Aus dem Beobachter-Archiv
«Chömid Jungs! Möchid Jungs!»
Vereine verbinden, schaffen Rivalitäten – und halten die Schweiz im Kleinen zusammen. Der Beobachter war sechs Monate unterwegs mit dem FC Emmenbrücke.
Veröffentlicht am 12. Oktober 2017 - 08:00 Uhr,
aktualisiert am 12. Oktober 2017 - 16:09 Uhr
Prolog
Diese multimediale Webreportage ist Gewinnerin des Swiss Press Awards 2018 in der Kategorie «Online».
Intro – «Chömid Jungs! Möchid Jungs!»
Jeder Verein braucht eine wie Evelin Pilss. Die Stadionbeiz, ihr Reich, ist das Nervenzentrum des FC Emmenbrücke. Hier verteilt die 49-Jährige Lob nach Siegen und Trost nach Niederlagen. Und die Tenüs, die sie zuvor gewaschen hat. Die Evelin, die ist immer da für den FCE. Für die 300 aktiven Fussballer im Klub ist sie schlicht die «Mama».
Die Rolle der guten Seele ist in den 76’000 Vereinen, die es nach Schätzungen in unserem kleinen Land gibt, praktisch durchwegs besetzt. Genauso wie jene des präsidialen Strippenziehers, der exakten Buchhalterin oder des umtriebigen Veranstaltungschefs. Und da sind die Zugezogenen, die Unauffälligen, die Einsamen – Menschen, die sonst in den hinteren Reihen der Gesellschaft stehen, die in diesem Kreis aber mittendrin sind.
«Hier treffen sich Menschen, die das gleiche Hobby haben, die sich unter Umständen aber nicht mögen, weil sie ansonsten ganz unterschiedlich sind.»
Markus Freitag, Professor für Politische Soziologie
Dass Vereine für den sozialen Kitt in einer Gemeinde unverzichtbar sind, steht für Markus Freitag ausser Frage. Freitag ist Professor für Politische Soziologie an der Universität Bern und einer der wenigen hierzulande, der sich wissenschaftlich mit Vereinen befasst. «Hier treffen sich Menschen, die das gleiche Hobby haben, die sich unter Umständen aber nicht mögen, weil sie ansonsten ganz unterschiedlich sind», sagt er. «Im Umfeld des Vereins ist man jedoch gezwungen, sich auf das Gegenüber einzulassen und auch mal dessen Optik einzunehmen.» Der Perspektivwechsel helfe, andere Meinungen eher zu tolerieren. Und dies wiederum fördert die Bereitschaft, mehr füreinander da zu sein.
Wichtig dabei ist gemäss dem Politikwissenschaftler, dass Vereine keine flüchtigen Orte sind, sondern formalisierte Gefässe: feste Abläufe, Statuten, Hierarchien, Regelmässigkeit. Das sind Merkmale, die dem Zeitgeist der Individualität widersprechen. Doch: «Genau diese Verpflichtungen etablieren das Gesetz des Wiedersehens, welches die Integrationswirkung von Vereinen entscheidend unterstützt.»
Deren Strukturen bilden im Kleinen ab, wie die Schweiz als Ganzes funktioniert. Markus Freitag erwähnt insbesondere die Kultur, durch privates Engagement die Zivilgesellschaft mitzugestalten. Dieses Selbstverständnis, geprägt von den Einflussmöglichkeiten der direkten Demokratie, ist hier deutlich ausgeprägter als in anderen Ländern. Klar ist deshalb: Einer Schweiz ohne Vereine würde ein starkes Triebwerk fehlen.
Tatsächlich leisten die Vereine auf lokaler Ebene umfangreiche Aufgaben fürs Gemeinwohl, die sie dem Staat – in erster Linie ihren Standortgemeinden – ein Stück weit abnehmen. Im Vordergrund stehen dabei die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens im Dorf oder im Quartier, das Funktionieren des Milizsystems und die Integration von Ausländerinnen und Ausländern. Untersuchungen zufolge werden jährlich freiwillige Leistungen im Umfang von 750 Millionen Franken erbracht; so viel würde es kosten, wenn die entsprechenden Arbeiten bezahlt werden müssten.
Rund 76’000 Vereine gibt es in der Schweiz – rund 150 davon alleine in Emmen.
Allein in Emmen, wo der FC Emmenbrücke zu Hause ist, gibt es rund 150 Vereine. Die Gemeinde in der Agglomeration von Luzern hat 30’000 Einwohnerinnen und Einwohner, ein Drittel davon ausländische. Im populären und leicht zugänglichen Fussball ist Multikulti traditionell besonders ausgeprägt. Mehr als 300’000 Kinder und Erwachsene aus 183 verschiedenen Nationen spielen in der Schweiz in mehr als 1400 Vereinen Fussball. Der grösste Anteil kommt aus Portugal, gefolgt von Italien und Ex-Jugoslawien.
So ist auch die erste Mannschaft des FCE, die in der 3. Liga spielt, ein Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten. Dasselbe Bild im Nachwuchsbereich. Hier ist die integrative Hebelwirkung besonders gross – schliesslich betreten mit jedem neu eintretenden Junior auch dessen Eltern und Geschwister den Mikrokosmos des Vereins.
Es ist eine kleine Welt in der grossen, über die alle Gesprächspartner in den Wochen, in denen sie ein Team des Beobachters begleitet hat, irgendwann diesen Satz gesagt haben:
«Das hier, das ist wie eine Familie.»
Die da oben
König Fussball regiert in der Gemeinde Emmen zwischen der Autobahn A2 und dem Emmer Gemeindehochhaus. Zwei Vereine wetteifern auf diesem kleinen Flecken Schweiz um Siege und Talente, um Sponsorengelder und Ansehen. Südlich des Mooshüsliwalds trainiert der SC Emmen, die Weiss-Schwarzen. Nördlich des Hügels liegt das Revier des stolzen FC Emmenbrücke, der einst sogar in der NLB spielte. 23 Mannschaften, 4 Fussballplätze und das Gersag-Stadion nennen die Gelb-Schwarzen ihr Eigen. Der Chef auf dem Platz heisst Franco Gulli. Er ist 34 Jahre alt, Immobilienunternehmer und seit knapp sechs Jahren Vereinspräsident. Den FC Emmenbrücke führt Gulli ähnlich wie seine vier Firmen; als Familienbetrieb.
«Meine ganze Familie ist fussballverrückt. Bei uns zu Hause ging es nur um Fussball.»
