Berufseinstieg
Wenn das Leben ernst wird
Umweg, Sackgasse, Abkürzung: Viele Wege führen ins Arbeitsleben. Wie sich ein wandelnder Arbeitsmarkt und Bedürfnisse nachrückender Generationen auf den Berufseinstieg auswirken – und welche Stolpersteine und Freiheiten den Weg säumen.
Veröffentlicht am 20. Juni 2019 - 14:27 Uhr
Berufseinstieg: Wenn das Leben ernst wird
«Es ist nicht einfach, sich für einen Beruf zu entscheiden, wenn man so viele Freiheiten hat», sagt Soziologe Peter Kels von der Hochschule Luzern. Tatsächlich ist die Arbeitswelt heute voller Möglichkeiten. Es gibt verschiedene Lebenswege und Ziele. Unzählige Ausbildungsmöglichkeiten. Umorientieren ist jederzeit möglich. Man muss sich nicht gleich festlegen und kann auch erst nach einer ausgedehnten Weltreise im Traumjob landen. Oder eine Abkürzung vorbei an der klassischen Ausbildung nehmen und ein Start-up gründen. Oder sich selbst verwirklichen und nur so viel arbeiten wie nötig ist, um das zu ermöglichen. Arbeit als Mittel zum Zweck.
Wunderbar, nicht? Ist der «Ernst des Lebens» plötzlich gar nicht so ernst?
Das kommt ganz darauf an, ob junge Menschen ihren Weg durchs Labyrinth finden. Denn zu viele Optionen können lähmen. Je nach Branche und Ausbildung ist er mit Stolpersteinen gesäumt – Praktika vor einer Lehre oder nach dem Studium sind weit verbreitet. Nicht selten grenzen solche Arbeitsverhältnisse und Extrawünsche der Wirtschaft, wie etwa kostenpflichtige Eignungstests, an Ausbeutung.
Klar ist: der Berufseinstieg ist einer der entscheidenden Zeitpunkte im Leben eines jungen Menschen. In fünf Beiträgen erzählen wir von unterschiedlichen Chancen und Hürden in dieser Lebensphase – Geschichten von jungen Menschen, die es anpacken:
Viele Wege führen ins Arbeitsleben
Lehre: Vor dem Start der Hürdenlauf
Lehre: Vor dem Start der Hürdenlauf
Nach der Schule direkt in die Lehre? Das gelingt nicht immer. Die steigenden Anforderungen der Wirtschaft können zu belastenden Umwegen führen.
Die Zukunft holt sie schon ein, wenn sie erst knapp Teenager sind: Schon früh müssen Jugendliche wissen, was sie später beruflich machen wollen. Jahr für Jahr beenden Tausende Schülerinnen und Schüler die obligatorische Schulzeit. Rund zwei Drittel von ihnen beginnen danach eine Lehre – 2017 waren es 66'468 Jugendliche im 1. Lehrjahr. Ganz abgesehen davon, dass die richtige Berufswahl an sich schon eine Herausforderung für junge Menschen ist, gelingt nicht allen der problemlose direkte Übertritt von der Schule in die Lehre. Einige Stolpersteine säumen den Weg.
So verlangen beispielsweise viele Arbeitgeber zusätzlich zu den Schulzeugnissen, dass Jugendliche für ihre Bewerbung Eignungstests absolvieren. In den letzten zwei Jahrzehnten ist das immer populärer geworden – in einigen Branchen geht es gar nicht mehr ohne. Dabei gibt es schweizweit eine Vielzahl unterschiedlicher Testsysteme.
Der 14-jährige Ivan Rodriguez etwa geht in Zürich in die zweite Sekundarstufe und hat kürzlich den Stellwerktest machen müssen. Im Gegensatz zu privaten Eignungstests ist dieser im Kanton Zürich und in einigen anderen Deutschschweizer Kantonen obligatorisch. Eigentlich ist sein Zweck, die Fächerwahl im 9. Schuljahr mit einer Standortbestimmung zu vereinfachen. «Ursprünglich sollte der Stellwerktest nie eine Beilage zur Bewerbung werden. Die Realität zeigt aber das Gegenteil. Viele Firmen verlangen ihn», erzählt Roger Bircher, ein Lehrer von Rodriguez.
«Man wird dem Schüler menschlich nicht gerecht.»
