«Wer hier aufgewachsen ist, kennt mich»
Lilly Geiser hat 40 Jahre lang die Kasse im Schwimmbad Langenthal BE bedient. Die Frau von der Badi hat einen Taschendieb gestellt und späteren Olympiaschwimmern das Kraulen beigebracht.
Wenn ich im Dorf unterwegs bin oder im Coop an der Kasse anstehe, werde ich oft angesprochen: «Syt dir nid d Frou Geiser vo der Badi?» Fast 40 Jahre lang habe ich die Kasse im Schwimmbad Langenthal BE bedient. Wer hier aufgewachsen ist, kennt mich. Manchmal erzählen wir uns dann alte Geschichten. Rosario, der Inhaber der Gelateria beim Wuhrplatz, hat mir kürzlich gebeichtet, dass er als Kind jeweils über den Zaun geklettert sei, nachdem ich ihn heimgeschickt hatte, weil er sein Abo, das Badzedeli, wieder einmal vergessen hatte. Als Wiedergutmachung spendierte er mir eine Glace.
Seit ich denken kann, bin ich von Wasser umgeben. Es ist mein Element. Vielleicht weil ich im Sternzeichen Fisch geboren wurde, am 7. März 1933, zwei Monate vor der Eröffnung der Badi. Mein Vater Willy Tschudin war der erste Badmeister in Langenthal. Und auch meine Mutter Frieda arbeitete im Schwimmbad. Den Stubenwagen mit mir drin stellten sie tagsüber in den Schatten einer Linde.
Meine früheste Kindheitserinnerung sind aber Soldaten, die in Reih und Glied vom Pumpihaus ins Becken springen. Polnische Internierte, die sich in der Badi abkühlen durften. Auf dem Fussballfeld hinter dem Schwimmbecken wuchsen damals Kartoffeln.
Die KV-Lehre machte ich beim Stoffhändler Holliger. Doch als in der Badi die Stelle als Kassierin frei wurde, meldete ich mich sofort. Das war 1956. Meinen Mann, den Geiser Fritz, lernte ich bei einer Turnervorstellung im Hotel Bären kennen. Wir gingen ein paarmal z Tanz – und heirateten dann.
In der Saison spielte sich unser Familienleben meist im Freien ab. Die Söhne und der Mann kamen zum Zmittag in die Badi, am Wochenende halfen sie mit beim Badehosenverleih und beim Verarzten der Bienenstiche. Freizeit? Gab es praktisch nicht im Sommer. Nur wenn mal die veralgten Becken geputzt werden mussten, blieb die Badi für drei Tage geschlossen. Dann fuhren wir in die Badi Roggwil oder ins Berner Ka-We-De.
Eines Morgens um fünf Uhr rief der Badmeister an. Ich müsse sofort kommen, das Wasser sei violett. Ich sagte: «Spinnsch?», und fuhr mit dem Töffli in die Badi. Die Polizei war schon dort, es handelte sich offenbar um einen Anschlag. Jemand hatte Gurgeliwasser in die Becken geschüttet, eine Chemikalie, die man beim Militär zum Desinfizieren brauchte. Die Täter waren Béliers, jurassische Separatisten.
In den 1980ern spielte auch sonst die Politik eine Rolle in der Badi. Als einige Frauen anfingen, sich oben ohne zu sonnen, gab es Widerstand; dann kam eine amtliche Verfügung aus Bern, die das Mödeli bewilligte. Darin stand, es dürfe einfach nicht auffällig geschehen, sonst müsse man die Damen zurechtweisen. An der Fasnacht haben wir uns darüber lustig gemacht: «Von der Aare bis zur Rhone gehen alle oben ohne. Nein, da machen wir nicht mit, wir sind für oben mit.» Die Kostüme unserer Schüttsteiclique hatten Kragen bis unter den Hals.
Einmal verschwand in den Sommermonaten besonders viel Geld aus den Taschen. Mir fiel ein junger Mann auf. An der Kasse hatte er stets einen Spruch parat, er laferte ganz entspannt mit mir. Am Abend musste er aber immer pressieren, er war kurz angebunden. Eines Tages sah ich ihn bei den Toiletten mit zwei Portemonnaies hantieren. Der Badmeister wollte ihn packen, aber er entkam. Bei der Kasse stellte ich mich ihm in den Weg, zerrte an seinem Leibchen, doch er konnte sich losreissen. Als ich dem Polizisten später den Fetzen überreichen wollte, sagte der nur: «Was soll ich jetzt damit? Ich bin doch kein Spürhund!»
Den Dieb fasste man dennoch kurz darauf. Sein silbernes Damenvelo, das er immer neben dem Kassenhäuschen abstellte, hatte ihn verraten.
1992 ist mein Mann gestorben, er hatte ein Nierenleiden. Es war die letzte Saison vor dem grossen Umbau. Als wir im Herbst unsere Sachen aus dem Kassenhäuschen räumten, sagte er: «Tu jetzt nicht so, das kommt schon gut, ich helfe dir ja.» Im Dezember war er tot. Im gleichen Winter habe ich Mann und Badi verloren, das war schon brutal. Zwei Jahre später war die moderne Badi mit der Rutschbahn fertig. Ich sass wieder an der Kasse, kam aber mit dem Computer nicht zurecht. Da habe ich gesagt: «Es ist gut jetzt, ich mag nicht mehr», und ging in Rente.
Heute bin ich nur noch zu Gast hier. Bei fast jedem Wetter fahre ich mit meinem roten Elektromobil in die Badi. Mein Sohn hat mir einen Liegestuhl gekauft. Ich sitze da und ruhe mich aus, lese etwas, esse die feinen Kalbsleberli in der Beiz. Ins Wasser gehe ich immer noch jeden Tag, doch das Schwimmen ist schmerzhaft. Ein paar Züge auf dem Rücken vielleicht, das geht. Die Hüfte macht Probleme.
«Kein Extremsport, kein Bergsteigen», hat mir der Arzt schon vor Jahren gesagt. Aquajogging wäre besser für meine Gesundheit, ich weiss. Aber dieses Entelischwimmen? Nein, das gibt mir der Kopf nicht zu. Ich bin Schwimmerin. Alte Schule. Bei mir haben Kinder Kraulen gelernt, die später an den Olympischen Spielen teilnahmen!
Die Badi ist mein Leben. Ich weiss nicht, was passieren würde, wenn ich nicht mehr herkommen könnte. Heuer hat mir der Stapi von Langenthal einen Brief geschickt. Ich kenne ihn persönlich, auch er hat mir als Kind Sommer für Sommer sein Badzedeli gezeigt. Dem Schreiben beigelegt war ein Badiabo. Er hat es aus dem eigenen Sack bezahlt, eine schöne Geste. Er schrieb: «Frau Geiser, Sie haben es verdient!»
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