Franco Gulli, Präsident
Wir sitzen am Besprechungstisch in seinem kleinen Büro im Emmer Industriegebiet. «Ich hatte schon als Kind den Wunsch, Präsident oder Profifussballer zu werden.» Die dicke Haut und die starke Nerven, die es als Präsident brauche, habe er. Er liebe das Amt, auch wenn es ihm die Zeit und den Schlaf raube: «Heute werde ich erst um 21 Uhr am Geburtstagsfest meiner Familie sein, das nun beginnt. Aber Fussball hat bei mir Priorität. Es ist mein Leben.» In die Ferien fährt Franco Gulli nur während der Spielpausen. Fast immer nach Molise in Süditalien, in die Heimat seiner Eltern.
Eveline Pilss, Franco Gulli und Luca Cipolla: Bitte beschreibt euren Verein...
«Ich bin ganz der Italiener. Den Schweizer Pass habe ich nicht, eine Einbürgerung ist für mich derzeit kein Thema», sagt Gulli, der in der Schweiz geboren ist, mit einer Schweizerin zusammenlebt und hier einen 13-jährigen Schweizer Sohn hat, der bei seiner Mutter wohnt.
Der Präsident investiert 20’000 bis 30’000 Franken pro Jahr in den Verein.
Es ist heiss an diesem Samstagnachmittag im Büro im 5. Stock. Technobässe wummen am nahen Reussufer. Franco Gulli tischt eine Flasche Mineral und Pappbecher auf. «Seit meinem 18. Geburtstag arbeite ich selbstständig.» Direkt nach seiner Sanitärlehre gründete Gulli eine erste Firma. Er handelte mit Wein, führte eine Pizzeria und ist nun mit seiner LaPrimaGroup im Immobilien- und Baubusiness tätig. «Hauptsächlich kaufen wir alte Liegenschaften, sanieren sie und verkaufen sie wieder.»
Einen Teil des Gewinns investiert der Clubpräsident in den FCE. 20’000 bis 30’000 Franken seien das pro Jahr. Das Geld soll helfen, das Mannschaftsmaterial zu erneuern und in die 2. Liga aufzusteigen. Mit einem neuen Clubhaus auf Gemeindeland will Gulli zudem frischen Wind in den Verein bringen. Die Verhandlungen mit den Behörden laufen. Doch weshalb tut sich Franco Gulli das zeitraubende Präsidentenamt überhaupt an? «Ich mache das gerne. Auch für die Jungen. Es ist besser wenn sie Fussball spielen, statt auf der Strasse nur Ghetto zu machen», antwortet der stolze Unternehmer.
Der Präsident sorgt für seine Leute. Spieler ohne Job stellte er auch schon temporär als Bauarbeiter an. Seinen Treuhänder machte er zum Club-Finanzchef. Und Ex-Trainer Sandro Waser arbeitet bei ihm als Buchhalter. Als sich Verein und Trainer im Juni trennten, kam es zu einem ungewöhnlichen Bürotermin: Geschäftsführer Gulli bat seinen Buchhalter an den Besprechungstisch und teilte ihm die Entlassung als Trainer mit. Buchhalter Waser nahm sich den Nachmittag frei, Trainer Waser verdaute seinen Rauswurf. Noch immer arbeitet er bei der LaPrimaGroup. «Das klappt gut. Wir trennen die Arbeit und den Fussball», sagt Gulli.
Nach dem Gespräch fahren wir ins Stadion Gersag an den Gönnerapéro, der kurz vor dem Heimspiel gegen den FC Horw startet. Gulli steuert seinen Wagen direkt vor das Stadion. Über seinem freigehaltenen Parkplatz steht: «Reserviert Presi».
Auf der Terrasse über der Clubbeiz gibt es Eichhof-Bier, Apéroplatten und ein Brot mit einer «Danke»-Aufschrift. Der Präsident scherzt mit den Geladenen, tastet bei Fussballern fremder Clubs ab, ob sie Wechselabsichten hegen und schaut sich das Spiel an. Zur Halbzeit verschwindet er in der Spieler-Garderobe seiner Mannschaft.
Finanzchef Colin Schnyder lehnt sich neben dem Apérotisch an die schattige Wand und trinkt Wasser. Sein Amt sieht man dem 27-Jährigen nicht an: «Als Franco Gulli mit dem Vorschlag kam, fand ich es eine geile Idee. Aber ich habe noch immer Respekt vor der Aufgabe im Vorstand.» Schnyder arbeitet als selbständiger Treuhänder für Gullis Firmengruppe und hatte bis vor einem Jahr mit dem FC Emmenbrücke nichts am Hut.
«Die Trikots haben gerochen wie Pilzrisotto.»
Colin Schnyder, Finanzchef
Doch der FCE-Präsident konnte ihn heftig begeistern, wie Schnyders Agenda beweist: Am Montag war Pfingstturnier, am Dienstag dauerte eine kontroverse Diskussion im Vorstand bis 23:30 Uhr, am Mittwoch tagte das Gremium erneut, am Donnerstag war Schnyder im Training des 2. Teams und vor dem Gönnerapéro sass er mit vier anderen Spielern im Mannschaftsrat zusammen. «Das ist zum Glück nicht immer so», sagt der FCE-Stammspieler in der 5. Liga. Als aktiver Fussballer bringt der Luzerner Treuhänder auch Spielerthemen im zehnköpfigen Vorstand ein. Etwa wenn die gewaschenen Trikots feucht verpackt worden sind und «gerochen haben wie ein Pilzrisotto».
Es ist heiss auf der Terrasse neben der Zuschauertribüne. Die wenigen Gönner, die an den Apéro gekommen sind, verdrücken sich in den Schatten. Auf dem Rasen verpasst die erste Mannschaft dem FC Horw eine Niederlage. Colin Schnyder kommt ins Plaudern und nennt ein paar Zahlen aus der Clubbuchhaltung. Später zieht er seine Aussagen zurück. Als Erkenntnis bleibt, dass das Pfingstturnier mit 50 Mannschaften einen schönen Gewinn abwirft.
Anruf in den sechsten Stock des Emmer Gemeindehochhauses. Die Direktionssekretärin verbindet. «Ja, Dickerhof», grüsst der Mann, der den FCE einst aus der Krise geholt hat. Klar gebe er Auskunft zum FC Emmenbrücke. Aber nur in seiner Rolle als Ehrenpräsident, nicht als Finanzdirektor der Gemeinde Emmen. Im Gemeinderat trete er immer in den Ausstand, wenn es um den FCE gehe. «Das muss sauber ablaufen. Sonst heisst es noch, das neue Clubhaus steht nur wegen dem Dickerhof auf Gemeindeland.»
«Dass nicht alle Freude haben und es in der Mannschaft rumpelt, gehört dazu. Doch als Präsident braucht man Leute, die mitziehen.»
