Die Angst vor den Schwachen
Immer mehr Gemeinden schaffen Kleinklassen ab und unterrichten alle Kinder gemeinsam. Das löst bei Eltern Befürchtungen aus.
Veröffentlicht am 2. März 2010 - 09:06 Uhr
Die 24 Fünftklässler könnten unterschiedlicher nicht sein: Der eine rutscht auf dem Stuhl herum und verlangt nach der Lehrerin, die andere fährt mit dem Finger über das Blatt und flüstert die Antworten vor sich hin, und einer malt, statt den Lückentext auszufüllen. Wir befinden uns im Schulhaus Kirchmatt in Zug. In der Klasse von Silvia Frey sitzen neben normalbegabten Kindern auch solche, die spezielle Förderung brauchen und früher separat unterrichtet worden wären. Doch die Stadt Zug hat vor drei Jahren die letzte Kleinklasse abgeschafft. Seit 15 Jahren geht man Schritt für Schritt zur integrativen Förderung (IF) über: Alle Kinder besuchen nun Regelklassen. Kann das gutgehen? Benötigen die schwächeren Schüler nicht viel mehr Aufmerksamkeit? Und bleiben da die besseren nicht auf der Strecke?
In Zug scheint das Unterfangen zu gelingen. Fünf Lektionen pro Woche unterrichtet Silvia Frey gemeinsam mit der Heilpädagogin Verena Müller. Frontalunterricht ist weitgehend passé. Die Kinder lernen in kleinen Gruppen, während die Lehrerinnen umherwandern, helfen und Fragen beantworten. Die Kinder arbeiten alle am gleichen Thema, aber auf unterschiedlichen Niveaus: leichtere Aufgaben für die schwächeren, schwierigere für die anderen.
Bruno Küng, Heilpädagoge und Schulentwickler von Zug, ist von der Idee der Integration überzeugt. «Auf diese Weise machen die leistungsschwächeren Schüler bessere Fortschritte.»
Er ist mit dieser Meinung nicht allein. In den meisten Bildungsdepartementen hat sich der Integrationsgedanke durchgesetzt. In vielen kantonalen Schulgesetzen steht die IF als Soll- oder Kann-Formulierung.
Doch neuerdings bläst den IF-Verfechtern ein steifer Wind entgegen. Denn nicht selten präsentiert sich die Lage vor Ort anders als in Zug und auf dem Papier. Es wird mit zu wenig fachlicher Unterstützung auf Biegen und Brechen integriert. Die Folge: überforderte Lehrer, besorgte Eltern und allenthalben Zweifel, ob die betroffenen Kinder am Ende wirklich profitieren. Ist ein lernschwaches Kind unter diesen Umständen in einer Regelklasse tatsächlich besser aufgehoben? Die SVP etwa meint Nein – und hat kürzlich Widerstand gegen das neue Konkordat angekündigt (vergleiche «Hintergrund»). Auch die Baselbieter FDP-Bildungspolitikerin und Lehrerin Bea Fünfschilling ist überzeugt, dass flächendeckende Integration den Kindern mehr schadet denn nützt: «Kinder, die dem Unterricht nicht aus eigener Kraft folgen können, fühlen sich dauernd überfordert und haben viel zu selten Erfolgserlebnisse.»
Primarschule Rübmatt in Hölstein BL, Klasse 2b: Lehrerin Nicole Martin hat die Hälfte der Kinder vor der Wandtafel um sich geschart. Die anderen sitzen im Nebenzimmer mit Jeannine Stampfli, Heilpädagogin in Ausbildung. An der Tafel hängt ein Plakat, auf dem zehn Linien mit Punkten zu sehen sind. Hinter jeder Linie ist ein Tier gezeichnet, von denen jedes über eine bestimmte Anzahl Punkte springen kann. «Wie weit komme ich, wenn ich mit dem Elefanten fünfmal hüpfe?», fragt Martin. Sofort schnellen ein paar Hände in die Höhe. Wer die richtige Lösung weiss, darf den Weg mit einem Magnet abhüpfen. Einige Kinder melden sich fast jedes Mal, andere nie. Nicole Martin ruft sie selber auf, auch wenn sie zum Teil Mühe haben, sich beim Abzählen verheddern und merken, wie die anderen unruhig werden.
