Arbeiten um jeden Preis?
Mit milliardenteuren Massnahmen versuchen die Schweizer Sozialwerke, Erwerbslose in den Arbeitsmarkt zurückzuführen – doch dort will sie keiner. Es ist Zeit für einen Systemwechsel.
Ein arbeitsloser Methadonkonsument kommt in ein Arbeitsprogramm und übernimmt die Pausenverpflegung einer Firma. Er beginnt mit ein paar Aufback-Gipfeli – dann baut der gelernte Bäcker innert weniger Monate einen kleinen Cateringservice auf, beliefert auch benachbarte Firmen. Als sein Dossier dem zuständigen Sozialarbeiter in die Hände kommt, versetzt ihn dieser von einem Tag auf den anderen in eine Landschaftsgärtnerei. Kurz darauf hängt der Mann wieder an der Nadel.
«Sie haben ihn umplatziert, weil er schon länger als vorgesehen in derselben Massnahme war», sagt Aldo Martinelli und schüttelt den Kopf. Der 39-Jährige leitet zusammen mit Cedric Zaugg die Sozialfirma Teamsolutions Projects GmbH in Biel (siehe nachfolgende Box «Sozialfirmen: Zwischen Markt und Sozialarbeit»). Die meisten Leute, die bei Teamsolutions arbeiten, wurden vom Sozialdienst in einen Arbeitseinsatz geschickt. Andere kommen von der Arbeitslosenversicherung (ALV) oder der Invalidenversicherung (IV).
Manda Hasler, 27, Vorlehre als Coiffeuse, seit einem Dreivierteljahr arbeitslos: «Wenn man gezwungen wird, etwas zu tun, setzt man sich nicht ein. Hier kann ich etwas machen, was mir zusagt. Der Teppich ist für meine Tochter. Ich schreibe an einem Song, den ich aufnehmen will. Im Keller ist ein Bandraum.»
Martinelli erlebt täglich hautnah, was es heisst, wenn Schweizer Sozialwerke versuchen, jemanden wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Menschen wie Giovanni zum Beispiel. Der Sozialdienst schickte den 57-jährigen Italiener in einen Sprachkurs – obwohl er trotz 30 Jahren auf Schweizer Baustellen keinen einzigen deutschen Satz beherrscht. «Deutsch wird Giovanni nicht mehr lernen – aber wenn du ein Loch gegraben haben willst, macht er das in Perfektion», sagt Martinelli und nuschelt Giovanni grinsend ein paar Worte in Italienisch zu. Der lächelt und brummt.
Weil von ihm nur noch selten jemand ein Loch gegraben haben will, ist Giovanni seit Jahren immer wieder erwerbslos – ein Zustand, den der Sozialstaat Schweiz mit viel Aufwand und wenig Erfolg bekämpft. Denn der Markt interessiert sich nur noch für die leistungsfähigsten 97 Prozent der Menschen. Das Resultat ist die Sockelarbeitslosigkeit der letzten Jahre von durchschnittlich rund drei Prozent.
Dies bringt die Sozialwerke in Finanzierungsschwierigkeiten – sie sind als kurzfristige Stütze konzipiert, nicht als dauerhaftes Auffangbecken. Deshalb richten sich Arbeitslosenversicherung, IV und Sozialhilfe seit Ende der Neunziger immer stärker nach dem Prinzip «Fördern und fordern»: Volle Leistungen gibts nur bei Gegenleistung – in Form von Arbeitseinsätzen in Beschäftigungsprogrammen, Sozial- oder Praxisfirmen (siehe Artikel «Praxisfirmen: Eine Firma, aber nur zum Üben»). Wer sich verweigert, dem werden die Zahlungen gekürzt.
Dabei wäre eine Nichtteilnahme in manchen Fällen die beste Lösung. Denn unpassende Massnahmen sind Gift für die Wiedereingliederung.
Eine Studie der Fachhochschule St. Gallen hat unter den Teilnehmern von Beschäftigungsprogrammen fünf Typen identifiziert, die jeweils spezifische Förderungs- und Betreuungsformen bräuchten: Realisten, Zukunftsorientierte, Ämterkarrieristen, Arbeitsmarktgeschädigte und Schutzbedürftige. Der Erfolg einer Massnahme hänge davon ab, ob ein Programm wirklich auf den Klienten zugeschnitten ist.