Urs Dickerhof, Ehrenpräsident
Urs Dickerhof macht klare Ansagen. Er ist Gemeinderat, höchster Innerschweizer Fussballfunktionär und SVP-Kantonsrat. «Ich verabscheue diese Formulierung. Aber ich bin ein Macher», sagt der Unternehmer mit 50 Angestellten. Man kennt Urs Dickerhof in Emmen. Und er kennt seine Gemeinde. Seit fast 40 Jahren wohnt er hier, zugezogen ist der Sohn eines Zürcher Filmregisseurs wegen des Fussballs. Er kam als Sportmasseur zum FC Emmenbrücke und wurde Clubpräsident. Daneben baute er ein Ausbildungszentrum für Masseure auf und startete eine Karriere als Lokalpolitiker.
«Der Fussballpräsident wird nicht automatisch Gemeinderat. Da ist die Mitarbeit im Gewerbeverband wichtiger. Vielleicht hat es aber geholfen», sagt er zu seinem direkten Wechsel vom FCE-Präsidentenstuhl in die Exekutive der Gemeinde mit 30’000 Einwohnern.
Das war vor 15 Jahren. Heute amtet der Ehrenpräsident bisweilen als Coach von Präsident Gulli. «Ich sage ihm, mit wem er noch Kontakt aufnehmen soll, um den Neubau des Clubhauses voranzubringen. Oder was helfen kann, den Aufstieg zu schaffen.» Erfahrung im Kampf am Tabellenstrich hat Dickerhof einige: Als er zum Präsidenten gewählt wurde, trat der gesamte Vereinsvorstand zurück bis auf eine Person.
Der Club stieg in die 3. Liga ab, ein Turnaround musste her. Das damalige Leben von Dickerhof klingt ähnlich wie jenes von Franco Gulli heute: Er lief aus Hochzeitsfeiern, um den Club zu managen. Er fuhr um 22 Uhr ins Stadion, um das Licht zu löschen. Seine Familie kam zu kurz. «Als Präsident ist deine Welt der Verein», fasst der 63-Jährige die damalige Zeit zusammen.
Der Emmenbrüggler Filz sorgt für den FC Emmenbrücke. Auf eine Art, die in der Agglomerationsgemeinde populär ist.
Der Aufstieg in die zweite Liga, der ihm gelang, wünscht er auch seinem Nachfolger Franco Gulli. Mit dem neuen Trainer setze er das richtige Zeichen, lobt er Gulli. Wechsel seien notwendig. «Dass nicht alle Freude haben und es in der Mannschaft rumpelt, gehört dazu.» Als Präsident brauche man Leute, die mitziehen. «Sonst kannst du den Aufstieg vergessen.»
Und es braucht Geld. Ehrenpräsident Dickerhof organisiert jährlich mindestens 25’000 Franken für den FCE. Unter seinem Präsidium treffen sich im Gönnerverein «Club 89» rund 50 Emmer Gewerbler und Unternehmer zu Businesslunches, einem Galaabend oder einem Fondueplausch mit Partnerin. Wer in diesem Networking-Verein dabei sein will, muss 600 bis 1000 Franken pro Jahr hinblättern. Rund zwei Drittel davon gehen an den Fussballverein. «Wir funktionieren nicht wie der Rotary- oder Lions-Club, aber es geht genauso ums Netzwerken», sagt Dickerhof.
Der Emmenbrüggler Filz sorgt also für den FC Emmenbrücke. Auf eine Art, die in der Agglomerationsgemeinde populär ist. Der Fussballrivale SC Emmen, kurz SCE, wendet im Kampf um Gratis-Baurechte und Gemeindebeiträge dieselbe Taktik an: Der ehemalige SCE-Clubpräsident sitzt ebenfalls im Emmer Gemeinderat. Er ist ebenfalls Kantonsrat, ebenfalls Club-Ehrenpräsident und ebenfalls Chef der Gönnervereinigung.
Die Unterschiede: FDP-Mann Rolf Born ist nicht Selfmade-Unternehmer, sondern Rechtsanwalt und Oberst. Er ist nicht Gemeinderat, sondern Gemeinderatspräsident. Und sein Verein spielt nicht mehr in der 3. Liga, sondern in der 2. Liga regional. Kurz: Der einstige Underdog-Club SCE hat dem traditionsreichen FCE knapp den Rang abgelaufen – auf dem Rasen wie in der Politik.
Geht Franco Gullis Plan auf, soll damit spätestens 2021 Schluss sein. Einen Teil des verblichenen NLB-Glamours will er in den nächsten vier Jahren zurückholen. Dann feiert der FCE seinen hundertsten Geburtstag, am liebsten in der 1. Liga. Und dann beantragt Gulli vielleicht doch noch die Einbürgerung in der Schweiz. «In die Politik zu gehen, könnte ich mir vorstellen», sagt Gulli. Erfolgreiche Vorbilder hätte er genug.
Die da unten
Sein erstes Wort war «Ball», sagen seine Eltern. Nur logisch, dass der 6-jährige Jonas heute Fussball spielt. Er ist G-Junior beim FC Emmenbrücke. G-Junioren sind die Jüngsten, die 4- bis 6-Jährigen. Anderenorts werden sie auch Pampers oder Piccolos genannt.
Jonas ist aufgeregt, der Erstklässler bestreitet sein erstes Turnier. Seinen gelb-schwarz gestreiften Vereinsdress findet er «mega cool». Er hat sich viel vorgenommen: fünf Goals will er schiessen. Obwohl ihm seine Nockenschuhe etwas zu eng sind, schafft er das an diesem Vormittag anfangs September in Rothenburg tatsächlich: fünf Treffer.
Der Blondschopf ist dem Lockstoff gefolgt, den der FC Emmenbrücke im Frühling in der Ausschreibung seiner Schnuppertrainings platziert hat: «Möchtest du auch einmal vor einem riesigen Publikum einen Fussballmatch bestreiten?» Ein Fussballverein ist ein Ort, wo in kleinen Köpfen grosse Träume heranwachsen, und auch der FCE spielt auf dieser Klaviatur.
Über 60‘000 Fünf- bis Zehnjährige jagen jedes Wochenende auf Schweizer Fussballplätzen dem Ball nach. Wären sie selber das «riesige Publikum», das ihre Träume befeuert, würden sie das Stade de Suisse doppelt füllen.
Mehr als 60‘000 Fünf- bis Zehnjährige jagen jedes Wochenende auf Schweizer Fussballplätzen dem Ball nach.
Wenn sich Kinder für einen Sport im Verein entscheiden, liegt der Fussball meilenweit voraus. Bei den Buben wählt ihn fast jeder Zweite, die Mädchen holen stark auf. Das hat viel zu tun mit der leichten Zugänglichkeit. Mehr als 1400 Fussballvereine gibt es in der Schweiz, fast jedes Dorf hat seinen eigenen Klub, die Ausrüstung ist günstig. Ebenso die Mitgliedschaft: für eine Stunde Betreuung im FC bezahlen Eltern im Schnitt deutlich weniger als einen Franken. Auch deshalb ist der Anteil an Kindern aus Migrationsfamilien überdurchschnittlich. «Fussballvereine sind in grösseren Gemeinden die wichtigste Freizeitorganisation für Kinder und Jugendliche», so ein Fazit der Vereinsbefragung des Schweizerischen Fussballverbands von 2011.
