«Mehr Gelassenheit wäre angebracht»
Schüler können nicht mehr richtig schreiben? Stimmt nicht, sagt Sprachforscherin Afra Sturm von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Rechtschreibung solle man nicht überbewerten.
Veröffentlicht am 4. November 2019 - 17:08 Uhr
Eltern, Lehrmeister und Medien beklagen eine «Rechtschreibekatastrophe». Sehen Sie diese auch?
Afra Sturm: Nein. Die sehe ich nicht.
Dann irrt, wer sagt: Früher konnten die Schüler besser schreiben?
Es kommt darauf an, was man vergleicht und wie man «besser» definiert. Heutige Primar- und Sek-Schüler können mehrere Arten von Texten schreiben. Nicht nur den klassischen Aufsatz im Stil einer Erörterung, sondern auch Briefe, Anleitungen, Geschichten, Protokolle bis hin zu Gedichten oder Zusammenfassungen. Sie haben eine breitere Schreibkompetenz als Schüler vor 20 oder 40 Jahren.
Aber die Rechtschreibung ist schlechter.
Generell kann man das so nicht sagen. Studien liefern unterschiedliche Resultate: Müssen Schüler einzelne Wörter richtig schreiben, schneiden sie heute teilweise besser ab. Das hängt auch mit der Rechtschreibreform zusammen, die viele Sonderfälle ausgemerzt hat. Einzelne Studien zeigen aber, dass die Schüler beim Schreiben von Geschichten heute mehr Rechtschreibfehler machen.
Woran liegt das?
Man kann sich nicht gleichzeitig auf den Inhalt eines Textes, auf den Aufbau und auf die Rechtschreibung konzentrieren. Sind Schüler sehr geübt zum Beispiel beim Verfassen einer Geschichte, dann machen sie dort weniger Rechtschreibfehler als Schüler, die diese Textform nicht so gut kennen und sich stark auf den Inhalt konzentrieren müssen. Deshalb weisen Aufsätze von Schülern in den 70er Jahren weniger Fehler auf als Texte von heutigen Schülern, weil man früher diese Textform stärker gepaukt hat.
Dann können Schüler heute zwar vielfältiger schreiben, aber weniger korrekt.
Die höheren Anforderungen können zulasten der Rechtschreibung gehen. In diesem Sinne ja.
Finden Sie diese Ausrichtung des Unterrichts richtig?
Ja. Man darf dabei nicht vergessen: Nicht bei jedem Text ist die Rechtschreibung gleich wichtig. Bei einem Einkaufszettel ist es egal, ob ich «Spagetti» oder «Spaghetti» schreibe, Hauptsache ich kann es lesen. Ein Geschäftsmail dagegen sollte keine Fehler enthalten, die ins Auge stechen, eine Bewerbung
muss fehlerlos sein. Je wichtiger ein Text, desto mehr muss ich fähig sein, ihn zu korrigieren.
Wie kann man das lernen?
Das geht am besten über systematischen, regelorientierten Rechtschreibunterricht – also explizit zeigen, wie eine Regel funktioniert und wie man Hilfsmittel verwendet. Und dann üben. Schreiben lernen ist eine Kulturtechnik, kein natürlicher Prozess. Auch wer viel liest und schreibt, lernt nicht einfach so Rechtschreibung. Denken Sie an das scharfe ß: Wir lesen es in deutschen Texten jeden Tag, können aber trotzdem nicht sagen, wann es geschrieben wird. Solche Sachen muss man lernen.
Macht das die Volksschule heute genügend?
In der Regel ja, auch wenn das viele anders sehen. Tests zeigen: Die Grundkompetenzen
werden erreicht. Wichtig ist: Die Rechtschreibung darf nicht zu viel Platz im Schreibunterricht einnehmen, weil Schreiben können viel komplexer ist, als nur die Orthografie zu beherrschen.
Warum schneiden Schweizer Schüler in der Rechtschreibung schlechter ab als deutsche?
Ein Hauptgrund ist, dass die Tests meist in Deutschland entwickelt wurden. Sie verwenden deutsche Begriffe, die die Schweizer Schüler weniger gut kennen und darum häufiger falsch schreiben. Hinzu kommt: Unsere Rechtschreibschwierigkeiten sind andere: «Greifen» sprechen wir mit starkem f aus, würden es von der Lautsprache her also mit zwei f schreiben. In Norddeutschland würde «greiffen» sehr schräg wirken.
Warum ist Rechtschreibung überhaupt wichtig? Was ist so schlimm, wenn jemand «Geldfelscher» statt «Geldfälscher» schreibt oder ein Komma falsch setzt?