Deshalb brauche es bei den zuweisenden Stellen «verbesserte Kompetenzen auf dem Gebiet eines diagnostischen Fallverstehens», sagt die St. Galler Studie – also eine fundierte Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen des Betroffenen. Sonst landen weiterhin begeisterte Bäcker im Gartenbau und gealterte Bauarbeiter in Deutschkursen.
Weiter sollen die Angebote fordernd, interessant und vor allem freiwillig sein. Denn der Zwangscharakter, so die Forscher, untergrabe Autonomie, Selbstachtung und Motivation der Teilnehmer.
«Wir nehmen nur Leute, die arbeiten wollen», sagt Aldo Martinelli von Teamsolutions denn auch. «Wenn uns jemand zugewiesen wird, interessieren uns erst einmal seine Stärken. Wir fragen: ‹Was machst du gern?›» So entsteht eine vielfältige Palette von Tätigkeiten – einige erfolgversprechender als andere: Jemand züchtet Insekten, einer tüftelt an Lärmdämmungsplatten aus Altpapier, und zwei andere haben aus der Front eines verschrotteten Pontiacs eine Stehbar kreiert. Diese ist bereis verkauft.
Manchmal wird aus einer Idee auch ein grösseres Projekt. In der Störgärtnerei engagieren sich vier, fünf Mitarbeiter: Sie fragen Leute an, ob sie auf deren Land Kräuter, Gemüse und Blumen anpflanzen können – die Grundbesitzer dürfen sich bedienen, der Rest wird verkauft. Auf diese Weise erarbeiten sich die Mitarbeitenden bei Teamsolutions eine Referenz, mit der sie sich im regulären Arbeitsmarkt bewerben können. Die Sozialfirma ist eine Mischung aus Teillohnarbeitgeber, Personalvermittler und Kreativwerkstatt: «Und wir versuchen, unser Konzept immer weiter zu entwickeln», sagt Koleiter Cedric Zaugg.
Cedric Zaugg und Aldo Martinelli, Sozialfirma Teamsolutions: «Unsere erste Frage an Arbeitslose ist immer: ‹Was machst du gern?›»
Martinelli und Zaugg versuchen nicht einfach, Einnahmen zu erwirtschaften: «Wir finden Nischen und schaffen neue Jobs.» Am besten solche, von denen die Gemeinden profitierten, die die Sozialgelder der Teamsolutions-Mitarbeiter zahlen – lohnintensive Aufgaben wie das Entfernen von Graffiti, Müllsammeln, Ludothekenbetrieb. Zudem beschafft sich Teamsolutions Aufträge von Dritten wie Wohnungsräumungen oder Möbelabschleifen. «Sobald etwas anfängt, sich auszuzahlen, fliesst Geld zurück an die zuweisenden Stellen.»
Ein Platz bei Teamsolutions Biel kostet 500 Franken pro Kopf und Monat. Andere Anbieter von Arbeitsprogrammen verrechnen 1500 Franken. Die Gemeinde Pieterlen BE bezahlt für jährlich zwölf Plätze pauschal 50'000 Franken – Teamsolutions wird ihr für das vergangene Jahr selbsterwirtschaftete 7400 Franken zurückerstatten.
Wann immer möglich, werden Leute bei Teamsolutions fest angestellt, wie zum Beispiel der ehemalige Wirtschaftsstudent Björn Fasnacht. Der 40-Jährige kämpft mit Depressionen, führt aber seit Jahren zuverlässig die Buchhaltung der Sozialfirma. Teamsolutions zahlt dafür 500 Franken pro Monat an die zuweisende Gemeinde. Fasnacht erhält 250 Franken davon. Das ist nicht viel, aber reich wird bei Teamsolutions niemand. Letztes Jahr zahlten sich Zaugg und Martinelli für 170 Stellenprozente insgesamt rund 90'000 Franken Lohn aus.
Zwei Dinge motivieren ihn, sagt Martinelli: «Erstens bin ich Steuerzahler.» Er rege sich auf, wenn er sehe, wie Steuergelder nutzlos verbraten werden. «Zweitens weiss ich, dass ich selbst nicht weit weg bin von der Situation unserer Mitarbeiter.» Mit 20 versuchte er, sich selbständig zu machen – die Firma ging pleite, zurück blieb ein riesiger Schuldenberg. «Ich brauchte 17 Jahre, um den letzten Schuldschein zurückzukaufen.»