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Die enorme Nachfrage bringt viele Klubs an die Belastungsgrenze, es mangelt an Plätzen und Trainern. Der FCE mit seinen 15 Juniorenteams, davon allein neun in den Kinderfussballstufen G bis E, hält trotzdem an seiner Philosophie fest, möglichst niemanden abzuweisen. «Kinder, die bei uns Fussball spielen möchten, sollen das auch tun können», sagt Vize-Juniorenobmann Marcel Lehmann. Umgekehrt ist der Verein auf stetige Blutauffrischung angewiesen – der Nachwuchsbereich ist der Sockel, auf dem alles steht.
Rückblende zu einem sonnigen Nachmittag im Mai: In der «Kids-Fussballschule» sollen Buben und Mädchen zunächst herausfinden, ob das, was sie vom Fernsehen her kennen, etwas für sie wäre. Das Leibchen über Marcel Lehmanns Bauch spannt sich beträchtlich, der 46-Jährige ist buchstäblich Leib und Seele des Emmenbrücker Kinderfussballs. Jetzt steht er im Stadion Gersag neben der Tribüne und verteilt gelbe Shirts an die etwa 50 Buben und Mädchen, die sich für die Schnuppertrainings angemeldet haben. Ein aufgeregter Haufen, bereit, loszulegen. Dann endlich das Signal vom Spielfeld: «Chömid!» Jonas Rapedius, dem der neue Dress fast bis zu den Knien reicht, gehört zu den Ersten, die im Mittelkreis ankommen. Genauso die sechsjährige Pamela Barcenas, Pippi-Langstrumpf-Zöpfe, Zahnlücke. Zwei, die es wissen wollen.
Josh Tunca, der Technische Leiter des Vereins, hat sechs Übungsfelder aufgebaut, auf denen die Novizen an wichtige Aspekte des Spiels herangeführt werden – Passen, Schiessen, Ballführung. Tunca ruft Anweisungen auf Fussballdeutsch: «Breiter spielen!» Sechsjährige müssen das noch nicht verstehen. Sie werden magisch durch den Ball angezogen – wo er ist, rennen sie hin. Marcel Lehmann, neben Vereinsfunktionär auch Vater kickender Junioren, wird es ob dieser ungebändigten Spielfreude warm uns Herz: «Das sind die Momente, in denen du weisst, weshalb du die ganze Arbeit auf dich nimmst.»
Als Ergebnis der Schnuppertrainings hat der FC Emmenbrücke schliesslich 25 neue Juniorinnen und Junioren aufgenommen. Mit jedem Kind, das sich dem Fussball verschreibt, betreten auch seine Eltern den Mikrokosmos des Vereins. Sie werden Chauffeure sein und sich die Füsse abfrieren auf matschigen Wiesen. Und sie sind die Motivationstrainer im Hintergrund, je nach Sichtweise: Begleiter oder Antreiber ihrer Kinder.
Karin Barcenas, die südamerikanische Mutter von Pippi-Langstrumpf-Pamela, geht das Fussballprojekt pragmatisch an, gänzlich ohne sportliche Erwartungen: «Ob Pamela talentiert ist? Keine Ahnung. Mir ist nur wichtig, dass sie Spass hat.»
Mit mehr Ambitionen steht Martin Rapedius am Spielfeldrand, wenn der Sohnemann am Ball ist. «Ausgeprägte Schusstechnik, laufstark», analysiert der 41-Jährige Jonas’ fussballerischen Vorzüge. «Doch, doch, ich bin schon ein ehrgeiziger Fussballervater», räumt der frühere Handballer ein. «Jonas soll sich hohe Ziele setzen und immer etwas mehr tun als das, was gerade von ihm verlangt wird.» Weil die Familie mit Jonas’ älterem Bruder bereits einen Junior beim FCE im Einsatz hat, weiss der Vater auch, wie er als Zuschauer ist: «Alles ausser ruhig.»
Laute Eltern, das kennt Lisa Bushaj gut. Die 26-Jährige, selber aktive Fussballerin, ist seit vier Jahren Trainerin beim FCE. Sie hat das C+-Diplom, dürfte damit zum Beispiel Damenteams in der 1. Liga betreuen. Bushaj redet gern, schnell und viel. Sie kann sich durchsetzen – auf dem Platz wie auch gegenüber überengagierten Eltern.
Beim FCE trainiert Bushaj meist die Fc- oder Fd-Junioren, die etwas schwächeren Spieler und Spielerinnen zwischen 7 und 9 Jahren. «Ich übernehme die Küken, mache aus ihnen gute Spieler und muss sie dann wieder abgeben», lacht sie und schüttelt ihre langen Locken. Sie bezeichnet sich selber als strenge Trainerin, Disziplin und Selbständigkeit sind ihr wichtig. «Am Anfang muss ich oft hart durchgreifen, danach gibt es dann kaum noch Probleme.» Duschen nach dem Training beispielsweise ist bei ihr obligatorisch, «da gibt es keine Ausnahme». Auch wenn sich manche Spieler und Eltern damit schwer täten.
Seit zwei Jahren ist der neunjährige Nikola bei ihr in der Mannschaft, der Bruder des torgefährlichen Neufussballers Jonas. Dieser stand bei den Trainings seines Bruders oft am Spielfeldrand, stets einen Ball am Fuss. Lisa Bushaj weiss deshalb: «Der Kleine hat ein super Ballgefühl.»
Die junge Kosovarin lebt seit ihrer Geburt in Emmenbrücke, Fussball ist ihr Leben, seit sie denken kann. Eigentlich hätte sie Gitarre spielen lernen sollen, aber beim Unterricht guckte sie immer aus dem Fenster, von wo aus sie einen guten Blick auf den Fussballplatz hatte. Irgendwann tauschte sie das Instrument gegen Nockenschuhe. Und schaute sich jeden Match des französischen Stars Zinédine Zidane am TV an. Seit er zurückgetreten ist, konzentriert sie sich auf den FC Liverpool, ihren Lieblingsverein.
Lisa Bushaj sagt, dass die neuen Junioren anfänglich fast etwas Angst vor ihr hätten. Sie lächelt:
«Als Frau in einem von Männern dominierten Sport muss man halt auch mal laut werden und zeigen, wer das Sagen hat.»
Lisa Bushaj, Juniorentrainerin
Sobald die Kinder aber sehen, wie weit sie einen Pass schlagen könne, gehe es dann tipptopp. «Wir sind schliesslich kein Hort. Im Training wird gearbeitet, nicht geblödelt.» Sie sei ein Vorbild für die Kleinen, sowohl als Trainerin wie auch als Erzieherin. «Mich sieht zum Beispiel nie ein Junior rauchen», sagt sie.