Etwas immer gleich zu schreiben ist wichtig für das Verständnis. Wenn ein Text nicht unseren Lesegewohnheiten entspricht, können wir ihn nicht flüssig lesen. Ein Fehler im Wortstamm wie Geldfälscher mit e irritiert, der Zusammenhang mit fälschen, mit falsch, geht verloren. Ein falsches Komma hingegen kann die Bedeutung eines Satzes zwar ebenfalls verändern, macht das Lesen aber meist nur etwas holpriger. Es kommt auch auf die Expertise des Lesers an: Wer beruflich Texte korrigiert, fühlt sich beim Lesen durch Kommafehler mehr gestört als der Durchschnitt. Wir sollten uns aber am Durchschnitt orientieren. In der Mathematik sind wir auch nicht alle Profis. Ein bisschen mehr Gelassenheit beim Thema Rechtschreibung wäre angebracht.
Korrekturprogramme werden immer besser. Weshalb überlassen wir nicht ihnen die Rechtschreibung?
Korrekturprogramme sind letztlich Datenbanken, also einfach Listen. Die deutsche Sprache ist aber sehr flexibel: Ich kann beliebige Zusammensetzungen bilden. Ein Schüler schrieb in seinem Text «Teigform». Das Korrekturprogramm hat das nicht erkannt, weil nicht in der Liste, und hat ihm «Teig form» vorgeschlagen. So hatte der Schüler nachher einen Fehler mehr und nicht weniger. Korrekturprogramme erkennen vor allem Tippfehler oder Fehler in der Wortschreibung: Für alles andere braucht es immer noch den Schreiber mit seinem Wissen.
Wer falsch schreibt, den stufen wir oft als nicht intelligent ein, oder unterstellen ihm, er habe sich keine Mühe gegeben. Was für Folgen hat das für Menschen mit einer Rechtschreibschwäche?
Man darf nie von einer einzelnen Fähigkeit auf den Charakter oder die Intelligenz einer Person schliessen. Leider wird das gerade bei Personen mit einer Rechtschreibschwäche oft gemacht. Das führt dazu, dass sie erst recht nicht mehr schreiben. Die meisten Erwachsenen, die nicht richtig schreiben können, haben es einfach nie richtig gelernt. Statt sie zu verurteilen, sollten wir ihnen helfen. In der Regel ist Rechtschreibung lernbar, wenn sie lernförderlich
vermittelt wird.
Muss man korrekt schreiben können, um Texte wirklich zu verstehen?
Nein. Umgekehrt aber schon. Um etwas korrekt schreiben zu können, muss ich meinen Text gut lesen können. Nur dann erkennt man Rechtschreibfehler. Wenn Schüler einen Fehler nicht finden, liegt das manchmal auch daran, dass sie nicht genau lesen können.
Welche Auswirkungen hat es auf unsere Rechtschreibung, dass wir kaum noch von Hand schreiben?
Wer Schwierigkeiten hat von Hand zu schreiben, der macht mehr Fehler. Das gilt aber auch fürs Tastaturschreiben. Wenn wir uns auf die Tätigkeit des Schreibens konzentrieren müssen, können wir nicht gleichzeitig auf die Rechtschreibung schauen. Es nützt nichts, wenn wir nur die Regeln können, wir müssen sie auch in unser Schreiben übernehmen können.
Chats, Facebook, Twitter – wir schreiben immer mehr. Wie wirkt sich das auf unsere Schreibfähigkeit aus?
Auf die Rechtschreibung nicht, auf die Ausdrucksfähigkeit schon. Zumindest Kinder schreiben heute abwechslungsreicher und kreativer. Das hat die Vergleichsstudie von Wolfgang Steinig gezeigt: Er hat Primarschülern 1972, 2002 und 2012 die gleiche Aufgabe gestellt. In ihren privaten Nachrichten spielen Kinder und Jugendliche oft mit Sprache, schreiben «8tung», «sry» und erzählen auf wenig Platz ganze Geschichten. Natürlich kommt die bessere Ausdrucksfähigkeit nicht nur davon, sondern auch vom veränderten Unterricht, und dass in der heutigen Gesellschaft Schrift eine grössere Rolle spielt.
Ist schreiben können durch die Digitalisierung noch wichtiger geworden?
Ja. Wichtiger als nur schon vor 10 Jahren. Es gibt praktisch keine Berufe
mehr, die gut lesen und schreiben können nicht voraussetzen. In einem Projekt für Erwachsene mit Schreibschwierigkeiten hatten wir einen Mann, er war Werbeausträger: Durch die Personalisierung der Werbung musste er plötzlich adressierte Werbung austragen. Er brauchte zu lange, um die Adressen zu lesen, und war deshalb zu langsam. Er wurde dann Gemüserüster. Aber auch dort kam bald ein Gerät zum Einsatz, das ihm Informationen zur Verarbeitung lieferte, die er während dem Gemüserüsten aufnehmen musste. Wie Untertitel lesen im Kino. Ob im Büro, im Laden, auf der Baustelle: Alles wird erfasst, dokumentiert, der schriftliche Verkehr nimmt überall stetig zu.
