Bonjour! Grüessech!
Eine geballte Ladung Kultur, viel Natur und eine charmante Altstadt: Biel ist definitiv eine Stadtwanderung wert.
Veröffentlicht am 29. August 2023 - 06:00 Uhr
Aus dem Grün hört man Kinder glucksen, der Kindergärtner ruft: «Les enfants, venez vite voir! – chömet schnäu cho luege, Chinder.» Die Waldkindergärtler, bilingue, rumoren im Gebüsch.
Der Längholzwald, eingebettet zwischen die Gemeinden Biel und Brügg, ist kein Wald wie andere. Hier hat Mitte der Siebzigerjahre der Sekschüler Lorenz Hurni, heute Professor für Kartografie an der ETH, die Findlinge untersucht, die der Rhonegletscher vor rund 15’000 Jahren von den Alpen ins Seeland transportiert hatte.
Vier Jahre lang durchstreifte Hurni den Wald. Im Sommer kroch er in jedes Gebüsch, um keinen Stein zu verpassen. 350 Brocken fand er, bestimmte die Zusammensetzung ihres Gesteins, zeichnete jeden einzelnen auf einer Karte ein und gewann mit dieser Arbeit einen Preis beim Wettbewerb «Schweizer Jugend forscht». «Hervorragend», urteilte die Jury.
Hurni haben es vor allem die von Menschen bearbeiteten Schalensteine angetan. Wozu die Schalen dienten, ist bis heute ein Geheimnis. «Waren sie Kalender oder Sternbilder, hatten sie eine kultische Bedeutung? Wir wissen es nicht.» 54 der Findlinge stehen unter Schutz, sie bilden das Findlingsreservat Längholz. Der mächtigste Findling ist der Heidenstein. So gross wie ein kleines Chalet liegt er auf dem Waldboden. Und als gäbe es rund um ihn nicht genug Platz, wachsen just zu seinen Füssen, wie Wärter, dünne Bäume in die Höhe.
Die Schüssinsel hat eine Fläche von acht Fussballfeldern und bringt Natur mitten in die Stadt. Mit Badestrand und grossen Holzliegen, auf die man sich betten und das benachbarte Swatch-Hauptquartier studieren kann.
Nördlich vom Längholzwald, eine halbe Stunde Fussmarsch entfernt, liegt die Cité du Temps, der Swatch- und Omega-Campus. Dort gibt es in Vitrinen die Swatch-Kollektionen seit 1983 zu sehen oder Omega-Uhren, die während der Ära des Art déco, Jugendstils oder zu Beginn des Ersten Weltkriegs gefertigt worden sind – die Zifferblätter der «Watches for Soldiers» schützt ein Gitterkäfig.
Das Swatch-Hauptquartier, ein 240 Meter langer reptilienartiger Bau, eine Boa mit silbern schimmernden Schuppen, schlängelt sich durch das Gras, reisst über der Strasse das Maul auf – und verleibt sich das Gebäude vis-à-vis ein: das Uhrenmuseum. Gebaut hat den Campus der japanische Architekt Shigeru Ban. Unter der Reptilienhaut wird eines von Bans Markenzeichen sichtbar: eine Holzfachwerk-Konstruktion mit ineinandergesteckten Balken.
Jetzt einen Kaffee trinken – très bon und très fort –, das wärs. Also gehts der Schüss entlang zum Zentralplatz und von hier zum «Perroquet Vert». Der Standort an der Zentralstrasse mag nicht gerade der lauschigste sein, aber das Café gehört bestimmt zu den schönsten der Schweiz. Bänke, die mit grünem Samt bezogen sind, stuckverzierte Decken, tapezierte Wände und Silberbesteck – wer hier Platz nimmt, wähnt sich in der Belle Epoque. «Bonjour, que voulez-vous?», grüsst der Kellner.