«Jeder Trainer will Erfolg haben», erklärt Bushaj, «da nehme ich mich nicht aus». Sie sei ein ehrgeiziger Mensch und gebe alles, um ihre Ziele zu erreichen. Manchmal geht es dann auch hart zu und her. Zum Beispiel, wenn sie ein Kind ausschliessen muss, weil dessen Vater unflätig war und sie als Trainerin nicht anerkennt. «Bei solchen Auseinandersetzungen geht es oft unter die Gürtellinie – das akzeptiere ich nicht.» Die Eltern seien zum Teil «schon ein Problem», seufzt sie.
Alle wissen: Ohne die Eltern funktioniert der Juniorenfussball nicht – mit ihnen manchmal allerdings auch nicht.
Überambitionierte Eltern, die Unterstützung mit Einmischung verwechseln, sind mit ein Grund dafür, dass sich nur schwer genügend Freiwillige als Betreuer finden lassen. In den Trainerkursen des Verbands ist der Umgang mit den Spielereltern ein fester Bestandteil, und wenn es zu diesem Ausbildungspunkt kommt, geht ein Raunen durch die Reihen der lernenden Coaches. Alle wissen: Ohne die Eltern funktioniert der Juniorenfussball nicht – mit ihnen manchmal allerdings auch nicht. Väter, die mit hochrotem Kopf taktische Anweisungen aufs Feld brüllen, Mütter ausser Rand und Band, die wahlweise ihren eigenen Buben, dessen Gegenspieler oder den Schiedsrichter zusammenstauchen. Jeder Trainer kennt ein Müsterchen.
Um Spieler und Betreuer besser vor verbalen Entgleisungen oder gar körperlichen Angriffen zu schützen, hat der Innerschweizer Fussballverband (IFV) mit Sitz in Emmenbrücke vor zwei Saisons prononcierte Massnahmen für den Kinderfussball eingeführt. «Eltern weg vom Spielfeldrand» heisst die Kampagne, die von anderen Regionalverbänden übernommen wurde. Indem Mütter und Väter in reservierte Zonen gestellt werden, soll ein «emotionaler Wohlfühlabstand» entstehen, so Urs Dickenmann, IFV-Präsident und zugleich graue Eminenz beim FC Emmenbrücke. Die Benimmregeln sind – halb ironisch, halb ernst gemeint – auch auf Plakaten sichtbar:
- Das sind Kinder.
- Das ist ein Spiel.
- Die Trainer machen das als Hobby.
- Der Schiri ist auch ein Mensch.
Mitte Juni, Stadion Gersag. Bei der «Kids-Fussballschule» braucht es keinen künstlichen Wohlfühlabstand. Die Kinder und ihre Trainer sind auf dem Platz unter sich, die Väter und Mütter gucken in sicherer Entfernung von der Tribüne aus zu. Die Schule ist dazu da, die Zeit vom Klubeintritt im Mai bis zum Saisonstart Ende August zu überbrücken. Die Kinder spielen in gelben T-Shirts mit der Aufschrift «Joshinio», eine Anspielung auf Josh Tunca, den technischen Leiter.
Die Kinder dribbeln, schiessen, lachen und rennen auf dem Platz umher, die Stimmung ist heiter. Unter den vielen Jungs sind auch sechs Mädchen dabei. Richtig gut spielt die bald siebenjährige Pamela, ihre Zöpfe wirbeln beim Sprinten in der Luft herum. Sie hat Biss, nimmt auch mal einem grösseren Buben den Ball ab.
Vielleicht hat der Papa sein Fussballinteresse auf seine Tochter übertragen, er ist Real Madrid-Fan.
Pamela möchte am liebsten Goalie werden: «Dann muss ich weniger rennen.» Sagts und schlägt einen Haken. Ihre Mutter stammt aus Guatemala, der Vater aus dem spanischen Galizien. Vielleicht hat der Papa sein Fussballinteresse auf seine Tochter übertragen, er ist Real Madrid-Fan. Er hätte jedenfalls lieber einen Sohn gehabt, erzählt die Mutter lächelnd. Dass seine Tochter nun Fussball spielt, fände er aber «richtig gut». Pamela tschuttet auch daheim in jeder freien Minute. Drinnen wie draussen. «Sie macht alles kaputt», klagt die Mutter. Es sei gut für sie, nun einmal geordnet in einem Verein zu spielen. «Sie ist zu Hause wild und unruhig, sie muss Energie abbauen.»
Auch Jonas fällt auf dem Platz auf. Die Einschätzungen von Vater und Trainerin bestätigen sich: für sein Alter ist er schon sehr sicher am Ball und hat einen harten Schuss. «Und ich renne gern», sagt er vergnügt. Seine Vorbilder spielen bei Bayern München, die findet der Vater auch gut. Im Stadion verfolgen sie den FC Luzern. Luisa Rapedius, die Mutter, ist Süditalienerin, aber in der Schweiz aufgewachsen. «Wir sind hier in Emmenbrücke verwurzelt», sagt sie. Ihr gefällt die Kultur des FCE, die soziale Mischung und dass jedes Kind mitspielen darf, egal wie gut es ist.
In der Sommerpause verlagert sich beim FCE die Aktivität vom Rasen in den Hintergrund. Die Mannschaftseinteilungen werden vorbereitet, gerade bei den jüngeren Kindern nicht immer eine einfache Sache. Nach den Ferien steht fest: Jonas wird bei den G-Junioren spielen, die gross gewachsene Pamela ist ins Team Fc eingeteilt.
Ein erster Wunsch in der Traumwelt des Fussballvereins hat sich erfüllt. Jonas ist jetzt Fussballer.
Am 10. September 2017 ist es so weit: der allererste richtige Match – ein Höhepunkt im Leben jeden Fussballkindes. Beim Turnier in Rothenburg regnet es ein wenig, der Himmel ist düster, es ist kühl. Doch die Kinder in ihren Regenjacken über dem Vereinsdress sind gut gelaunt – und nervös. Offiziell ist das Gewinnen bei den Kleinsten nicht so wichtig, inoffiziell aber natürlich sehr wohl, wie Jonas mit der Verkündung seiner 5-Tore-Zielsetzung unterstreicht.
Pamela Barcenas ist nicht dabei. Die Fussballschule vor den Ferien hat ihr gut gefallen, in der neuen Mannschaft fühlt sie sich aber nicht wohl, weil es dort keine anderen Mädchen hat. Deshalb will sie nicht mehr Fussball spielen. Vize-Juniorenobmann Marcel Lehmann versucht, eine andere Mannschaft für sie zu finden. «Pamela spielt stark, wir wollen sie nicht verlieren», sagt er. Lehmann kümmert sich um seine Schützlinge – er ist der «Papa für alle» beim FCE.
