Schwierige sind unerwünscht
Die IV will mehr Bezüger mit psychischen Problemen in die Arbeitswelt integrieren. Doch viele Chefs sind schon mit Leuten überfordert, die etwas schwierig im Umgang sind.
Veröffentlicht am 16. Dezember 2011 - 10:59 Uhr
Es ist ein ziemlicher Brocken Arbeit, der da auf die IV wartet: Im kommenden Jahr muss sie 2800 Rentenbezüger wieder arbeitsfähig machen und zurück in den Arbeitsmarkt führen – so will es das erste Massnahmenpaket der 6. IV-Revision, das am 1. Januar in Kraft tritt. Bis 2018 sollen gar 17'000 IV-Rentner wieder voll- oder teilzeitig in den Arbeitsprozess eingegliedert sein (siehe «Hintergrund»).
Ein hehres Ziel, bloss: Gibt es für diese Leute überhaupt Platz in einer meist auf Effizienz getrimmten Arbeitswelt? Eine Studie aus den beiden Basel lässt Zweifel aufkommen: Sie belegt, dass die meisten Arbeitgeber schon mit ihren jetzigen Angestellten heillos überfordert sind, wenn diese psychische Probleme haben. Und das sind Menschen, die im Umgang tendenziell einfacher sein dürften als die Tausende, die im Zug der IV-Revision wiedereingegliedert werden sollen.
Für die Pilotstudie «‹Schwierige› Mitarbeiter» wurden über 1000 Personalverantwortliche und leitende Angestellte im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen befragt. Sie schätzen, dass jeder vierte ihrer Angestellten unter zumindest leichteren psychischen Problemen leidet oder gelitten hat. Bei Betrieben mit weniger als zehn Mitarbeitern soll es gar jeder zweite sein. Jene Chefs, die angaben, die daraus resultierenden Konflikte gelöst zu haben, hatten die schwierigen Mitarbeiter in neun von zehn Fällen auf die Strasse gestellt. Die Studie kommt zum Schluss: «Solange man von psychisch belastenden Mitarbeitenden im Grunde überfordert ist und nicht besser als mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses reagieren kann, wird deren Ausgrenzung in die IV oder andere Systeme der sozialen Sicherheit nicht abnehmen.»
Für Niklas Baer von den Psychiatrischen Diensten des Kantons Baselland, der die Studie mitverfasst hat, ist klar: Das muss sich ändern. Dabei attestiert er der Wirtschaft durchaus guten Willen im Umgang mit nicht ganz stromlinienförmig funktionierenden Mitarbeitern. «Es ist nicht so, dass sich Chefs die Sache zu einfach machen und schwierige Angestellte kurzerhand entlassen», sagt er. «Wenn ein Problem auftritt, versuchen sie im Schnitt drei Jahre lang, es zu lösen.»
Bloss tun sie das selten richtig. Den meisten Personalchefs fehle das Bewusstsein dafür, dass Launenhaftigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten oder Besserwisserei von Angestellten auch auf einer Krankheit beruhen könnten, so Baer. «Sie gehen zu oft davon aus, dass es sich dabei um Charakterprobleme handelt, die man lösen kann, indem man mit dem Angestellten spricht und an Pflichtgefühl und Leistungsmotivation appelliert.» Statt auf die Probleme der Betroffenen einzugehen, ihnen die richtige Behandlung zukommen zu lassen oder eine Frühintervention zu ermöglichen, werden sie mitgeschleppt, bis den Chefs nur noch die Kündigung einfällt.
Dabei wäre es ein Leichtes, früh den Hebel anzusetzen. Denn meist merken Vorgesetzte schnell, wenn es irgendwo harzt im Team. Über Mitarbeiter, die das Arbeitsklima vergiften, kursieren bald einmal Spitznamen (siehe Artikel zum Thema). Die meisten Chefs reagieren aber erst spät. Baer: «Vorgesetzte schieben das Problem aus Hilflosigkeit auf die lange Bank. Sie hoffen, dass sich alles von allein irgendwie wieder einrenkt.» Derweil kann sich das Klima in einem Betrieb beständig verschlechtern, kann ein schwieriger Mitarbeiter ein Team völlig aufmischen – worauf dieses das verschleppte Problem ausbaden muss und mit Verunsicherung, Besorgnis, Ärger oder Stress reagiert.
Die Arbeitgeber sind also gefordert. Aber nicht nur sie. «Den Firmen mangelt es an Information und professioneller Unterstützung», sagt Niklas Baer. Und hier liege der Ball bei der IV. Denn nur jeder vierte der befragten Verantwortlichen wusste überhaupt, dass er Angestellte, bei denen hohe Absenzen auf ein psychisches Problem hindeuten könnten, zwecks Frühintervention unkompliziert bei der IV melden kann. Und: Chefs, die mit der IV zusammenarbeiteten, empfanden sie häufig als bürokratisch, distanziert und zu wenig praxisbezogen; in nur drei Prozent aller Fälle nahmen sie die IV als Problemlöserin wahr.
«Die IV hat ein Kommunikationsproblem, sie ist in den Betrieben zu wenig präsent», sagt Niklas Baer. «Sie muss aktiver werden, damit Arbeitgeber ein Bewusstsein für psychische Erkrankungen entwickeln können.» Und vor allem müsse sie die Arbeitgeber genau darüber aufklären, welche Möglichkeiten sie mit der 6. IV-Revision bekommen. Das fordert auch Barbara Gutzwiller, Direktorin des Arbeitgeberverbands Basel, die an Baers Studie beteiligt war (siehe Interview «Irgendwann sind die Arbeitgeber hilflos»).
Die IV scheint den Ernst der Lage erkannt zu haben: Sie kündigt für 2012 eine Informationsoffensive an. Tatsächlich wird die Revision, die am 1. Januar in Kraft tritt, wohl nur funktionieren, wenn die Betriebe, die künftig vermehrt IV-Rentner anstellen sollen, dabei auch mit Know-how unterstützt werden. Sonst stehen die «Motzkis», «Hexen» und «Gurus» schnell wieder auf der Strasse statt im Berufsleben.
Lesen Sie hierzu auch das Interview mit Martin Kalbermatten von der IV: «Durchaus in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen»
Das Ziel der IV-Revision 6a, die 2012 in Kraft tritt: 17'000 Rentenbezüger zurück ins Arbeitsleben führen und jährlich 500 Millionen Franken einsparen. Die IV-Rente soll nicht mehr immer als definitive Lösung verstanden werden, sondern als Brücke zur Eingliederung. Die IV hat 200 Vollzeitstellen für mehr Beratung und Betreuung geschaffen.
Die IV kann neu auch Chefs, die einen IV-Rentner einstellen, mit Zuschüssen unterstützen. Sie will zudem systematisch Renten für nicht erklärbare Leiden überprüfen. Unter Druck kommen damit Rentner mit psychischen Beschwerden. Sie machen gut 40 Prozent der rund 280'000 Bezüger aus.