Nur der Instinkt begleitet sie
Sarah Marquis wandert Tausende von Kilometern allein durch die Wildnis – und wird Schritt für Schritt zum Tier. Die Sinne geschärft, ständig auf der Hut vor dem Tod, der überall lauert.
Veröffentlicht am 4. April 2019 - 14:27 Uhr,
aktualisiert am 25. März 2019 - 10:23 Uhr
«Stehst du allein vor einem Puma, ist es nicht dein Gehirn, das dich rettet. Es sind deine ursprünglichsten Instinkte, die dir sagen, wie du dich verhalten sollst.» Sarah Marquis hat in den vergangenen 25 Jahren mehr als einmal die Welt umrundet. Über 45000 Kilometer durch die Natur, zu Fuss, allein. Dabei wurde sie von grossen, haarigen Spinnen beim Schlafen beobachtet, von Kängurus geweckt, von Dingos verfolgt und von Krokodilen verscheucht.
Und obwohl sie durch Regionen gewandert ist, in denen sogar der sanfte Flügelschlag eines Schmetterlings schmerzende Hautausschläge verursachen kann, war es nie die Natur, die die heute 46-Jährige fürchtete. Es waren und sind die Menschen. «Sie sind viel komplexer als Tiere. Unberechenbarer», so Marquis. Umgeben von Natur hingegen ist die Westschweizerin in ihrem Element. «Ich bin wie eine Kriegerin: nackt, aber stark», schreibt die Autorin in einem ihrer Bücher.
Oder schlicht und einfach verrückt. Davon waren zumindest viele Leute überzeugt, als Marquis ihnen erzählt hat, dass sie zum Beispiel vier Monate lang von der kanadischen zur mexikanischen Grenze gehen, 14000 Kilometer durch das australische Outback laufen, während acht Monaten den Spuren der Inkas von Chile nach Peru folgen oder innert dreier Jahre von Sibirien nach Australien wandern will.
Ganz und gar nicht verrückt fand das die Zeitschrift «National Geographic». Diese nahm Marquis vor einigen Jahren offiziell in die Gilde der Abenteurer auf und verlieh ihr eine der jährlichen Auszeichnungen als «Adventurer of the Year».
Sie selbst sieht sich weder als Verrückte noch als Abenteurerin. Die Gesellschaft liebe es, Menschen, die anders sind, einen Stempel aufzudrücken. «Dabei bin ich einfach, wer ich bin, und mache, was ich will. Die Natur zu verstehen und anderen Menschen von meinen Erfahrungen zu erzählen ist zu meiner Lebensaufgabe geworden.»
Trotzdem ist sie mächtig stolz, dass ihre Leistungen von ihrem Lieblingsmagazin honoriert wurden. Insbesondere deshalb, weil sich viele Menschen unter einem Abenteurer noch immer einen bärtigen, breitschultrigen Mann und nicht eine zierliche Frau mit langen blonden Haaren vorstellen.
Unterwegs ist es dennoch sicherer, das Frausein nicht zur Schau zu stellen. Ihre Haare versteckt sie deshalb meist unter einem Hut. Übergrosse Kleidung und eine Sonnenbrille sollen ihre Weiblichkeit zusätzlich tarnen.
Der beste Schutz ist es allerdings, gar nicht erst mit Menschen in Kontakt zu kommen. Wenn sie Feuer macht, dann in einem kleinen Erdloch, damit es niemand sieht. Nahrung verschlingt sie hastig, ihren Nachtstandort verschiebt sie danach. Wenn immer möglich läuft sie auf hartem Boden, um keine Spuren zu hinterlassen.
Trotzdem sind weder Todessehnsucht noch Angst ihre ständigen Begleiter. Im Gegenteil. «Ich vertraue voll und ganz auf meine Instinkte», erklärt Marquis. Diese hätten sie noch nie in eine bedrohliche Situation gebracht. Passiert sei immer nur dann etwas, wenn sie zu müde oder zu erschöpft gewesen sei, auf sie zu hören.
Wie damals im Grenzgebiet von Laos, Thailand und Myanmar, wo Schlafmohn angebaut und zu Heroin verarbeitet wird. Sie baute ihr Zelt nah am Wasser auf. Diese Quelle nutzten auch Drogenschmuggler, und so wurde sie in dieser Nacht von 15 jungen Männern mit Maschinengewehren bedroht.
In manchen Umgebungen schafft es aber selbst eine Expertin wie Marquis nicht, sich für ihre Spezies unsichtbar zu machen. Etwa in der offenen Steppe in der Mongolei. Betrunkene Reiter entdeckten die Alleinreisende und galoppierten Nacht für Nacht um ihr Zelt.
«Null Risiko gibt es nicht. Die Risikoübernahme ist eine Utopie, die man uns zusammen mit den Versicherungspolicen verkauft.»
Sarah Marquis, Abenteurerin
Solche Erlebnisse haben Marquis allerdings nie davon abgehalten, weiterhin die Welt, die Natur zu erkunden. «Egal, was man tut, null Risiko gibt es nicht. Die Risikoübernahme ist eine Utopie, die man uns zusammen mit den Versicherungspolicen verkauft. Damit lassen wir uns in einen Käfig sperren, der uns unser teuerstes Gut nimmt: die Freiheit», erklärt sie in einem ihrer Bücher. Daher sei die Magie solcher Expeditionen, eben genau nicht zu wissen, ob man sie bis zum Ende durchsteht. Es ist diese Ungewissheit, die sie fasziniert. Und der Moment, in dem sie eins mit der Natur, eins mit sich selbst wird. «Ich glaube fest daran, dass wir uns selbst erst dann richtig kennenlernen, wenn wir unsere Komfortzone verlassen.» Wer dabei auf seine innere Stimme höre, habe nichts zu befürchten.