Im ersten Turnierspiel gegen den FC Sursee trifft Jonas noch nicht. Er ist aber voller Eifer dabei, spielt sich immer wieder frei. Gegen Kriens, Littau und Sempach ist er dann erfolgreich. Ein erster Wunsch in der Traumwelt des Fussballvereins hat sich erfüllt. Jonas ist jetzt Fussballer. Und Pamela hoffentlich auch bald wieder.
Die 1. Mannschaft
Heute geht es um alles.
«Chömid, Jungs! Möchid, Jungs!», brüllt Sandro Waser. Seine Spieler dürfen nicht verlieren. Sonst bleibt sein Team, der FC Emmenbrücke, eine weitere Saison in der tristen dritten Liga stecken.
Die Urner ziehen johlend über ihren Sportplatz, vorneweg haut einer auf die Pauke, hinter ihm kriecht die Polonaise, Bier schwappt auf Feld und Rücken.
Es ist der 27. Mai, ein Samstagabend in Schattdorf im Urnerland. Die Urner in Schwarzrot, die Emmer in Gelbschwarz. Sie kämpfen. «Fürä, fürä!» Sie schummeln. «Schwalbe!» Sie schimpfen. «Huere Siech!» Sie spucken auf den Rasen ihres Gegners. Es hilft nichts.
Die Urner gewinnen 2:0 gegen die Emmer. Der Traum vom Aufstieg ist vorüber. Die Urner ziehen johlend über ihren Sportplatz, vorneweg haut einer auf die Pauke, hinter ihm kriecht die Polonaise, Bier schwappt auf Feld und Rücken. «Flasche leer», gibt ein Spieler des FCE knapp zu Protokoll. Und dreissig Häuflein Elend sitzen im Car zurück nach Emmenbrücke, vorne der «Presi» Franco Gulli. Er hatte den Car organisiert. Zur Siegesfahrt. Eigentlich.
Die Saison war hart. Manchen Spielern ist die Lust am ständigen Training vergangen. «Es ist doch nur ein Hobby», sagt einer. Meist sass er auf der Reservebank.
Der Spielbericht, der am nächsten Tag auf der Website des FCE veröffentlicht wird, besteht aus zwei Sätzen:
«Es hat nicht sollen sein: Der dezimierte FCE kämpfte in Schattdorf unglücklich. Erspielt sich zu wenig gefährliche Aktionen und muss am Ende den Urnern gratulieren.»
Matchbericht auf der FCE-Homepage
Das Heimspiel hatten die Emmer noch 3:1 gewonnen.
Der FC Emmenbrücke ist ein Traditionsverein, der schon bessere Zeiten gesehen hat: Fünf Jahre lang spielte der Klub in der Nationalliga B. Seit 2010 führt der Weg nach unten: Abstieg in die 2. Liga interregional; 2014 Abstieg in die 2. Liga regional; seit 2015 spielt die beste Mannschaft des FCE in der 3. Liga.
Es müssen Köpfe rollen. Am 12. Juni, einen Tag nach dem letzten Saisonheimspiel gegen Horw (3:1), verkündet der Vorstand des Klubs in einer Pressemitteilung: «Der FC Emmenbrücke und Sandro Waser gehen getrennte Wege». Die engen Vereinsfreunde von Trainer Waser möchten sich damit nicht abfinden und drohen: «Wenn er geht, dann gehen wir auch!»
Wieder Samstag. Es ist der 3. September, der Sommer scheint weit weg, es ist herbstlich nass und kalt. Der verpatzte Aufstieg liegt drei Monate zurück.
Vor dem Heimspiel gegen Lokalgegner SC Kriens sammeln sich die treuen Fans in der Beiz bei Evelin. Das Vereinsheim des FC Emmenbrücke gleicht einem Heimatkundemuseum. Alle grossen Erfolge seit 1921 sind in einer Vitrine hinter Glas mit goldenen und silbernen Pokalen auf steinernen Füssen festgehalten. In der Ecke erinnert ein schwarzgerahmtes Foto an einen jungen Spieler, der Selbstmord beging. Am Fernsehen läuft Formel 1, später Bundesliga. Über der Fensterfront hängt der gelb-schwarze Fanschal, darin eingewebt: «You’ll never walk alone.»
«You’ll never walk alone» – die berühmte Fussball-Hymne. Der «Kop», die legendäre Fantribüne des FC Liverpool, singt das Lied vor jedem Heimspiel. Auch hier im Gersag ist niemand allein. Die FCE-Fans, die sich bei Tee mit Rum in der Vereinsbeiz bei Evelin an der Theke aufwärmen, sagen: «Das hier, das ist Familie.»
Auch für Luca Cipolla ist der «FCE wie eine Familie». Der blonde 20-Jährige mit Bart spielt seit 2013 in der 1. Mannschaft. Er ist geblieben. Gut die Hälfte des Kaders hat sich anders entschieden. Nach dem Rauswurf von Trainer Waser hatte es gekracht wie bei bockigen Twens, die wütend das Haus verlassen und wo der Vater noch die Tür hinter ihnen zuschlägt. Wahrscheinlich wäre es einfacher, über Spielzüge zu reden als über Gefühle. Für Cipolla ist Emmenbrücke Heimat. Mit vier Jahren ist er hierher gekommen. Samt Mama aus Parma im Norden und Papa aus Kalabrien im Süden Italiens. «Beim Probetraining waren meine Eltern dabei – na, klar.» Seitdem gehört er zur Fussballfamilie.
Luca Cipolla, Franco Gulli und Evelin Pilss: Was macht den Verein zur Familie?
Nirgendwo treffen in der Schweiz so viele Nationalitäten aufeinander wie auf dem Fussballplatz. Die Integration läuft übers Leder. Auch in Emmenbrücke: Schweizer, Portugiesen, Kroaten, Italiener und Kosovaren. Sie studieren, sitzen im Büro oder schuften auf dem Bau. Sie amten als Gewerkschaftssekretär oder Chauffeur. Der Jüngste ist 16 Jahre alt, der Älteste 27. Sie sind single oder haben eine Freundin. Liebeskummer kennen sie alle.
«Man spricht deutsch», sagt Trainer Jean-Daniel «Dada» Gross. Der Neue. Er könnte mit seinem Diplom Super-League-Teams trainieren. Der 51-Jährige mit Dreitagebart ist der beste Trainer der Gegend, ein Profi. «Aufstieg – das ist das Ziel», sagt Gross. «Der Aufstieg. Das ist mein grösster Wunsch», sagt Cippo, so nennt ihn der neue Trainer.
Kurz vor Spielbeginn um 18 Uhr. Cipolla und seine Kollegen haben sich in der Kabine umgezogen. Im Gänsemarsch laufen die Jungs zu einem der weissen Container neben Evelins Beiz. Die Stollen der Fussballschuhe klackern auf dem nassen Asphalt.