Arlette Staub, 56, Buchhalterin: Vor einem Jahr kehrte sie aus Italien zurück, sucht seither einen Job. Leitet bei Teamsolutions das Gärtnereiprojekt – und ist «endlich wieder mal glücklich».
Ihre Finanzen in den Griff zu bekommen, davon sind die Sozialwerke weit entfernt. Wie viel Geld sie genau jährlich in die Wiedereingliederung von Erwerbslosen investieren, ist unklar. Und auch, ob die Programme bezüglich Wiedereingliederung überhaupt etwas bringen.
Bei der Sozialhilfe etwa fehlen aussagekräftige Zahlen auf Bundesebene völlig. Bei der IV scheitert die Messbarkeit an der Frage, was als «Erfolg» gilt: «Wenn die IV gemäss ihrem Auftrag jemanden erfolgreich eingegliedert hat, heisst das nicht zwingend, dass diese Person eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt gefunden hat», sagt Harald Sohns, Sprecher des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Ziel der IV sei in erster Linie, einer Person eine möglichst weit gehende Erwerbsfähigkeit zu ermöglichen. Wenn ein arbeitsunfähiger Maurer zum Zeichner umgeschult werden kann, ist das bereits ein Erfolg.
Bei der ALV wäre die Sache einfacher: Arbeitslose sollen rasch und nachhaltig wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Eine Wirkungsmessung gibt es aber auch hier nicht, denn: «Leute können während der Teilnahme an einer arbeitsmarktlichen Massnahme einen Job finden, ohne dass dies direkt mit dieser zusammenhängt», sagt Tony Erb vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Viele Programme, etwa Sprachkurse, verbesserten zudem nur die Vermittelbarkeit und zielen somit nicht direkt auf den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt.
Ob die Bemühungen der Sozialwerke erfolgreich sind, lässt sich also nicht sagen. Zusätzlich skeptisch macht, dass sie sich mit widersprüchlichen Zielvorgaben selbst sabotieren: Sozialhilfemassnahmen sollen Teilnehmer motivieren – aber gleichzeitig abschreckend wirken, damit Sozialhilfebezug nicht attraktiv wird. Und Programme der ALV dürfen nicht zu einem höheren Berufsabschluss führen, damit die ALV-Zahlungen nicht zu einer Art Stipendium werden – dabei erhöhen fehlende oder ungenügende Qualifikationen das Risiko für Stellenlosigkeit enorm.
Ineffizienz ist damit im System angelegt. Zu allem Überfluss betreibt jedes einzelne Sozialwerk solche Leerläufe für sich allein. «Wies jetzt läuft, gibt es sehr viele Mehrgleisigkeiten, weil alle involvierten Organisationen ihre eigenen Abläufe entwickelt haben», sagt Hannes Lindenmeyer, Organisationsberater und Experte für Arbeitsintegration (siehe Interview «Druck bringt überhaupt nichts»). Er hat im Auftrag des Seco eine Studie zur Zusammenarbeit zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung verfasst. «Eine einzelne Integrationsagentur wäre im Endeffekt billiger», sagt Lindenmeyer (siehe nachfolgende Infografik). Wegen der Einzelinteressen der beteiligten Akteure sei aber fast nicht denkbar, dass dies in absehbarer Zeit angegangen werde.
Ein weiteres Problem neben den Mehrgleisigkeiten ist die Schnittstelle zwischen Sozialwerken und Arbeitsmarkt. Das zeigt sich etwa in Biel. Im Wirtschaftszentrum im Berner Seeland lebt gut jeder Zehnte von der Sozialhilfe. Der städtische Sozialdienst führt eigens eine Fachstelle für Arbeitsintegration. Diese weist Klienten Sozialfirmen zu, bis 2011 auch Teamsolutions. Doch nach personellen Wechseln bei der Stadt erhielt Teamsolutions plötzlich keine Leute mehr. Die Bieler Fachstelle arbeitet nun mit anderen Partnern zusammen – die mehr als doppelt so teuer sind.
