«Danke für den Anruf», sagte Flavia Schüpbach (Name geändert) zum Kunden am Beratungstelefon der Credit Suisse (CS). Und war damit schon halb entlassen. Sie hätte sagen sollen: «Ich bedanke mich für Ihren Anruf, Herr Soundso», monierten ihre Chefs bei der Grossbank. Wegen dieses und ähnlicher «Fehler» legten sie der erfahrenen Kundenberaterin, die früher immer mit besten Qualifikationen bedacht worden war, im Frühling 2005 die Kündigung nahe.

An ihrem Arbeitsplatz im Callcenter der CS war zwei Monate zuvor ein neues Überwachungssystem eingerichtet worden, das jedes Gespräch aufzeichnet. Damit lässt sich überprüfen, ob sich die Beraterinnen und Berater an die ausführlichen internen Vorschriften halten, wie ein Gespräch zu führen ist. Wer beim Verabschieden den Namen des Kunden nicht nennt und wer «Äh» und «Öh» sagt, sammelt nach diesem Kriterienkatalog Negativpunkte – unabhängig davon, ob die Kunden zufrieden sind oder nicht.

Schüpbach wurde krank und muss sich seit diesen Vorkommnissen psychologisch behandeln lassen. «Die CS greift ihren Mitarbeitern ins Denken ein, wenn sie ihnen vorschreibt, in welchem Tempo sie sprechen und welche Worte sie wählen dürfen», sagt Schüpbachs Anwalt Pierre Heusser. «Das geht eindeutig zu weit.»

Ein ähnlicher Kriterienkatalog wird im Ressort Logistik der Helvetia Patria angewandt. Dort prüfen die Vorgesetzten zum Beispiel, ob ein Angestellter «nach maximal drei Mal Läuten» ans Telefon geht, ob er die News im Intranet vor Arbeitsbeginn gelesen hat und ob er um sieben Uhr per E-Mail erreichbar ist. Wegen dieser Kontrollen wurden mehrere Mitarbeiter krankgeschrieben oder sind in psychologischer Behandlung. Einer von ihnen meint: «Mit diesem System misst die Helvetia Patria bloss die physische Präsenz, nicht aber die Qualität der Leistung eines Mitarbeiters. Das Menschliche bleibt auf der Strecke.» Die Verantwortlichen der Helvetia Patria sehen das anders: Für sie wird durch das neue System «Qualität erstmals eine messbare Grösse». Der Eindruck einer verstärkten Kontrolle sei «bedauerlich».

Die technischen Möglichkeiten zur Überwachung von Angestellten sind heute fast unbegrenzt – und werden rege genutzt. Gemäss einer Umfrage der American Management Association vom letzten Jahr überwachen drei Viertel der Unternehmen in den USA die Internetnutzung der Mitarbeitenden, mehr als die Hälfte überprüft den Mailinhalt und zeichnet den Telefonverkehr auf, über ein Drittel überwacht sämtliche PC-Tastaturbewegungen, und sechs Prozent filmen ihre Angestellten mit Videokameras – ganztags.

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Technisch ist die Kontrolle einfach

Die Schweiz ist nicht die USA. Doch eine Beobachter-Umfrage unter 136 Schweizer Unternehmen zeigt, dass auch hierzulande technische Mittel zur Kontrolle von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eingesetzt werden. So zeichnen beispielsweise rund zwei Drittel der 35 antwortenden Firmen Mailverkehr und Internetabfragen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf, und knapp ein Drittel der Firmen überprüfte auch schon E-Mails auf ihren Inhalt. Die Daten werden bis zu 15 Jahre lang aufbewahrt. In Callcentern ist die Aufzeichnung der Telefongespräche wie bei der CS mittlerweile Standard – «zu Schulungszwecken», wie die Firmen betonen.

Die für lückenlose Überwachung notwendige Infrastruktur ist einfach zu beschaffen, billig und sehr effektiv: Programme wie «Orvell Monitoring» oder «Winston Monitoring» registrieren unter anderem sämtliche Tastaturbewegungen oder erstellen alle paar Sekunden ein Foto vom Monitor eines Mitarbeiters: «Somit erfahren Sie immer und überall, was an Ihrem PC gearbeitet wurde, ohne sich an den zu überwachenden PC zu begeben», wirbt die Herstellerfirma Protectcom.

Die Handhabung ist ein Kinderspiel, der Aufwand hält sich in Grenzen. Die mit einem Keylogger (Tastaturrekorder) aufgezeichneten Daten lassen sich problemlos in ein Textdokument übertragen und mit einer automatischen Suchfunktion durchforsten: «Wer in einer E-Mail Wörter wie ‹Chef› und ‹Blödmann› schreibt, wird gnadenlos enttarnt», erklärt Thomas Wenk, der sich als Leiter IT-Services bei der WIR-Bank mit Sicherheitsfragen befasst. Für ihn kommt der Einsatz solcher Software nicht in Frage, aber Illusionen macht er sich keine: «Technisch ist praktisch alles möglich, und was möglich ist, wird auch gemacht.»