In der Klasse mit 19 Kindern sind sieben mit Lernbehinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten integriert. Heilpädagogin Stampfli ist für acht Lektionen pro Woche mit im Schulzimmer. Die restlichen 19 Stunden unterrichtet Nicole Martin allein. Ein Spagat, wie sie gesteht: «Es ist schwierig, allen Kindern gerecht zu werden.» Durch den Vergleich mit den Kameraden entgehe den langsameren Kindern nicht, dass sie Schwächen haben, sagt Jeannine Stampfli.
Dennoch stehen beide Lehrerinnen hinter der IF, die in Hölstein vor drei Jahren eingeführt wurde. Auch in Klassen ohne IF gäbe es grosse Differenzen. Kinder, die sich bei ihnen im Mittelfeld bewegen, lägen sonst eher am Schluss. «Wenn Einzelne ausgegrenzt werden, besprechen wir das mit der Klasse. Wir versuchen zu vermitteln, dass jeder Stärken und Schwächen hat und dass es normal ist, unterschiedlich zu sein», sagt Martin.
Diese Unterschiede treten besonders bei Frontalunterricht zutage. Doch auch die Arbeit in kleinen Lerngruppen ist nicht ohne Tücken: «Man muss aufpassen, dass die Schwächeren nicht immer mit den Besten zusammen sind. Sie fangen sonst an, sich zurückzulehnen», sagt Nicole Martin, die etwa die Hälfte der Zeit frontal lehrt.
Obwohl die Unterrichtsgestaltung anspruchsvoll ist, bezeichnen beide Lehrerinnen ihre Arbeit im Team als bereichernd. Der Mehraufwand, der durch die gemeinsame Vor- und Nachbereitung entsteht, wird indirekt entschädigt. «Wer eine integrative Klasse führt, muss weniger andere neben dem Unterricht anfallende Arbeiten übernehmen», erklärt der Hölsteiner Schulleiter Stefan Kränzle.
In Zug klingt es ähnlich. Heilpädagogin Verena Müller und Klassenlehrerin Silvia Frey schätzen die Zusammenarbeit. «Ich erhalte so laufend Feedback zu meiner Arbeit, das hatte ich als Kleinklassenlehrerin nicht», sagt Müller.
Die Beispiele zeigen: Wille, Offenheit und genügend Ressourcen sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass das Konzept greift. Doch gerade im letzten Punkt bestehe massiver Nachholbedarf: «Es werden viel zu wenig Ressourcen zur Verfügung gestellt. Das sehen wir in verschiedenen Kantonen», sagt Beat W. Zemp vom Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Der Verband befürworte die IF nur, wenn genügend Lehrkräfte und Geld für die Umsetzung zur Verfügung stehen und nicht Sparprogramme zulasten der Schwächsten durchgezogen werden. «Das führt zu Billiglösungen.» Oft mangle es auch an Weiterbildungsmöglichkeiten für die Lehrpersonen.
Individualisierter Unterricht und Teamteaching wollen gelernt sein. Nicht jedem Lehrer, der während 30 Jahren allein im Schulzimmer stand, fällt es leicht, neben sich eine weitere Fachperson zu dulden. Und nicht jeder Heilpädagogin gefällt die neue Rolle als Wanderpädagogin.
Problematisch wird es, wenn die IF von heute auf morgen ohne die nötige Unterstützung verordnet wird. Es gibt Schulen, an denen Lehrpersonen unvorbereitet mehrere ehemalige Kleinklässler zugeteilt erhalten und dann zwei Lektionen pro Woche von einer Heilpädagogin unterstützt werden. «Die Lehrer sind nach wie vor mindestens 70 Prozent der Schulzeit allein mit der Klasse», sagt Sonja Karrer von der Organisation Schule und Elternhaus Schweiz. Sie steht hinter der IF, bemängelt aber, dass viele Kinder in integrativen Klassen auf sich selber gestellt seien. Das könne die Selbständigkeit fördern, jedoch auch zu Vernachlässigung führen. «Es geht manchmal so weit, dass Eltern ihren Kindern den Schulstoff vermitteln müssen», so Karrer. Das Modell sei vielerorts überhastet eingeführt worden.