Kinder aus bildungsfernen Schichten haben deutlich mehr Mühe mit Rechtschreibung als ihre privilegierten Mitschüler – unabhängig vom sprachlichen Hintergrund. Warum?
Für die Wortschreibung spielt es fast keine Rolle, ob Deutsch für ein Kind Erst- oder Zweitsprache ist. Bei der Grosschreibung von Nomen und der Zeichensetzung sieht es anders aus, weil ich dazu grammatisches Wissen brauche. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern
kommen oft mit einem kleineren Wortschatz in die Schule, lesen zuhause weniger, reden seltener über Texte. Die Schule muss deshalb nicht nur Rechtschreibung lehren, sondern literale Praxis generell vermitteln: das Interesse an Texten, die Freude am Lesen, überhaupt den Zugang zu Geschriebenem herstellen.
Macht es unsere Rechtschreibung kaputt, wenn wir alle privaten Nachrichten in Dialekt schreiben?
Nein. Auch die Dialektschreibung ist gewissen Regeln unterworfen, die man kennen muss, damit man verstanden wird. Dialekt schreiben können ist eine weitere Kompetenz. Personen, die Mühe mit der Rechtschreibung haben, schreiben ihre SMS meist nicht in Dialekt.
Wie korrekt sollte jemand schreiben können, wenn er die Volksschule abgeschlossen hat?
Was jemand schreibt, sollte störungsfrei lesbar sein. Die Wortschreibung sollte sicher sein, die Gross- und Kleinschreibung einigermassen. Es ist nicht die Aufgabe der Volksschule, die gesamte Rechtschreibung zu lehren. Ein Teil der Kommasetzung oder der Gross- und Kleinschreibung ist nicht im Lehrplan 21 enthalten. Nominalisierte Adjektive wie in «etwas Süsses» ist Stoff für die Stufe Berufsschule und vor allem für Gymnasien. Das muss man Lehrmeistern und Gymilehrpersonen gegenüber ab und zu wieder betonen. Früher sollen alle Volksschulabgänger fehlerfrei geschrieben haben? Das ist schlicht ein Märchen.
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9 Kommentare
Glaub der Teufel, können die Schüler nicht mehr Rechtschreiben, wenn die Dozentinnen dozieren, dass es Wurst wäre, wenn eine Einkaufsliste nicht korrekt geschrieben sei. Da verbreitet sich eine Larifaarimentalität, die auch auf Bewerbungen überschwappt. Und der Vergleich mit der Mathematik ist hanebüchen. 2+2 gibt auch auf dem Einkaufszettel nicht 5. Für Schüler aus dem Ausland gibt es die Didaktik Deutsch als Zweitsprache, was auch nach 20 Jahren in den PHs immer noch nur marginal behandelt wird, obwoh oft über 50% fremdsprachige Kinder in der Klasse sitzen.
«Rechtschreibung ist nicht wichtig. Aber man muss sie können.»
(Zitat Hans Glinz, Linguistiker).
Leider ist die Schule ein Spielfeld von Experimentierpädagogen und Politikern.
Bewährtes wird fallengelassen und Neues gegen jede Vernunft und gegen wissenschaftliche Grundlagen und Erkenntnisse eingeführt (Schreiben nach Gehör, Frühfranzösisch, Frühenglisch und zu guter Letzt noch der Lehrplan 21).
Die sog. integrierte Schulung zulasten von Begabten wird so kostenintensiv, dass man im Schulbereich zu sparen beginnt.
Ich glaube, ich werde meine Kinder ermuntern, unsere Enkel in eine gute Privatschule zu schicken....
"... veräppelt wurde." müsste es natürlich heissen, Herr Lehrer.
(siehe mein vorheriger Kommentar)
Als Primarlehrer in der Oberstufe (5./6. Klasse) stelle ich fest, dass Kindern wohl ab dem Kindergarten die Regeln beim Sport und in der Mathematik beigebracht werden, im Schreiben aber (und auch in der Handschrift) ist man aus Angst vor dem früheren Extrem der rot zukorrigierten Aufsätze in erzwungener Schnürlischrift zu einem antikorrekten "Du darfst schreiben, wie du willst, Hauptsache, es macht dir Spass"-Unterricht übergegangen. Folge: in der 5. Klasse sollen die Schülerinnen und Schüler dann noch schnell ihre Haltung ändern und erkennen, dass es eben doch Regeln gibt und es etwas nützt, wenn die Schrift leserlich, die Sätze sinnvoll und die Orthografie korrekt ist. Das ist meines Erachtens grobfahrlässig. Unterlassene Hilfeleistung. Ich warte auf die erste Sammelklage der Generation, die von ihren Eltern und Lehrpersonen derart veräppelt wurden.