Das bestätigt der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür: «Spionprogramme sind ein regelmässiges Thema bei uns. Viele Unternehmen gehen irrigerweise in guten Treuen davon aus, dass deren Einsatz zulässig ist.» Thür nimmt an, dass solche Programme viel häufiger zum Einsatz kommen, als man denkt: «Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, denn die Softwareanbieter verkaufen solche Spyware gemäss eigenen Angaben gut. Und ich nehme an, dass sie gekauft wird, um gebraucht zu werden.»

In der Beobachter-Umfrage geben denn auch vier Unternehmen an, dass sie Spyware einsetzen. «Diese Firmen verstossen gegen das Arbeitsgesetz», hält Thür fest: «Spionprogramme, die das ständige Überwachen des Verhaltens eines Arbeitnehmers erlauben, sind illegal.» Ein Verfahren wegen Verletzung des Arbeitsgesetzes oder allenfalls auch des Persönlichkeitsschutzes hätte gute Chancen.

Kontrollierte müssen informiert sein

Die blosse Aufzeichnung von E-Mails, Internet- und Telefonnutzung hingegen ist grundsätzlich nicht verboten, ebenso das Auswerten von Stichproben. Doch auch dafür gibt es rechtliche Rahmenbedingungen. «Solche Daten können nur ausgewertet werden, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem vermuteten Missbrauch zuerst darüber informiert wurden, dass ihre Aktivitäten aufgezeichnet werden», erklärt Thür die Rechtslage. «Sinnvoll sind ein Reglement, das die zulässige Nutzung von E-Mail und Internet festlegt, und eine Regelung, wer in einem Verdachtsfall welche Daten personenspezifisch auswerten darf.»

Ein solches Überwachungsreglement hat gemäss der Beobachter-Umfrage aber nur knapp die Hälfte aller Unternehmen. Selbst Gudela Grote, Professorin für Arbeitspsychologie an der ETH Zürich, weiss nicht, ob ihr Arbeitgeber über ein solches verfügt. Die Konsequenz: Eine Auswertung der Daten in einem Verdachtsfall wäre illegal. Das musste die Stadtzürcher Polizeidirektorin Esther Maurer zur Kenntnis nehmen, als sie eine Indiskretion in ihrem Polizeikorps ahnden wollte. Das Administrativverfahren gegen einen Polizisten musste eingestellt werden, weil die Auswertung des E-Mail-Verkehrs nicht vorgängig angekündigt worden war.

Dass Chefs ihre Mitarbeiter illegal überwachen, ist keine Seltenheit: In der Media-Markt-Filiale in Dietikon ZH etwa wurden die Angestellten mit schwenkbaren Videokameras gefilmt – selbst auf dem Weg zur Toilette und zum Pausenraum. «Nach einer Reihe von Verweisen – zum Teil aufgrund von Videoüberwachungen – habe ich die Kündigung bekommen», sagt der ehemalige Media-Markt-Angestellte Damian Meer (Name geändert) gegenüber der Gewerkschaftszeitung «Work». Meer wurde unter anderem vorgeworfen, dass er mit seiner im selben Betrieb arbeitenden Freundin Zärtlichkeiten austausche – auch das hatten die Chefs gefilmt. Erst auf Druck der Gewerkschaft Unia wurden die Kameras wieder abgebaut.

Bei der Fast-Food-Kette McDonald’s sorgt seit letztem Jahr ein neues Kassensystem dafür, dass Angestellte so viel Umsatz wie möglich bolzen: Alle Verkaufszahlen laufen auf dem PC des Geschäftsführers zusammen. Dieser kann jederzeit auswerten, welcher Mitarbeiter wie viele Big Macs oder Milkshakes verkauft hat, wer der Kundschaft am meisten Kaffees aufschwatzt oder bei wem Sonderangebote am besten laufen. «Im Zusammenhang mit unserem Kassensystem werden keine personenbezogenen Auswertungen durchgeführt», betont Mediensprecherin Nicole Schöwel. «Die Informationen werden nicht für die Beurteilung der einzelnen Mitarbeitenden eingesetzt.»

Auch Vorgesetzte nehmen Schaden

Im Alltag eines McDonald’s-Restaurants sieht dies aber nach den Schilderungen von Insidern anders aus: «Ich habe manchmal Wettbewerbe unter den Mitarbeitern veranstaltet», erzählt ein ehemaliger Geschäftsführer. «Für die Qualifikation durfte ich die Daten offiziell nicht verwenden, aber die Resultate hat man als Vorgesetzter natürlich trotzdem im Kopf.»