Mit fettem Filzstift schreibt Gross die Aufstellung an die Wand: Dusko im Tor, Cippo, Eloy, Niki und David als Viererkette in der Abwehr, Egzon im Zentrum, flankiert von Mirset und Demko, Yvo, Robin und Mario im Sturm.
Es ist mucksmäuschenstill im Raum. Im Halbkreis sitzen die Jungs auf Holzstühlen. Gross zieht ein Herz um Eloy und Niki. Die Jungs lachen auf wie Schulbuben. «Ihr müsst ja nicht heiraten!», sagt Gross. «Aber Eloy, Niki – Ihr seid das Herz der Mannschaft heute.»
Die Matchvorbereitung der 1. Mannschaft aus der Ich-Perspektive.
Es sind keine Heiligen, die für den FCE auf den Platz auflaufen. Auf Gross hören sie. Cipolla sammelte eine Rekordzahl roter Karten. Ein «Hitzkopf wie Gennaro Gattuso», der ehemalige italienische Nationalspieler, der zwei Saisons in der Schweiz unter Vertrag stand, sei er gewesen. Eine Schwalbe oder ein Foul, wenn der Schiedsrichter wegschaut, ein Schubser, ein weggeschlagener Ball – das gehört zum Spiel. Und kann gleichwohl matchentscheidend sein. Der Innerschweizerische Fussballverband führt eine Fairplay-Liste. Liegen zwei Mannschaften am Ende einer Saison in der Tabelle gleich auf, dann rückt das Team nach vorne, das weniger Strafpunkte hat.
Bei Regenwetter sind rund 100 Zuschauer gekommen für das Spiel gegen Kriens. Die Mannschaft spielt, bis ihnen der Schweiss in den roten Gesichtern steht. Die Spieler scheuen keinen Zweikampf, selbst wenn ihnen längst alles weh tut. Einzig die Fussballerfrisuren mit Undercut und Tolle überstehen die 90 Minuten frisch. Endstand: 3:0. Der Trainer ist zufrieden. Der «Presi» Gulli ist zufrieden – für heute. Aus der Kabine wummert deutscher Hip Hop.
Was soll der FC Emmenbrücke sein? Familiärer Chaos-Klub? Oder doch ein durchorganisierter Retorten-Verein, ähnlich strukturiert wie Hoffenheim oder RB Leipzig, die das Fussballmagazin «11 Freunde» als «ultramoderne, etwas seelenlosen Bundesligaklubs» beschreibt? Für Gross ist klar: «Der FCE muss eine Mannschaft sein, die an einem Strang zieht.»
Amateurfussball ist meist ein ehrlicher Sport. Die Assistenztrainer sind gleich auch die Linienrichter.
Amateurfussball ist meist ein ehrlicher Sport. Die Assistenztrainer sind gleich auch die Linienrichter. Das bisschen Kohle, das die Spieler bekommen, stecken sie wieder in ihren Verein. Es ist nie genug Geld in der Kasse. Niemand braucht Helene Fischer, die in der Pause im Glitzerfummel singt.
«You’ll never walk alone» steht in eisernen Lettern über dem Eingang des Anfield-Stadions, der Heimat des FC Liverpool. In Emmenbrücke zieren Trumps Wahlkampfaufkleber «Make America great again» ein paar der gelb-schwarzen Schalensitze auf der Gersag-Tribüne. Einige der Aufkleber sind schon wieder halb weggekratzt, trotzdem ist für Gulli klar: «Make Emmenbrücke great again.»
Fussnote: Der FCE spielt auch diese Saison wieder um den Aufstieg mit, der Saisonstart verlief ziemlich gut. Alle Informationen zur 3.-Liga-Gruppe mit den Emmenbrügglern gibt es hier: Resultate und Tabelle
Die gute Seele
Sie wollte nie auf dem Fussballplatz landen. Nicht ihre Welt, kein Interesse. Was «Offside» ist, weiss sie noch heute nicht. Doch Evelin Pilss hat einen Sohn, Sandro. Und Jungs mögen Fussball eben.
«Als Sandro vor 14 Jahren beim SC Emmen spielen wollte, habe ich mir geschworen, keine dieser Fussball-Mütter zu werden. Jedes Wochenende am Spielfeldrand? Nein, nicht ich.» Kurze Zeit danach stand sie am Spielfeldrand. Jedes Wochenende. Und begann sogar, in der Clubbeiz zu arbeiten. Evelin Pilss hatte sich verliebt – in die frühen und die späten Stunden, wenn der Fussballplatz nur ihr gehört. In die Gespräche mit den Eltern, Spielerfrauen und Fans.
Vor rund sechs Jahren – «nach einer Umstrukturierung» – gefiel es ihr beim SC Emmen nicht mehr, doch das nächste Angebot liess nicht lange auf sich warten. Jeder Verein braucht eine wie Evelin. Und Evelin braucht einen Verein. Also zog es sie auf die andere Seite des Mooshüsliwaldes zum FC Emmenbrücke.
Evelin Pilss, Franco Gulli und Luca Cipolla: Warum ist der SC Emmen Erzrivale?
Dort wurde die Beizerin zur guten Seele des Vereins. Von frühmorgens bis spätabends wäscht sie Trikots, putzt Garderoben, kauft Lebensmittel, schleppt Bierkisten, motiviert die Männer, schwatzt mit Müttern und hütet Kinder.
«Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin der Mittelpunkt des Vereins.»
Evelin Pilss, gute Seele des Vereins
Für ein Gespräch setzt sie sich auf die Tribüne am Spielfeldrand. Mitten ins nasse Moos, trotz rosa Kleid und weissen Leggings. «Kann man waschen. Ich weiss ja, wie’s geht», winkt sie ab. Der Arbeitstag beginnt, sobald Evelin Pilss das Frühstück für ihren Mann und die drei Kinder bereitgestellt hat. Dann schnappt sie ihren deutschen Boxer Jack und macht sich auf den Weg zur zweiten Familie. Diese besteht aus rund 300 Männern und Kindern, die alle hungrig sind und laufend dreckige Wäsche produzieren. Ganz wie zu Hause.
Die Spieler müssen nicht einmal die Trainingskleider selber waschen – das traut sie nur sich selbst zu.
Tatsächlich riecht es streng, als Evelin Pilss den kleinen Waschraum unterhalb der Tribüne betritt. Sie hat sich daran gewöhnt. «Hier ist mein Reich», erklärt sie stolz, «zwischen Schweiss und Dreck». Hilfe braucht sie hier unten nicht, jeder andere würde das System nur durcheinanderbringen. Auf einem Haufen liegen Trainingsmaterial, Matchdresses, Einlaufleibchen, Socken und Shorts. Evelin Pilss kümmert sich um die Wäsche der A-, B- und C-Junioren, der 1. sowie 2. Mannschaft, der 5. Liga und der Senioren. «Je älter die Spieler, desto schlimmer der Gestank», grinst die Luzernerin. «Da reicht eine reine Sportwäsche nicht aus, man muss dringend vorwaschen!» Die Spieler müssen nicht einmal die Trainingskleider selber waschen – das traut sie nur sich selbst zu.
