Die Felsenküche
Am Anfang war ein Bergsturz: Vor 700 Jahren schob er riesige Felsplatten zu einem natürlichen Raum zusammen. Darin befindet sich heute das Grotto Sprüch. Ein besonderer Ort – in einer besonderen Region.
Veröffentlicht am 30. März 2009 - 19:15 Uhr
Nur Eingeweihte finden diesen Ort. In Ludiano am Eingang des Bleniotals hat man das Wegweiserchen an der Hauswand entdeckt und ist durch ein Labyrinth von Wegen, Häuschen und Rebbergen den Hang hinauf hierhergekurvt. Beim Wasserfall an der Bergflanke endet das Strässchen. Mächtige Felsbrocken türmen sich am Fuss der Felswand übereinander, dazwischen ein versteckter Eingang. Druiden könnten sich hier vor Jahrhunderten getroffen haben oder Kräuterweiblein, um sich am Wasserfall Geheimrezepte ins Ohr zu wispern. «1306 sind diese Felsen heruntergekommen», sagt Milena Rusconi, Wirtin des Grotto Sprüch, und weiht uns ins erste Geheimnis des Ortes ein. «Sehen Sie, hier ist die Inschrift.» Tatsächlich, im verwitterten Fels stehen kaum zu entziffern die Jahreszahl und mysteriöse Buchstaben, eingehauen von unbekannt, wie ein jahrhundertealtes «Sesam, öffne dich!».
Das Grotto Sprüch ist ein fensterloser Raum von fünf auf zehn Metern. Eine riesige Felsplatte aus rohem Gneis ruht auf mannshohen Felsbrocken. Die Wände dazwischen sind aus groben Steinen aufgemauert. «‹Sprüch› heisst im Dialekt: Unterschlupf unter einem Felsen», sagt Koch und Wirt Oliviero Rusconi. Seit Urzeiten hätten Hirten ihre Herden hier in Sicherheit gebracht, wenn ein Gewitter das Tal heimsuchte. Später sei am Wasserfall eine kleine Mühle gestanden und in einem Ofen im Fels das Brot fürs Dorf gebacken worden. Ein Restaurant sei der Sprüch erst seit etwa 1980, erzählt Oliviero. Ein Arbeiter des ehemaligen Stahlwerks Monteforno in Bodio habe die Idee gehabt und das Grotto in den Fels gebaut. Vor vier Jahren übernahmen Milena und Oliviero Rusconi das Lokal.
Kalbshaxen (Ossobuco)
von Oliviero Rusconi
Zutaten für vier Personen
4 Kalbshaxen in 2 Esslöffel Weissmehl wenden. 1 Zwiebel in feine Ringe schneiden, in 1 Esslöffel Olivenöl und 40 Gramm Butter kurz anbraten. Kalbshaxen beidseitig kurz in wenig Olivenöl anbraten und auf die Zwiebeln legen. Mit 1,5 Deziliter Weisswein ablöschen, fast gänzlich verdampfen lassen. Nach und nach mit 1 Liter heisser Fleischbouillon auffüllen. Mit Salz würzen. Das Ganze rund 90 Minuten zugedeckt auf kleinem Feuer schmoren lassen.
Innen ist es schlicht und stimmig. Ein Holzofen, eine Bank der Wand entlang, ein Dutzend Tische mit geflochtenen Stühlen, auf Gesimsen und in Nischen einige Zinnkrüge und Kupferpfannen. Aber nichts Aufgesetztes, kein Tessiner Ethnokitsch. Das Wirtepaar vertraut ganz der Magie des Ortes.
Auch beim Essen und Trinken sind sie Puristen. «Tutto nostrano», betont Milena, «alles einheimisch». Was sie auftischt, ist Blenio pur – ursprüngliche Zutaten und Kombinationen, die aus der Tradition gewachsen sind. Vier Stunden schmort der Rindsbraten in Rotwein und Pilzen, bis er ist, wie er sein soll: dunkel, zart und kräftig. Dazu reicht Milena in Rahm gebackene Tomaten oder Saisongemüse und ihre «Gnocchi fatti in casa» mit einem Kräuterbouquet, dessen Zusammensetzung sie hütet wie ein Druidengeheimnis.