Der Grund dafür ist schleierhaft. An mangelnder Qualität kanns nicht liegen: Von den zuweisenden Stellen umliegender Gemeinden ist nichts Schlechtes über Teamsolutions zu hören. «Die Leute berichten, dass sie bei Teamsolutions mehr gefordert werden als in den kantonalen Beschäftigungsprogrammen – und fast alle Teilnehmer schätzen das», sagt Paul Bertenghi, Leiter der Sozialdienste Pieterlen. Negativ sei höchstens, wenn sich Leute bei Teamsolutions zu wohl fühlten und deshalb nicht mehr versuchen, in den regulären Arbeitsmarkt zurückzufinden.
«Wahrscheinlich ist es Antipathie», sagt Martinelli zum Boykott durch die Bieler Fachstelle. Bei der Schwesterfirma von Teamsolutions in Münchenstein BL funktioniert alles tipptopp. «Sie arbeitet eng mit den kantonalen Behörden zusammen, wir hatten vom ersten Tag an über 40 Leute.»
Peter Schafer, 53, ist seit sieben Jahren arbeitslos. Bei Teamsolutions arbeitet er mal im Wald, mal als Fahrer, mal als Restaurator: «Hier werde ich wie ein Mensch behandelt.»
Da die Bieler Fachstelle für Arbeitsintegration jegliche Zusammenarbeit verweigert, segelt Teamsolutions dort auf Konfrontationskurs. Ein gefundenes Fressen war da eine Powerpoint-Präsentation des Fachstellenleiters. Unter «Erfolgreiche Abschlüsse» waren auch «Kontaktabbruch», «Anmeldung an andere Sozialversicherung», «Existenzsicherung durch Ehepartner» und «Wohnortswechsel» aufgeführt.
Cedric Zaugg stellte die Folie, entsprechend kommentiert, auf die Facebook-Seite von Teamsolutions – worauf die Fachstelle der Stadt mit nicht weiter spezifizierten Konsequenzen drohte, sollte die Folie nicht entfernt werden.
Warum die Fachstelle nicht mehr mit Teamsolutions zusammenarbeitet, bleibt ihr Geheimnis: Sie teilt dem Beobachter mit, man nehme in der Presse nicht Stellung zur Zusammenarbeit mit Partnern. Zudem laufe gerade eine überparteiliche Interpellation zu diesen Themen. Diese kommt von rechts. Martinelli freuts, obwohl er sich eher der SP zugehörig fühle: «Aber mit postmodernen, hippen Cüpli-Sozialisten habe ich nichts gemeinsam.» Nun seien es halt Bürgerliche, die ihm auf die Schulter klopften, weil er Sozialausgaben senkt.
Nicht alle im bürgerlichen Lager schätzen Unternehmen wie Teamsolutions. Weil sie mit Steuergeldern subventioniert werden, beäugen manche Wirtschaftsvertreter das zunehmende Aufkommen von Sozialfirmen skeptisch. Deshalb gilt für Sozialfirmen die Einschränkung, dass ihre Geschäftsaktivitäten private Unternehmen nicht konkurrenzieren dürfen. Das Konkurrenzverbot ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Einerseits hindert es Sozialfirmen oft daran, rentable Aufträge anzunehmen, anderseits erschwert es ihnen, sinnvolle Arbeitsprogramme anzubieten. Gemäss der St. Galler Studie ist für die Motivation der Teilnehmer entscheidend, dass ein Produkt entsteht, das im normalen Wirtschaftsleben gefragt ist.
Bei Teamsolutions ist das der Fall. Der Grat sei manchmal schmal, sagt Martinelli. «Wir wurden auch schon für Sachen angefragt, wo ich sagte: ‹Holt einen Landschaftsgärtner – das ist Büez für den Fachmann.›»
Letztlich leben Sozialunternehmer wie Martinelli und die staatlichen Sozialarbeiter vom Geschäft mit Arbeitslosigkeit. Martinelli weiss das. Vor kurzem war er zusammen mit Vertretern anderer Sozialfirmen und weiteren Akteuren zur Sozialkonferenz der Stadt Biel eingeladen: «In einer Diskussionsrunde sagte ich: ‹Wenn unsere Mitarbeiter und die Klienten der Sozialbehörden alle Arbeit fänden, wären wir auf einmal alle arbeitslos.› Da war es für einen Moment still.»