«Grüessech, was hättet dir gärn?», heisst es einen Katzensprung weiter, im «Odéon» an der Bahnhofstrasse. Hier ist der Samt rot, die Bar noch ein bisschen üppiger mit Gläsern bestückt und die Tapete möglicherweise einen Tick extravagant. Die Weissweinsuppe, von der Kellnerin wärmstens empfohlen, schmeckt köstlich und wird – weil viel – in zwei Portionen serviert.
Die nächste Visite gilt dem Bahnhof. Der Bau, der wie ein Tempel aussieht, beherbergt ein Bijou von Wartesaal. Die Wände zieren vier Jugendstilfresken des Bieler Künstlers Philippe Robert (1881–1930). Betrachten durften sie einst nur Erstklasspassagierinnen und -passagiere.
Hinter dem Bahnhof, auf der Grenze zwischen Biel und Nidau, liegt die Expo-Brache. Seit dem Ende der letzten Landesausstellung im Oktober 2002 ist das Gelände weitgehend ungenutzt. 2021 lehnten die Stadträte von Biel und Nidau das Projekt Agglolac ab, das den Bau von Wohnungen vorgesehen hatte.
«Wir können also vorläufig weitermachen», sagt Beat Cattaruzza. Der Hüne – er war einst Spieler beim EHC Biel und beim SC Lyss – gehört zum Gründungsteam des Vereins Dispo, der sich in der Halle der ehemaligen Metallwerke Nidau einquartiert hat. Wie der Verein heisst auch die Halle: Dispo Space.
Der Name ist wortwörtlich gemeint – espace à disposition. Für Künstlerinnen zum Arbeiten und Ausstellen, für Theatergruppen zum Proben und Aufführen, für Firmen und Private zum Festefeiern. Für Spaziergängerinnen, die im fabrikhallenhohen Bistro ein Bier trinken wollen, und für Forschungsgruppen zum Experimentieren.
Seit einiger Zeit tüftelt Cattaruzza hier zusammen mit Studierenden der Holzfachschule Biel an Modulen, die man etwa zu Arbeitsplätzen, Sitzungs- und Ruheräumen zusammenstecken oder einzeln als Tiny House bewohnen kann.
Eingerichtet ist das Dispo mit Secondhand-Gegenständen, «wir haben uns der Kreislaufwirtschaft verschrieben», sagt Dispo-Mitgründerin und Eventmanagerin Laurence Kauter. «Alles wird bei uns mehrfach verwendet, und wenn wir etwas Neues brauchen, halten wir nach Gebrauchtem Ausschau.»
Zwischennutzung Nr. 2 liegt am anderen Ende der Stadt im Quartier Gurzelen. Das einstige Stadion des FC Biel an der Champagneallee wird seit 2017 in einem fortwährenden, fantastisch-bunten Werk zum Terrain Gurzelen TGU umfunktioniert. Auf dem Fussballfeld grünen – bis auf einen grümpelturniergrossen Fleck – Rasentennisplätze, «le Wimbledon du peuple», wie die Zeitung «Le Temps» schrieb. Die Katakomben hinter der Tribüne beherbergen Ateliers für Musik, Kunst und Handwerk. Den Spielfeldrand hat der Verein TGU zu einem Gemeinschaftsgarten umgepflügt und zu einem Acker, auf dem alte Getreidesorten wachsen.
Auf der Kinderbaustelle tragen Kleine einen Sandhaufen ab. Auf der Skaterrampe ziehen Grosse ihre Runden. Der Verein Spiruline züchtet Algen, im Strohballenhaus daneben wird Tofu produziert. Es gibt eine offene Holzwerkstatt, ein Veloatelier zum gemeinschaftlichen Reparieren und Sanieren, und die Schneiderei Kollektiv teilt ihr Wissen mit allen, die ihre Kleider upcyceln wollen. Ab 11 Uhr serviert Rogers Corner täglich Fischknusperli, und in der Buvette Gurz bekommen Gäste Hotdog-Spezialitäten, Bier und Wein, Drinks und Spirits, Kaffee und Sirup aufgetischt.