Die Länder, die sie zu Fuss erkunden will, bereist sie jeweils bereits während ihrer ausgedehnten Planungsphasen vor den Expeditionen. Dabei sucht sie weder auf Tripadvisor nach dem besten Hotel, noch lässt sie sich von Google Maps durch bestimmte Strassen führen. «Ich folge einfach meiner Intuition, warte ab, wohin mich meine Füsse tragen. Ich will mich in einer neuen Umgebung verlieren, ein Gespür für sie entwickeln.»
Doch manchmal fühlt sich ein Ort nicht richtig an. Zum Beispiel Vietnam. «Ich kam an und fühlte mich unwohl», erinnert sich Marquis. Anfänglich schob sie es auf den Jetlag, die vielen Leute. Doch auch einige Tage später, fernab von den Menschen, am Fusse eines Berges, wurde es nicht besser. «Ich wurde das schlechte Gefühl nicht los. Also strich ich das Land von meiner Liste.»
Dieses Vorgehen schützt Marquis auch auf ihren Expeditionen. Allerdings gelinge es auch ihrem Gehirn jeweils erst mehrere Wochen nach dem Start, sich von irrelevanten Gedanken an einen heissen Cappuccino am Morgen oder ein weiches Bett am Abend zu verabschieden. Schritt für Schritt verwandelt sich die Westschweizerin in ein wildes Wesen mit geschärften Sinnen, das die Umgebung und deren Bewohner wie eine Karte liest.
Ist sie in einem Gebiet mit vielen Krokodilen, denkt sie wie eines. «Krokodile haben kaltes Blut und wärmen sich an der Mittagssonne auf den Steinen auf. Flüsse sind während dieser Stunden deshalb besonders gefährlich», so Marquis. Es sei wichtig, jede Pflanze, jedes Tier zu kennen, die Verbindungen zu begreifen und die Natur als Schatzkarte zu verstehen. Wirklich Sorgen müsse man sich erst dann machen, wenn die Vögel nicht mehr singen. «Wird es im Wald plötzlich ruhig, ist das ein schlechtes Zeichen.»
Plötzlich kommt Marquis doch noch ein Wort in den Sinn, mit dem sie sich identifizieren kann: Entdeckerin. «Ich bin als Entdeckerin geboren.» Dieses Entdecker-Gen zeigte sich schon früh. Marquis war sieben Jahre alt, als sie sich von einer grossen, lärmigen Familienfeier – ihre Mutter hatte acht, der Vater fünf Geschwister und alle Tanten und Onkel drei oder vier Kinder – wegschlich und mit ihrem Hund eine Nacht in einer Höhle im Wald verbrachte. Verzweifelt alarmierte ihre Mutter die Polizei. Das Ausschimpfen des Mädchens half nichts. Der Entdeckertrieb war geweckt.
Und das in einer Gegend, in der man nicht viel von Menschen hielt, die gegen den Strom schwimmen. In Montsevelier, einem 500-Seelen-Dorf im Kanton Jura. Dort habe ihre Familie vor allem eines getan: überlebt. «Es war nicht der Ort, um zu träumen, um Fragen zu stellen oder anders zu denken», erinnert sich Marquis. Trotzdem sollten ihre Eltern eine wichtige Rolle in ihrer Entwicklung zum Freigeist spielen. Ihre Mutter lehrte sie etwa, die Zusammenhänge in der Natur zu erkennen und zu verstehen. Ihr Vater wiederum zahlte ihr pro 100 Nacktschnecken, die sie im heimischen Gemüsegarten sammelte, einen Franken Sackgeld. Dieses nutzte sie, um sich «National Geographic»-Ausgaben oder Bücher zu kaufen. «Das war mein Tor zur Welt.»
Heute will sie selbst ihren Lesern ein Tor zur Welt eröffnen. Dafür geht sie sogar ins Gefängnis. Allerdings in ein freiwilliges. Den Sommer über haben sie und ihr Bruder in den Walliser Alpen eine 38 Quadratmeter grosse Hütte auf 1500 Metern über Meer gebaut. Die vergangenen Wochen verbrachte die Weltreisende in dieser selbsterschaffenen Basisstation. Fernab von Menschen, nur zu Fuss zu erreichen, doch im Gegensatz zur Wildnis mit einem wärmenden Kachelofen, einem weichen Bett, fliessendem Wasser und gefülltem Kühlschrank. «Ich brauche diesen Luxus, damit ich mich aufs Schreiben konzentrieren kann. Dennoch fühle ich mich wie eine Löwin im Käfig», sagt sie.
Immerhin: Dank dem selbstauferlegten Hausarrest entsteht in diesen Tagen ihr siebtes Buch, es handelt von ihrer jüngsten Expedition nach Tasmanien. Was nach der Buchpräsentation im Frühling kommt, darauf will sie sich noch nicht festlegen. Vielleicht eine nächste Expedition. Vielleicht etwas ganz anderes.