Nach dem Waschen ist vor dem Packen: Wenn die Fussballer auswärts spielen, müssen sie ihre Ausrüstung griffbereit haben, ordentlich verstaut in der Fussballtasche. «Wenn etwas fehlt, rufe ich sofort den Trainer an, das ist ein Notfall! Der soll sich darum kümmern.»
Die Fussballer – ob klein oder gross – nennen Evelin Mama. «Das rufen sie dann über den ganzen Platz, da gahsch abe!», lacht sie. «Ich muess da lose, ich muess det lose. Jeder braucht seine Minute Aufmerksamkeit.» Das geht schon so weit, dass ihre eigenen Kinder nicht mehr mit Evelin ins Einkaufszentrum oder die Badi wollten – zu mühsam, denn irgendeiner kennt sie immer. Sandro ist inzwischen volljährig, Evelin steht nur noch selten am Spielfeldrand. «Irgendwann kommt die Zeit, in der Mütter peinlich sind. Doch auch das geht vorbei», weiss sie. Da sind ja noch genügend andere kleine und erwachsene Kinder, die sie bemuttern kann.
Auf dem Fussballplatz kommt die Kioskfrau mit ganz Emmenbrücke in Kontakt. Die Mütter lieben Evelin. Weil sie gerne mal eine Stunde zu den Kindern schaut, wenn Einkäufe erledigt werden müssen. Weil sie Pflaster bereithält, Eisbeutel holt, tröstet und die 144 wählt, wenn es sein muss. Weil sie Süssigkeiten auch dann herausgibt, wenn ein paar Rappen fehlen. Weil sie Kinder nach Hause schickt, wenn es spät wird oder stürmt. Halb Emmenbrücke hat Evelins Nummer – für grössere Notfälle und für kleinere. «Muesch endli mal mit üs an Balkan abecho», ruft die Mutter eines Kindes.
Doch wie soll Evelin den Fussballplatz verlassen? Im Herbst hat sie eine Woche «Hundeferien» mit Boxer Jack, ihrer Tochter und dem Mann gebucht – nicht ohne schlechtes Gewissen: «Genau dann, wenn ich mal weg bin, ist wieder am meisten los!»
Luca Cipolla, Franco Gulli und Evelin Pilss: Wo habt ihr eure Wurzeln?
Auch die Männer mögen Evelin. Weil sie bellend lacht und Sprüche reisst. Weil sie beim Quasseln zwar nicht immer merkt, auf welcher Seite die Tore gefallen sind, die Fussballer aber stets motiviert. So gab es zum Beispiel eine Mannschaft, die immer wieder verlor. «Alle hat’s genervt, ausser mich. Da hab ich dem Trainer gesagt, hey, ich zeige dir jetzt mal, wie Fussball funktioniert.» Evelin Pilss versprach den Spielern, bei einem Sieg Hotdogs zu spendieren. Bei fünf gewonnenen Matches in Folge gabs Schnitzelbrot. «Du, die haben alle Matches gewonnen. Das sollte man ja eigentlich nicht machen, aber das war damals das Highlight der Saison.»
«Käferli!!!!», ruft Evelin, als sie den U13-Trainer sieht. «Sali Müüüsli, häsch guet?», kommt es zurück. «Ich habe viele Schätze hier», verrät sie mit einem Zwinkern. Sexismus gibt es laut Evelin keinen, nie. Sie kann mit den Männern Sprüche reissen, sie aber auch «zusammenscheissen». Wer die 49-Jährige schon einmal böse erlebt hat, weiss, wanns genug ist.
Nach dem Einkauf am Mittag fährt Evelin für ein paar Stunden nach Hause. Am Nachmittag öffnet sie den Kiosk wieder. Da gibt’s Geheimsauce zum Schnitzelbrot, Hotdogs mit Schweinefleisch und Poulet für die Moslems, Hamburger und Rauchwürste. «Ich habe einen sensationellen Metzger, den ich sogar in der Nacht anrufen kann», versichert sie. Dasselbe gilt für die Bäckerei. Bier, Glace, Schnaps – was auch fehlt, Evelin treibt es auf. Ein Trainer trinkt nur Bügelbier? Der Trainer bekommt Bügelbier. Das 5.-Liga-Team will plötzlich sauren Most? Es kriegt ihn! «Vor kurzem hatten wir eine französische Mannschaft hier, da muss man auch daran denken, Weisswein aufzutreiben. Die freuen sich dann rüde herzig.»
Evelin bleibt, solange sie gebraucht wird. Manchmal bis tief in die Nacht. «Wenn jemand kurz vor Mitternacht noch ein Bier will, bekommt er es bei mir.»
Ob sie zu nett ist, hat sich Evelin Pilss nie gefragt.
«Der Vorstand sagt immer, ich lasse mir mal noch auf die Kappe scheissen.»
Evelin Pilss, gute Seele des Vereins
Aber Evelin hat ihre Männer im Griff. Nur einmal habe es ihr «den Deckel gelupft»: Eines Morgens war die Scheibe beim Kiosk eingeschlagen. «Lausbuben! Wir haben zuerst einfach nicht festgestellt, was gefehlt hat. Doch dann drehte ich mich um: Mars, Snickers – alle weg! Die Chips waren noch da.»
Bis heute weiss man nicht, wer es war. «Ausländer», hiess es hinter vorgehaltener Hand, aber Evelin winkt ab. «Solche Kommentare kommen meist von den Eltern, die Kinder haben nie ein Problem miteinander.» Auch sie selbst hat keine negativen Erfahrungen gemacht. «Ausländer sind manchmal vielleicht etwas impulsiver und lauter. Aber auch die Ersten, die mir beim Kistenschleppen helfen.»
Epilog
Diese Reportage wurde nur möglich dank der umfassenden Unterstützung des FC Emmenbrücke und allen Beteiligten. Ausserdem gebührt folgenden, im Text nicht erwähnten Personen ein spezieller Dank: Max Siegrist und Kurt Messmer, Chronisten von Emmen. Nathalie Aeschbacher und Damien Tomasini vom Schweizerischen Fussballverband SFV.
Das Team hinter der Geschichte
- Text: Dani Benz, Yves Demuth, Sylke Gruhnwald, Jasmine Helbling, Birthe Homann
- Bilder: Pascal Mora
- Bildredaktion: Mena Ferrari
- Video & Animation: Balz Ruchti, Jenny Keller, Karim Niazi
- Produktion & Grafiken: Reto Stauffacher
- Leitung: Matthias Pflume