Ossobuco bekommt man immer, ebenso Kalbsbraten und gekochte Tessiner Mortadella mit weissen Bohnen, im Sommer Leckerbissen vom Grill, und im Herbst Gitzi, Hirsch, Reh, manchmal Wildschwein. Mit besonderer Hingabe kocht Oliviero Risotto und die Polenta, die hier halbfest auf den Teller kommt, auf Wunsch mit Gorgonzola überbacken. Eine Entdeckung ist das alte lombardische Gericht «Trota in carpione», gebratene, mit Weinessig und Gemüse marinierte Forelle. Nichts ist gekünstelt, nichts auf hohe Gastronomie getrimmt. «Cucina casareccia» – im Sprüch kehrt man zurück zur Urform der häuslichen Küche. Eine gedruckte Karte gibt es nicht. Milena kommt an die Tische und erzählt, was gerade in ihren Töpfen köchelt.
Auch beim Wein gilt «tutto nostrano»: Es gibt unter anderem zwei Merlots aus Ludiano selbst und eine vor der Tür gewachsene Rarität aus der Ballonflasche: einen Bondola, Wein aus einer im Mittelalter hier heimischen und fast ausgestorbenen Rebe, die die Winzer wieder kultivieren, urwüchsig und rau wie das Tal.
Dass es im Bleniotal mitunter rau zu- und herging, erfährt man nach einem kurzen Marsch im Nachbardorf Semione. Dort am Taleingang liegt die mächtige Ruine Serravalle, die jedes Bubenherz höher schlagen lässt. Die Festung auf dem Felsrücken lag genau auf der Konfliktlinie der deutschen Kaiser und ihrer norditalienischen Gegner. Friedrich I. Barbarossa, für seine Eroberungspläne auf die Alpenübergänge angewiesen, stürmte 1176 die Burg und verlor sie wieder. Dann folgten mailandtreue Adlige – bis sich 1402 die Talleute erhoben, die Feudalherren erschlugen und den Mailänder Vorposten zerstörten. Umgekippte Mauern und Turmstümpfe zeugen noch heute von der Gewalt, mit der in dieser Zone Weltgeschichte stattfand.
Moderne Weltgeschichte wird derzeit gleich um die Ecke geschrieben. In Pollegio in der Leventina kann man hautnah erfahren, wie die Mineure den Gotthard-Basistunnel bauen. Auch dies ein besonderes Erlebnis für Buben und Väter, und auch hier geht es um das Ursprünglichste, was diese Region prägt: den Fels.
Adresse und Anreise
Grotto Sprüch, 6721 Ludiano TI, Telefon 091 870 10 60, www.grottospruch.ch
Anreise mit dem Auto: Von Biasca Richtung Lukmanierpass, bei Motto links nach Ludiano abbiegen, vom Dorfplatz rechts hinauf zum Dorfrand.
Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Ab Biasca mit dem Postauto nach Ludiano, Piazza Fiera, dann am besten nach dem Weg fragen.
Öffnungszeiten: täglich ausser montags, im Juli und August sieben Tage die Woche. Betriebsferien: Januar.
Das Bleniotal und die Leventina: beeindruckende Landschaften, urtümliche Bauwerke und der in Zukunft längste Tunnel der Welt.
In Pollegio bietet das Besuchszentrum der Alptransit (Bild) spannende Einblicke in den laufenden Bau des Gotthard-Basistunnels (www.alptransit.ch).
Bleniotal: In Semione steht die Ruine der Burg Serravalle (Bild). Lohnend ist auch ein Halt in Prugiasco; nach einem kurzen Fussmarsch erreicht man über dem Dorf die Kirche San Carlo, eine der schönsten romanischen Kirchen der Schweiz. In Lottigna steht der Palazzo del Pretorio, wo die Landvögte des Bleniotals residierten und heute das Museo di Blenio untergebracht ist (www.blenioturismo.ch).
In Giornico sollte man die romanische Kirche San Nicola (Bild) nicht auslassen. Lohnend ist auch das Talmuseum der Leventina in der reich mit Fresken verzierten Casa Stanga von 1589 (www.leventinaturismo.ch).
Biaschinaschlucht: Wer sich für moderne Bauten interessiert, bestaunt in der Biaschinaschlucht die Pylonen der Autobahn oder wandert entlang der 125-jährigen Geschichte der Gotthardbahn (www.gottardo-wanderweg.ch).