«Wir zeigen Kindern, dass ihr Körper ihnen gehört»
Die neue Netflix-Staffel «Sex Education» ist ein Quotenhit. Denn die Serie liefert, was vielen fehlt: eine anständige sexuelle Aufklärung. Naima Hillman von der Non-Profit-Organisation «Achtung Liebe» erklärt, warum das so ist.
Veröffentlicht am 5. Oktober 2023 - 16:25 Uhr
Naima Hillman, Ihre Non-Profit-Organisation Achtung Liebe befasst sich mit moderner Sexualkunde. Nun stürmt die britische Serie «Sex Education» die Schweizer Netflix-Charts. Aufklärung interessiert offenbar auch Erwachsene noch. Überrascht Sie das?
Nein, überhaupt nicht. Sexualpraktiken, sexuelle Orientierung oder auch Geschlechtsidentität sind in einigen Kreisen noch immer tabuisiert. TV-Serien können da ein willkommener Türöffner sein, um mit Freundinnen und Freunden über die eigenen Erfahrungen zu sprechen.
Warum ist das so?
Viele Erwachsene erlebten in ihrer Schulzeit keinen oder einen mangelhaften Sexualkundeunterricht. Jetzt haben sie das Bedürfnis, sich auszutauschen oder selbst weiterzubilden.
Welche Mängel fallen Ihnen auf?
Im Unterricht sprechen wir heute über einvernehmlichen Sex. Als ich zur Schule ging, wurde das kein einziges Mal thematisiert – dabei ist der Sexualkundeunterricht bei mir noch gar nicht so lange her, ich bin erst 25. Das ist aber ein sehr wichtiges Thema! In unserem Achtung-Liebe-Unterricht lernen die Kinder, dass ihr Körper ihnen gehört. Dass sie immer Nein sagen können und die Zustimmung ihres Gegenübers einholen sollen.
Ihre Organisation schickt Studentinnen und Studenten an Schulen, um Sexualkunde zu unterrichten. Warum überlassen Sie das nicht den Lehrpersonen?
Bei meinen Einsätzen traf ich schon auf Lehrpersonen, die das Wort «Sex» kaum aussprechen konnten. Da kommen wir ins Spiel. Wir wollen einen von Scham befreiten Unterricht schaffen. Deshalb dürfen die Lehrpersonen auch nicht beim Unterricht dabei sein. Uns Studierende sehen die Kinder nur einmal, da fällt es ihnen leichter, alle Fragen zu stellen – auch solche, die ihnen sonst peinlich sind.
Es wird immer wieder kritisiert, Aufklärung sei Sache der Eltern und gehöre nicht in den Schulunterricht. 2018 gingen zwei Schweizer Familien vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um ihre Kinder dispensieren zu lassen – erfolglos. Wie gehen Sie mit der Kritik um?
Sexuelle Bildung ist ein Grundrecht, es muss zum obligatorischen Schulunterricht gehören. Wenn wir es den Eltern überlassen, ist nicht gewährleistet, dass die Kinder aufgeklärt werden. Gerade für Kinder, die queer sind und in einem nicht toleranten Umfeld aufwachsen, ist es wichtig, einer unabhängigen Person Fragen zu stellen.
Achtung Liebe wirbt seit 20 Jahren mit unabhängiger und zeitgemässer Sexualaufklärung. Wie schaffen Sie es, aktuell zu bleiben?
Alle zwei Jahre hinterfragen wir unsere Methoden. So haben wir letzten Herbst den Stoff zu den Geschlechtskrankheiten überarbeitet. Heute sprechen wir von «sexuell übertragbaren Infektionen», denn nicht jede Infektion ist gleich eine Krankheit. Wir wollen den Schülern damit die Angst vor Genitalherpes und Co. nehmen. Sie sollen sich Hilfe holen, wenn es juckt, und sich nicht dafür schämen.
Zur Person
Naima Hillman, 25, studiert Politikwissenschaften und Nachhaltige Entwicklung an der Universität Bern. Seit vier Jahren geht sie an Schulen, um Sexualkunde zu unterrichten. Seit diesem Jahr ist sie Präsidentin der Organisation Achtung Liebe. Mit Hilfe von Sexualpädagoginnen und medizinischen Fachkräften bildet Achtung Liebe Studierende aus, die an Schulen auf freiwilliger Basis Sexualkunde unterrichten. Das Angebot kann in den Kantonen Bern, Zürich und Basel gebucht werden. Achtung Liebe führt pro Jahr um die 200 Einsätze durch.