Trend abhebt, gesundheitlich Angeschlagene loszuwerden.
Auch der Personalverband Transfair stellt eine Zunahme von Postfällen fest. Den Grund sieht man darin: «In vielen Bereichen der Post liegt im Zuge von Effizienzsteigerungs- und Kostensenkungsmassnahmen einfach ein enormer Druck auf den Arbeitnehmenden», sagt René Fürst, Branchenleiter Post/Logistik. Die Post bemühe sich aber, diese Problematik mit einem neuen betrieblichen Case-Management in den Griff zu bekommen.
Sara Herzog* hat davon wenig gespürt. Die 54-Jährige ist enttäuscht von der Post als Arbeitgeberin: «Ich habe meine Gesundheit verloren, ich habe meinen Job verloren, ich habe alles verloren», sagt sie. Die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern hat fast 20 Jahre lang bei der Post gearbeitet, zuerst in Basel, später in der Sendeaufbereitung in Härkingen. Um für ihre Kinder sorgen zu können, arbeitete sie nachts. Doch dann, im März 2009, stiess sie auf ihrem Roller mit einem Lastwagen zusammen und verletzte sich an der linken Schulter.
Bis heute kann Herzog keine schweren Lasten mehr heben. Ebendies war aber Teil ihres Jobs an der Maschine. Die Post nahm auf die körperlichen Einschränkungen Rücksicht und richtete einen Schonarbeitsplatz für Herzog ein. Das lief recht gut, Herzog war ab Juni 2009 bis Ende Juli 2010 abgesehen von einem dreimonatigen Unterbruch immer zu 50, zeitweise zu 25 Prozent arbeitsfähig. Im Juli 2010 musste sie jedoch erneut ins Spital, für eine weitere Operation. Kurz darauf erhielt sie die Kündigung auf den folgenden März – pünktlich zwei Jahre nach dem Unfall, also zum frühestmöglichen Zeitpunkt.
Sara Herzog versteht nicht, weshalb man sie nach so vielen Jahren auf die Strasse stellte – und trotz Topleistungen, die man ihr in den Jahresendgesprächen attestiert habe. Ihren Schonarbeitsplatz habe die Post langfristig nicht in dieser Form halten können. Alternativen habe es aber keine gegeben.
Die Post habe ihr zwar angeboten, in ihrem angestammten Job weniger Stunden am Stück, dafür öfter pro Woche zu arbeiten – das bei einem zweistündigen Arbeitsweg. «Das ging unmöglich», sagt sie. Als Variante hätte sie im Schichtbetrieb arbeiten können, also auch tagsüber. Doch das sei für sie wegen der Kinderbetreuung nicht in Frage gekommen. «Vor allem gehörte aber bei beiden Jobs das Kistenschleppen dazu, das wäre nur schon rein körperlich nicht machbar gewesen.»
Sie selber schlug stattdessen vor, in die Briefklinik zu wechseln. Dort werden etwa aufgerissene Kuverts geflickt oder falsch adressierte Briefe im Computer erfasst. «Es ist leichte körperliche Arbeit und wäre gut geeignet gewesen», sagt Herzog. Auf ihren Vorschlag habe die Post aber nicht eingehen wollen. Weshalb, ist nicht zu erfahren. «Aus Gründen des Datenschutzes» will sich die Post nicht detailliert zum Fall äussern. Man habe Herzog verschiedene Alternativen im gleichen Betrieb angeboten, sie habe sie jedoch abgelehnt, weil sie unbedingt in ihrem Team habe bleiben wollen, sagt Mediensprecher Bürki. Für Herzog hingegen ist klar: «Man wollte mich nicht mehr und hat mich ausrangiert.»
- Arbeitnehmende geniessen Kündigungsschutz, wenn sie verunfallen oder erkranken und teilweise oder ganz arbeitsunfähig werden. Der Arbeitgeber darf ihnen erst nach Ablauf einer bestimmten Sperrfrist kündigen. Die Frist richtet sich nach der Anzahl Dienstjahre. Im ersten Jahr besteht während 30 Tagen Kündigungsschutz, vom zweiten bis fünften Dienstjahr darf der Arbeitgeber den Vertrag frühestens nach 90 Tagen auflösen. Ab dem sechsten Dienstjahr beträgt die Sperrfrist 180 Tage.
