«Ihr Egoisten»
Eigentlich finden alle Chancengerechtigkeit eine gute Sache. Ausser wenn es um das eigene Kind geht. Ein Kommentar von Beobachter-Redaktorin Birthe Homann.
Veröffentlicht am 27. September 2019 - 15:01 Uhr
Kaum hat die Schule begonnen, dreht sich wieder alles um Probezeit und Aufnahmeprüfung ans Gymnasium. Ich weiss nicht mehr, wie oft ich mir in den letzten Wochen diese Sätze in verschiedensten Variationen anhören musste: «Ich schäme mich ja schon ein bisschen. Aber wir haben so viel um die Ohren, da können wir diesen Extraaufwand nicht auch noch leisten.»
Deshalb besucht Hans Lars jetzt den privaten – teuren – Gymivorbereitungskurs. Oder hat Lia-Hanna Nachhilfestunden , damit sie die Probezeit am Langzeitgymnasium besteht. Oder geht Julius in eine Privatschule, wo auch gleich die Hausaufgaben erledigt werden, «weil das mit ihm so mühsam war. Das wollten wir auslagern.» Und dafür bezahlen, füge ich in Gedanken an, weil ihr zu bequem seid, euch selber darum zu kümmern.
Ach, lassen wir die doch machen, wenn sie das so wollen. Ist doch egal, werden Sie, liebe Leserin, einwenden? Nein. Mir ist es nicht egal, wenn unser Bildungssystem unterlaufen wird. Wenn Eltern ihre Kinder auf diese Weise fördern , kommen sie einfacher und leichter in die höhere Schule. Wer keine Eltern hat, die sich das leisten können, fliegt rascher raus oder kommt gar nicht erst rein. Das darf doch nicht sein.
Die Zürcher Intelligenzforscherin Elsbeth Stern beklagt schon lange, dass die falschen Kinder am Gymnasium sind. «In Schweizer Gymis hat es Kinder, die dort nicht hingehören», sagt die Professorin klipp und klar.
Wohlhabende Eltern pushen sie ins Gymnasium, intelligente Kinder aus niedrigeren Bildungsschichten schaffen es nicht, weil sie zu wenig gefördert werden. «Über den Zugang ans Gymnasium müssten allein die geistigen Fähigkeiten entscheiden – und nicht die Herkunft »,sagt die ETH-Professorin für Lehr- und Lernforschung.
Am meisten geht mir die Scheinheiligkeit der Eltern auf den Geist. Statt zu sagen: Wir leisten uns die Privatstunden, wir tun alles, damit unser Kind das Gymi besuchen kann, winden sie sich in Erklärungen und verstecken sich hinter Ausreden.
Meistens fügen sie noch an, dass sie sich sonst für Minderprivilegierte stark einsetzen. Die Putzfrau aus Brasilien zum Beispiel fürstlich entlöhnen – deren Sohn wird es trotzdem nicht ans Gymnasium schaffen. Dafür brauchte er nämlich echte Unterstützung. Förderunterricht in Deutsch zum Beispiel, angeboten vom Staat – oder gratis von den Arbeitgebern seiner Mutter.
Zum Glück gibt es solche Angebote an den Schulen. Leider sind sie zu schwach dotiert, zwei Stunden DAZ (Deutsch als Zweitsprache) pro Woche reichen nicht. Und meistens kommen sie zu spät.
Frühförderung ab den ersten Lebensjahren bis zum Eintritt in den Kindergarten wäre eine der besten Massnahmen, um später in der Schule mithalten zu können und weiterzukommen. Das belegen alle seriösen Studien.
Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm fordert zum Beispiel «Programme zur individuellen Förderung von begabten Kindern mit Migrationshintergrund». Der Kanton Basel-Stadt macht es vor mit obligatorischem Deutschunterricht für solche Kinder.
«Wenn es um die eigenen Kinder geht, ist Solidarität für viele plötzlich ein Fremdwort.»
Birthe Homann, Beobachter-Redaktorin
Immerhin reagiert nun auch Bundesbern, wenn auch nur zögerlich. Eine parlamentarische Initiative, welche die Förderung vor dem Kindergartenalter anstrebt, befindet sich zurzeit in der Vernehmlassung.
Gewisse Eltern laufen aber gegen solche Fördermassnahmen Sturm. Es könne nicht angehen, dass die einen, die von zu Hause weniger mitkriegen, staatlich gefördert werden, heisst es dann. Weil deshalb ihre eigenen Kinder – möglicherweise – etwas weniger Förderung erhalten könnten. Das ist egoistisch gedacht. Wenn es um die eigenen Kinder geht, ist Solidarität für viele plötzlich ein Fremdwort.
Werden Kinder eingeschult, ist das nicht nur für die Kleinen ein bedeutender Einschnitt ins Leben. Der Beobachter bietet Eltern wertvolle Tipps rund um die Schule: Erfahren Sie als Mitglied unter anderem, wie Sie zu einem angenehmen Lernklima beisteuern können und welche Mittel Ihnen bei Unzufriedenheit mit der Schule offenstehen.
5 Kommentare
Die Bundesverfassung fordert vom Staat, dass jedes Kind das Recht hat, optimal individuell gefördert zu werden. Ein sehr hoher, idealistischer Anspruch, den das selektive Schulsystem nur teilweise einlösen kann. Schülerinnen und Schüler aus schwächeren sozialen Schichten haben schlechtere Chancen als Lernende aus wohlhabenden Schichten. Ein Zustand, der seit vielen Jahren besteht, der dringend ändern muss. Das Schulsystem braucht wesentlich mehr Ressourcen, damit der hohe Anteil an Lernenden, die bei Verlassen der Volksschule nach 11 Jahren nur ungenügend lesen und schreiben können, (15-20%) zurückgeht.
Ich finde es als Mutter schlimm, dass man schon in der Schule einem solchen Druck ausgesetzt ist. Dabei hat das System mit einem möglichen Lehrabschluss viele Vorteile. Nur finde ich die obligatorische Schulzeit zu kurz. Da entsteht viel Druck, auch bei Eltern. Der Wunsch, dass die Sprösslinge es möglichst hoch hinaus schaffen ist dann verständlich, nimmt gemäss Artikel aber unschöne Formen an. Meiner Meinung nach wäre eine einheitliche Volkschule bis zum 16 oder 17 Lebensjahr besser. Den gerade in der Pubertät ist man mit allem anderen als der Schule beschäftigt. Einigen geht halt erst mit 15 oder 16 in der Schule der Knopf auf.
Bei einem Bildungssystem, in welchem es genügend intelligente Kinder nicht schaffen, ohne Nachhilfe oder Förderung eine höhrere Schule zu durchlaufen, liegt das "Problem" nicht bei den wohlhabenden Eltern. Sondern entweder bei den Anforderungen oder den SchülerInnen.
Ist ähnlich wie in der Wirtschaft. Alle reden Wettwerb (der Beste soll das Rennen machen). Tatsäschlich will man ihn ausschalten, seine Pfründe sichern, soweit es geht, wenn es einem selber treffen könnte.