Gut Ding will Weile haben diese Erfahrungen machte man auch in Zug. Schulentwickler Bruno Küng spricht von Anfangsschwierigkeiten in der Übergangsphase. «Vor allem an der Oberstufe hatten wir zunächst Probleme, die ehemaligen Kleinklässler zu integrieren.» Man müsse sich der Grenzen bewusst sein. «Nicht jedes Kind ist integrierbar.» Die grösste Herausforderung seien verhaltensauffällige Kinder, die den Unterricht so sehr stören, dass alle anderen darunter leiden. Es brauche Mut, auch einmal einen Schritt zurückzugehen. «So viel Integration wie möglich, so viel Separation wie nötig», lautet das Kredo gemäss Schulleiter Stefan Kränzle auch in Hölstein.
Im Kanton Zürich soll sich die IF indes bereits ins Gegenteil verkehrt haben. Laut Presseberichten überhäufen Eltern die Sonderschulen mit Anfragen, weil es für ihre Kinder keine Sonderklassen mehr gibt. Ein paradoxer Effekt, den Experten wie Gérard Bless von der Uni Freiburg jedoch anzweifeln: «Schweizweit gesehen haben sich die Sonderschulzuweisungen dank der integrativen Förderung massiv verringert.»
Umgekehrt befürchten viele Eltern normalbegabter Kinder, dass das Niveau der Klasse mit den integrierten schwächeren Schülern sinke. «Sämtliche Studien belegen das Gegenteil», sagt dagegen Bless (siehe Interview weiter unten).
Letztlich dürfte auch dies eine Frage der Umsetzung sein. In Hölstein machte man bisher gute Erfahrungen: «Viele Eltern, die zunächst Bedenken hatten, erkennen jetzt die Vorteile, die die integrative Förderung auch ihrem nicht lernbehinderten Kind bringt. Der Stoff wird öfter repetiert, das hilft allen», sagt Lehrerin Nicole Martin. Wichtig sei, dass die Lehrpersonen sich der Ängste bewusst seien und diese ernst nähmen. In Zug beschränkt sich die IF nicht auf schwächere Schüler: «Auch begabte Kinder brauchen spezielle Förderung», so Heilpädagogin Verena Müller.
Ihre Schützlinge brüten derweil weiter über ihren Aufgaben – manche konzentrierter, manche weniger. Doch ob integrativ geschult oder nicht, in einem unterscheiden sie sich nicht voneinander und von normalen Klassen: Wenn es klingelt, hält sie nichts mehr auf den Stühlen.
Hintergrund
Lernschwache und verhaltensauffällige Kinder werden heute zunehmend nicht mehr in Kleinklassen, sondern in regulären Klassen unterrichtet. Das hat vor allem politische Gründe: Im Anschluss an die Erklärung von Salamanca der Unesco (1994) und das Behindertengleichstellungsgesetz (2004) hat die Erziehungsdirektorenkonferenz das Sonderpädagogik-Konkordat erarbeitet, das die Mitglieder zur integrativen Förderung (IF) verpflichtet. Anstoss gab zudem der neue Finanzausgleich, im Zuge dessen sich die IV nicht mehr an den Kosten für Sonderschulung beteiligt, sondern die Kantone diese selber übernehmen müssen.
Sechs Kantone sind dem Konkordat bereits beigetreten: Obwalden, Schaffhausen, Wallis, Genf, Luzern, Waadt. In Uri wurde das Referendum ergriffen, in Freiburg und im Tessin läuft die Referendumsfrist. Das Konkordat tritt in Kraft, wenn zehn Kantone mit dabei sind.
Viele Eltern sind dagegen, dass Lernschwache heute in normale Klassen integriert werden. Doch für Heilpädagogik-Forscher Gérard Bless überwiegen die Vorteile.
Gérard Bless, 52, ist Direktor des Heilpädagogischen Instituts am Departement für Heil- und Sonderpädagogik der Universität Freiburg.
Er ist spezialisiert auf Wirkungsforschung im Bereich heilpädagogischer Massnahmen.
Beobachter: An vielen Schulen werden Kleinklassen für Lernschwache aufgehoben, die betreffenden Kinder in Normalklassen versetzt. Wieso wollen plötzlich alle diese Integration?
Gérard Bless: In den USA, in Skandinavien oder Italien hat man schon vor 35 Jahren Abschied genommen von der Separation. Bei uns will es die Politik jetzt auch so.