Sozialfirmen: Zwischen Markt und Sozialarbeit
Sozialfirmen sind Unternehmen, die wirtschaftliche und soziale Ziele verfolgen. Dabei integrieren sie Menschen mit Beeinträchtigungen ins Erwerbsleben. Der Anteil an Mitarbeitern mit Benachteiligungen beträgt mindestens 30 Prozent. Diese erhalten unbefristete Verträge. Sozialfirmen dürfen mit ihren Produkten die Privatwirtschaft nicht konkurrenzieren. Mit dem Gewinn decken sie mindestens 50 Prozent ihrer Ausgaben. Die übrigen Kosten trägt die öffentliche Hand.
Wer heute den Job verliert, landet je nach Umständen in einer der drei staatlichen Auffangeinrichtungen Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe oder Invalidenversicherung (Schema 1). Diese Dreiteiligkeit kann zu teuren Überschneidungen führen. Von einer einheitlichen staatlichen Integrationsagentur (Schema 2) könnten sowohl Arbeitslose wie auch die öffentliche Hand profitieren.
Arbeitskräfte finden über vier Systeme in den Arbeitsmarkt. Die Bildung führt der Wirtschaft neu ausgebildete Arbeitskräfte zu. Personen, die den Eintritt in den Arbeitsmarkt nicht schaffen oder sich dort nicht behaupten können, werden je nach Ursache, Versicherungsanspruch und Dauer der Erwerbslosigkeit von einem der drei Auffangnetze Arbeitslosenversicherung (ALV), Invalidenversicherung (IV) und Sozialhilfe betreut. Diese versuchen, Betroffene durch eigene Integrationsmassnahmen möglichst rasch wiedereinzugliedern.
Die Beratung von Erwerbslosen und die arbeitsmarktliche Abklärung werden aus ALV, IV und Sozialhilfe herausgelöst und in einer Integrationsagentur zusammengeführt. Diese ist eng mit dem Bildungswesen verbunden und auf Bundesebene organisiert. Das neue Gebilde übernimmt damit die Funktionen der bisherigen regionalen Arbeitsvermittlungen und der Berufsinformationszentren. Dadurch werden kostspielige Mehrgleisigkeiten verhindert. Die Sozialwerke bleiben bestehen, sie beschränken sich aber auf die Kernaufgaben Existenzsicherung und Kontrolle.
19. Jahrhundert: «Besserung» durch Zwangsarbeit
1851 eröffnet im Kanton Thurgau eine der ersten Zwangsarbeitsanstalten: Die ehemalige Anstalt Kalchrain ist beispielhaft für eine Praxis, die im 19. Jahrhundert blüht. Arbeitszwang, Disziplin und Körperstrafen sollen erzieherisch und abschreckend wirken. Ende des 19. Jahrhunderts verwahren fast 200 Erziehungsanstalten sogenannte unwürdige Arme, denen die Behörden «Arbeitsscheu» und «Liederlichkeit» vorwerfen.
Vom Arbeitsscheuen zum Arbeitslosen
In den 1870er Jahren machen Arbeitslose erstmals mit Demonstrationen in Genf, Bern, Zürich und Basel auf ihre Situation aufmerksam. «Arbeitslosigkeit» als soziales Problem tritt allmählich ins öffentliche Bewusstsein. Um 1891 malt Ferdinand Hodler das Bild «Arbeitslos».
Gewerkschaften und Städte als Pioniere
1884 gründet der Schweizerische Typographenbund die erste Arbeitslosenkasse. Bis 1914 richten Gewerkschaften 14 Kassen ein. Auch die Städte werden aktiv. 1887 schafft St. Gallen ein erstes Arbeitsamt, Bern, Basel, Genf folgen. Sie registrieren Arbeitslose und informieren über Stellen. Um 1900 gründen Bern, St. Gallen und Basel zudem Arbeitslosenkassen. 1903 schliessen sich elf Arbeitsämter zu einem Verband zusammen. Dieser entwickelt erste Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, etwa Statistiken. Ab 1910 erhalten Arbeitsämter Bundessubventionen.