Für Chefs kann übermässige Kontrolle aber auch zum Bumerang werden. So nahm in einem Schweizer Tourismusunternehmen ein Vorgesetzter im Rahmen eines internen Konflikts Einblick in private E-Mails einer Angestellten. Als Folge der untragbaren Situation wurde der Mitarbeiterin gekündigt und ihrem Vorgesetzten vom Leitungsorgan nahe gelegt, seinen Posten ebenfalls aufzugeben. Dieses Beispiel zeigt auch, dass Betriebe, in denen Arbeitnehmer überwacht werden, anfälliger sind für Mobbing. Dies musste auch Reto Fleiner (Name geändert) feststellen, der auf seiner Festplatte plötzlich ein belastendes Dokument fand, das er noch nie gesehen hatte.

Die Aufsicht darüber, dass sich die Überwachung in den Betrieben im gesetzlichen Rahmen hält, wäre eigentlich Sache der kantonalen Arbeitsinspektoren. Doch eine Beobachter-Erhebung in den Kantonen Bern, Basel-Stadt, Zürich und Uri zeigt, dass Spionprogramme, Kassen-, Mail- und Internetüberwachung bei den regelmässigen Betriebskontrollen kein Thema sind. Zitat eines Arbeitsinspektors: «Bis jetzt hatten wir keine solchen Fälle, da sich keine Leute bei uns gemeldet haben. Bei den Betriebskontrollen prüfen wir vorwiegend das klimatische Umfeld wie Ergonomie, Stimmung, Mobbing und Stress.» Die Überwachung am Arbeitsplatz kontrolliere man dagegen nicht speziell. Einzig bei den Banken gibt es jährlich eine externe Informatikrevision, die auch technische Überwachungssysteme überprüft.

Die technischen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten sind verführerisch, weil sie vorgaukeln, Leistung sei objektiv messbar. Wer oft in die Tasten haut, gilt beispielsweise als fleissig, wer den Telefonhörer schon nach zwei Klingeltönen in der Hand hat als aufmerksam. «In solchen Fällen wirkt Kontrolle destruktiv», meint Arbeitspsychologin Gudela Grote. «Weil die Angestellten dann mehr Gedanken an die Überwachung verwenden als an die eigentliche Arbeit.» Dass sich Firmen immer mehr in der Messung von Details verheddern, statt mit den Angestellten Ziele zu vereinbaren und die Gesamtleistung zu betrachten, «widerspricht modernem Management», so Grote.

Das sehen in der Umfrage des Beobachters allerdings nicht alle Unternehmen so. Big-Brother-Methoden am Arbeitsplatz sind ihrer Ansicht nach angemessen, wenn es um den Schutz der Informatik-Infrastruktur geht oder darum, strafrechtlich relevante Handlungen von vornherein zu unterbinden. Auch das Verhindern von «Arbeitszeitmissbrauch» oder «Arbeitszeitdiebstahl» wird als Grund angegeben. «Ob jemand im ‹Word› arbeitet oder an privaten Mails, lässt sich nur über solche Mittel feststellen», schreibt etwa ein grösseres Medizinaltechnikunternehmen.

Immerhin: Die meisten der 35 Firmen, die bei der Beobachter-Umfrage antworteten, sind sich der Gefahren übermässiger Kontrolle bewusst. Auf die Frage nach den Risiken der Überwachung wird unter anderem eine «Vergiftung der Arbeitsatmosphäre» und «sinkende Motivation des Mitarbeiters» befürchtet. «Für den Vorgesetzten kann es einfach werden, auf Überwachung und Kontrolle zu setzen, statt zu führen», sagt ein Unternehmen.

Die Überwachung wird zum Thema

«Wenn sich jemand den ganzen Tag im Internet vergnügt und Hunderte von Mails sendet oder empfängt, so handelt es sich wohl primär um ein Führungsproblem», vermutet IT-Spezialist Thomas Wenk von der WIR-Bank. Zunehmendes Umdenken stellt auch der eidgenössische Datenschutzbeauftragte fest: «Wir haben viele Anfragen zum Thema. Daraus schliesse ich, dass die Unternehmen langsam begreifen, dass der Datenschutz eine detaillierte Regelung dieser sensiblen Fragen verlangt», sagt Hanspeter Thür.

Die Selbstkontrolle der Unternehmen ist dem Luzerner SP-Nationalrat Hans Widmer aber zu wenig. Er fordert eine Meldepflicht für Überwachungssoftware: «Big Boss is watching you – das ist teilweise schon Realität», meint er. «Doch kaum jemand regt sich noch darüber auf. Niemand traut sich zu klagen. Alle kuschen. Die junge Generation wächst mit übermässiger Kontrolle auf und gewöhnt sich daran, dass die Sicherheit überhand und die Freiheit abnimmt. Das darf doch nicht sein.» Deshalb hat er mit einem Postulat eine Meldepflicht für Überwachungssoftware am Arbeitsplatz angeregt. Der Bundesrat findet das zu aufwändig: Das entsprechende Verbot sei im Arbeitsgesetz bereits festgehalten. Doch Flavia Schüpbach und Reto Fleiner half der tote Buchstabe dieses Gesetzes wenig.