- Anspruch auf Lohnfortzahlung haben Arbeitnehmende im Krankheitsfall unabhängig von der Sperrfrist. Laut Obligationenrecht während einer beschränkten Zeit, «je nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses und den besonderen Umständen». Fortschrittliche Firmen schliessen eine Taggeldversicherung ab, die den Ausfall während maximal 720 oder 730 Tagen zu 80 oder 100 Prozent übernimmt. Das ist auch bei der Post so.
- Es gibt keine gesetzliche Pflicht, alternative Stellen für erkrankte oder körperlich eingeschränkte Angestellte zu finden.
- Bei der Post ist der Kündigungsschutz im Gesamtarbeitsvertrag grosszügiger geregelt: Sie darf frühestens nach zwei Jahren kündigen, der Schutz besteht also während der gesamten Zeit der Lohnfortzahlungspflicht.
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Michael Frei*. Der Vater von zwei kleinen Kindern war seit 2008 als Pöstler per Roller unterwegs. Im April 2011 erlitt er auf einer für ihn neuen Tour einen Unfall. Er war auf dem Trottoir gefahren – das sei von der Post so vorgesehen gewesen, sagt er. Bei einer Kreuzung wurde er von einem Autofahrer übersehen und vom Wagen mitgeschleift. Frei verletzte sich an Schulter und Oberschenkel und lag etwa eine Woche im Spital. Doch er wollte schnellstmöglich zurück an die Arbeit.
Noch mit Krücken startete Frei einen ersten Arbeitsversuch in einer Schontätigkeit im Innendienst. Nach zwei Tagen musste er abbrechen – die Schmerzen waren zu gross.
Die Post zeigte wenig Verständnis: Man drohte ihm mit disziplinarischen Massnahmen, weil er sich angeblich nicht abgemeldet hatte vom Arbeitsversuch. «Ich habe Bescheid gesagt, dass ich wieder krank sei», sagt Frei hingegen. Die Post habe ihn für das Scheitern des Arbeitsversuchs verantwortlich gemacht.
Er fiel in ein psychisches Loch. Zudem zeigte er Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund des Unfalls. Wann immer er sich einem Roller näherte, fing er an zu zittern und schwitzte stark. «Ich bekomme heute noch Panik.»
Zu Hause kam er sich nutzlos vor. Es folgten zwei weitere Arbeitsversuche, beide begleitet von Pleiten und Pannen. «Man schickte mich in die Ferien, obwohl ich gar nicht ferienfähig war, oder gab mir Arbeiten, die ich gemäss ärztlichen Zeugnissen gar nicht hätte verrichten dürfen», so Frei. Wieder sei er dafür verantwortlich gemacht worden, dass die Versuche scheiterten. Zu allem Übel hatte die Polizei ihm auch noch die Schuld am Unfall gegeben – weil er auf dem Trottoir gefahren war. Von der Post habe er keine Rückendeckung erhalten. Busse und Gebühren von 600 Franken musste er aus dem eigenen Sack bezahlen.
All das setzte dem Pöstler schliesslich derart zu, dass er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden musste. Von der Post fühlt er sich im Stich gelassen. «Man hat mich fallengelassen wie eine heisse Kartoffel.» Der 47-Jährige ist bis heute psychisch schwer angeschlagen, an Arbeit ist nicht zu denken. Auch er hat pünktlich nach Ablauf der zweijährigen Sperrfrist die Kündigung erhalten.
«Wir haben ein Jahr lang versucht, Herrn Frei wieder zu integrieren. Doch die Arbeitsversuche scheiterten aus gesundheitlichen Gründen. Der prognostizierte Heilungsverlauf führte dazu, dass wir das Arbeitsverhältnis auflösen mussten», sagt Post-Mediensprecher Bernhard Bürki. Es sei das Ziel der Post als eines der grössten Unternehmen der Schweiz, kranke oder verunfallte Mitarbeitende wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren. «In den letzten fünf Jahren konnten wir die Zahl der Mitarbeitenden, bei denen das nicht gelang, um einen Drittel senken.»
*Namen der Betroffenen geändert
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