Biel ist eine Industriestadt. Davon erzählen die Ausstellungen im Neuen Museum. Etwa vom Uhrmacherhandwerk und von der Textilfabrikation. Seinen Sitz hat das Haus in der einstigen Indienne-Manufaktur Verdan-Neuhaus in der Seevorstadt. Hier wurden im ausgehenden 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Baumwollstoffe gewoben und mit Mustern bedruckt, die ursprünglich aus Indien stammten.
Im ersten Stock, in einem Raum mit knarrendem Holzboden und raumhohen Vorhängen, auf die das Sonnenlicht die Sprossen der Fenster malt, hängen Gemälde des Bieler Bühnenbildners und Malers Karl Walser. Im Raum nebenan können sich Besucherinnen im Entziffern der Briefe üben, die sein Bruder, der Schriftsteller Robert Walser, «Fräulein Resy Breitbart» geschrieben hatte. Die Schrift ist noch nicht so spektakulär winzig wie in seinen Mikrogrammen. Begonnen hatte den Briefwechsel die junge Frau, sie schrieb dem zu Lebzeiten verkannten Autor, wie gut ihr sein Roman «Geschwister Tanner» gefiel.
Im Stock darüber warten die historische Wohnung, in der Museumsstifterin Dora Neuhaus, eine Nachfahrin der Industriellenfamilie Verdan-Neuhaus, bis 1975 gewohnt hat, und das «Rob Lab» mit 3000 Werken der Künstlerdynastie Robert. Darunter Aquarelle von Libellen, Vögeln, Pilzen, Herbstlaub, so präzis gemalt wie wissenschaftliche Zeichnungen.
Biel hat eine Altstadt. Eine schöne, mit Brunnen und Türmen, mit Kopfsteinpflastergassen und Lauben, mit Beizen und Lädeli und mit Wohnungen, die noch bezahlbar sind. Vor zehn, fünfzehn Jahren allerdings war die Vieille Ville ein verwaister Ort. Die Suchtkranken, die im Drop-in verkehrten, das in einer der Gassen domiziliert war, schreckten die Leute ab. Kaum jemand mochte mehr in die Altstadt kommen, weder zum Einkaufen noch zum Flanieren. Kaum eine sass mehr unter der mächtigen Kastanie in der Obergasse und lauschte der Musik, die manchmal an warmen Tagen aus einem der offenen Fenster klang.
«Die Situation besserte sich vor rund zehn Jahren, als das Drop-in wegzog», sagt Reto Bloesch. Der Texter und Eventmanager, der länger in der Altstadt lebte, sah Gewerbetreibende wieder herziehen und Läden eröffnen. Um den Aufschwung anzukurbeln, lancierte er 2016 mit zwei Kollegen den First Friday, «alles bénévole», sagt er. Die Hoffnung, die mit dem Anlass verknüpft ist: dass die Leute, die jeden ersten Freitag im Monat zum Feiern kommen, in den Tagen darauf zum Einkaufen wiederkehren.
Zwölfmal im Jahr strömt presque tout Bienne zusammen mit Hergereisten in die Altstadt. Die Läden und Lädeli, die Galerien und Brockenhäuser, die Goldschmiede-Ateliers, das Repaircafé, das Musikhaus und der Vintage-Shop sind bis spätabends geöffnet. Bands spielen Jazz und Rock, und in allen Gassen schöpfen unermüdlich Arbeitende Speisen aus unterschiedlichsten Ländern auf Teller oder in Pitabrote. Bloesch ist glücklich. «Es macht Freude, die Altstadt wieder so lebendig zu sehen.» Angst, dass sie gentrifiziert wird und die Mieten in die Höhe schiessen, hat er nicht. «Das wird hier nicht passieren. Das ist Biel!»