Beobachter: Viele Eltern befürchten aber, durch die Integration schwächerer Kinder sinke das Klassenniveau. Sind diese Ängste nicht berechtigt?
Bless: Nein. Unsere Studien zeigen, dass es keinen negativen Einfluss auf das Niveau der Klasse gibt. In einzelnen Studien ist sogar das Gegenteil der Fall: Die besten Schüler der Klasse werden noch besser, weil sie in integrativen Klassen oft als eine Art Hilfslehrer eingesetzt werden.
Beobachter: In den Augen der anderen bleiben Kleinklässler doch immer Kleinklässler. Ist die Integration wirklich zu ihrem Wohl?
Bless: Das ist in der Tat der einzige negative Punkt: Lernbehinderte sind in der Regel weniger beliebt als andere. Das gilt aber auch, wenn sie wie früher üblich in einer Kleinklasse sind. Es ist möglich, dass manche in einer Kleinklasse ein stärkeres Selbstbewusstsein entwickeln, weil sie dort eher Erfolgserlebnisse haben. Doch die Kleinklasse ist ein Schonraum. Verlassen sie diesen, fällt das Selbstvertrauen erst recht in den Keller. Ausserdem ist eindeutig erwiesen, dass Kinder mit Lernbehinderungen in Regelklassen viel schneller Fortschritte machen. Die Vorteile überwiegen ganz klar.
Beobachter: Gilt das auch für verhaltensauffällige Kinder?
Bless: Nicht immer. Bei verhaltensauffälligen Kindern hängt der Lernerfolg viel stärker vom Verhältnis zur Lehrperson und vom Umfeld ab.
Beobachter: Es gibt also Kinder, die sich eher eignen für integrative Förderung, und andere, die man besser separiert?
Bless: Nein. Wenn Sie eine Sonderklasse mit lauter Verhaltensauffälligen bilden, potenzieren sich die Schwierigkeiten nur. Es gibt keine Kinder, die sich eignen oder nicht eignen. Aber es gibt Schulen und Lehrpersonen, die mehr oder weniger Mühe haben mit der Integration.
Beobachter: Welche Voraussetzungen müssen denn erfüllt sein, damit integrative Förderung funktioniert?
Bless: Es braucht den klaren Willen aller Beteiligten. Und möglichst einfache Strukturen sowie eine angemessene Betreuung der Kinder.
Beobachter: Gibt es überhaupt genügend Heilpädagogen, um das zu gewährleisten?
Bless: Angemessene Betreuung bedeutet nicht in erster Linie Präsenz von Heilpädagogen im Schulzimmer. Das ist nicht immer nötig. Es bedeutet, auf die speziellen Bedürfnisse des jeweiligen Kindes einzugehen.
Beobachter: Viele Lehrer fühlen sich damit überfordert. Will man nicht ein bisschen zu viel zu schnell im Moment?
Bless: Nein, wir sind nicht zu schnell, sondern zu langsam. Man darf aber auch nicht erwarten, dass alle Voraussetzungen von Anfang an erfüllt sind. Integration ist kein Zustand, sondern ein Prozess.
1 Kommentar
Integrative Schule: Es braucht Korrekturen!
Es wird den Sonderschüler:innen in der integrativen Schule ein grosses Unrecht angetan. Denn der tägliche Vergleich mit den Besseren entmutige diese. Viele Absolvent:innen von Sonderschulen hätten ihren Weg gemacht. In Zukunft dürfte dies nicht mehr gut möglich sein.
Die Ideologie, alles Ungleiche vermeintlich gleich zu regeln, ist ein Irrweg. Desgleichen die Absicht der «integrativen Schule», auch Migrantenkinder mitzunehmen, die noch kaum ein Wort Landessprache sprechen. Das führt dazu, dass das Niveau der Volksschule insgesamt gesunken ist. Leidtragende sind auch die Lehrer:innen, die all den Erwartungen seitens der Schule, Auflagen des Lehrplans und den Ansprüchen der Eltern kaum mehr gerecht werden können.
In manchen Schulhäusern ist man aufgrund der Schülerzusammensetzung mit der Integration am Anschlag. Die integrative Schule erreicht ihr Ziel nicht. Es braucht Korrekturen.