Politiker entdecken die soziale Frage
FDP-Nationalrat Wilhelm Klein stösst 1885 einen Verfassungsartikel für Sozialversicherungen an – da die Arbeit für viele zur Quelle der Verarmung werde. 1890 wird die Kranken- und Unfallversicherung in der Verfassung verankert. Der erste entsprechende Gesetzesentwurf von FDP-Nationalrat Ludwig Forrer scheitert 1900 an der Urne. 1902 tritt die Militärversicherung in Kraft, später die Kranken- und Unfallversicherung. 1921 wird das Amt für Arbeitslosenfürsorge gegründet, es finanziert unter anderem Kurse in «Besenbinden» und «Schönschreiben».
Landesstreik rüttelt auf
250'000 Arbeiter begeben sich 1918 in einen Generalstreik. Ein Sechstel der Schweizer Bevölkerung lebt wegen Militärdienst und Arbeitslosigkeit in Armut. Die Streikenden wollen die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden beschränken und fordern eine Alters- und Invalidenversicherung. In Grenchen werden drei Streikende erschossen. Der Streik wird nach drei Tagen abgebrochen, die Forderungen finden aber nach und nach Eingang in die Politik.
Die Grosse Depression
Vorboten der Wirtschaftskrise zeigen sich bereits 1920. Im Zuge des Börsencrashs von 1929 rutscht die Weltwirtschaft in eine tiefe Krise. Hohe Arbeitslosigkeit prägt die Schweiz der dreissiger Jahre, 1936 erreicht sie 6,4 Prozent. Das Arbeitslosenkurswesen wird ausgebaut. Bereits 1925 stimmt das Volk einer Initiative für die Invaliden-, Alters- und Hinterlassenenversicherung zu. Bis zur Einführung dauert es aber noch über 20 Jahre.
Der Basler Arbeitsrappen
1936 führt Basel-Stadt den «Arbeitsrappen» ein: Auf jeden Franken Einkommen wird dem Arbeitnehmer ein Rappen abgezogen – für Arbeitslosenprojekte.
Die Schweiz in der Hochkonjunktur
Zwischen 1940 und 1970 erlebt die Schweiz eine nie gesehene wirtschaftliche Blütezeit. Die Wirtschaft wächst rasant und kontinuierlich. Es herrscht ständiger Arbeitskräftemangel. 1973 sind in der gesamten Schweiz nur gerade 81 Arbeitslose registriert. Dennoch fallen in diese Zeit wesentliche Fortschritte in Sachen Sozialversicherung. 1940 tritt die Lohnersatzordnung für Wehrmänner in Kraft. 1948 wird die AHV eingeführt, 1960 die Invalidenversicherung (IV). Die Arbeitslosenversicherung (ALV) ist noch immer freiwillig – was in der Ölkrise der siebziger Jahre zum Problem wird.
Frauen an den Herd, Migranten in die Heimat
In der Ölkrise 1973 – der schwersten ökonomischen Krise der Nachkriegszeit – gehen
innert kurzer Zeit 250'000 Arbeitsplätze verloren (elf Prozent). Dennoch steigt die
Arbeitslosenquote während der ganzen Krise nie über 0,1 Prozent. Der Grund für diese trügerisch tiefe Zahl: Arbeitslose Migranten wandern nach Südeuropa zurück, Frauen gehen zurück an den Herd. 1976 wird das Obligatorium für die Arbeitslosenversicherung in einer Abstimmung vom Volk gutgeheissen, 1982 tritt es in Kraft.
Kein Geld ohne Gegenleistung
1992 proklamiert Bill Clinton, damals US-Präsidentschaftskandidat, das Ende der Wohlfahrt: «Workfare» statt «Welfare». Die Schweizer Sozialwerke folgen dem Trend: Empfänger von Sozialgeldern sollen Arbeitswillen beweisen. 1995 wird die ALV revidiert, die regionalen Arbeitsvermittlungszentren entstehen. Arbeitslose sollen möglichst rasch reintegriert werden. Auch die IV will IV-Rentner zurück in den Arbeitsmarkt führen. Ab 2000 droht Sozialhilfeempfängern Leistungskürzung bei unkooperativem Verhalten. Winterthur führt 2001 das Passage-Modell ein: Wer Sozialhilfe beantragt und gesund ist, muss erst einen Monat im Wald arbeiten.