Roger Bircher, Lehrer und Schulleiter
Der Stellwerktest sei für Schülerinnen und Schüler wie auch für die Lehrpersonen durchaus nützlich, damit man herausfinden könne, wo die Stärken und Schwächen sind und man entsprechend im letzten Schuljahr Lücken stopfen und Talente fördern könne. Er habe aber in seiner Aussagekraft auch Grenzen, sagt Bircher, der seit 25 Jahren unterrichtet. «Die Tagesform ist ausschlaggebend. Will man Wissen wirklich objektiv messen und vergleichbar machen, wird es deshalb schwierig. Man wird dem Schüler damit menschlich nicht gerecht.» Schulzeugnisse würden zudem einen weiteren Bereich umfassen, und grundsätzlich sei die Forderung der Wirtschaft nach solchen Tests auch in gewissem Masse ein Affront für die Lehrer.
Ivan Rodriguez’ Traumberuf ist Grafiker. Er zeichnet und malt gerne. Farbenfrohe Kunstwerke im Wohnzimmer bezeugen sein Talent. Dementsprechend hat er für die 3. Sekundarstufe das Fach Zeichnen als Fokus gewählt. Derzeit stehen ihm noch viele Optionen offen – er will auch die Gymiprüfung machen. Auf die Arbeitswelt freut er sich zwar, sie scheint aber noch meilenweit entfernt zu sein. Für den Stellwerktest hat er nicht viel gelernt und gleichwohl gute Resultate erzielt.
Trotzdem übt er dezidiert Kritik: «Eigentlich sollte der Test zeigen wo die Stärken sind und wo es Nachholbedarf gibt. Aber es ist für alle schon früh klar, dass er kommt und es ein grosses Ereignis ist. Es gibt dann einige, die lernen schon ein halbes Jahr vorher dafür.» Das findet er nicht sinnvoll, denn so werde das Ziel der Standortbestimmung ja verfälscht.
Noch viel heftiger kritisiert werden bestimmte private Eignungstests, wie zum Beispiel der Multicheck. Die Firma gateway.one, die ihn anbietet, ist Marktführerin in der Schweiz. Den Online-Test gibt es in drei Sprachen und landauf, landab treten jährlich 30'000 Schülerinnen und Schüler dafür an. Kostenpunkt: rund 100 Franken. Bekommt man die gewünschte Lehrstelle nicht, muss man unter Umständen für andere Arbeitgeber wiederum andere Tests absolvieren und nochmals zahlen. Das belastet das Portemonnaie der Eltern.
Obwohl viele Firmen zur Selektion der besten Anwärterinnen darauf setzen, ist auch Gewerbeverbands-Direktor Hans-Ulrich Bigler skeptisch: «Ich persönlich finde es bedenklich, wenn Eltern für die Bewerbungen ihrer Kinder teure Tests bezahlen müssen.» Er habe aber auch Verständnis für die Lehrbetriebe: «Ein Grundproblem, das man in der Schule hat, ist, dass die Zeugnisse für Lehrmeister nicht immer klar lesbar sind. Ein 5er am Zürichberg ist nun mal nicht gleich wie ein 5er in Spreitenbach.»
Weil der Schweizerische Gewerbeverband die externen und kostenpflichtigen Tests problematisch findet, ging er mit der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren eine Kooperation ein, um eine schulische Standortbestimmung zu schaffen, die ähnlich ist wie der Stellwerktest. Das «Anforderungsprofile» genannte Projekt gleicht aber die Resultate der Standortbestimmung gleichzeitig mit Anforderungsprofilen fast aller Berufe in der Schweiz ab. Damit sollen der Berufswahlprozess vereinheitlicht und Tests wie Multicheck überflüssig werden. Bisher findet er im Raum Nordwestschweiz Anwendung.
Grundsätzlich gegen jegliche solche Tests ist die Gewerkschaft Unia. Sie verlieh dem Multicheck 2013 gar einen Schmähpreis, weil das Unternehmen sich auf Kosten junger Stellensuchender «eine goldene Nase verdiene». Sogar für Schnupperlehren würden sie teilweise verlangt.
Unia-Jugendsekretärin Kathrin Ziltener ist der Meinung es sei heikel, wenn die Tests in der Schule institutionalisiert würden: «Damit die Klasse möglichst gut abschneidet, führt das zu viel Druck für die Lehrer.» Es gebe Branchen, in denen kaum mehr Lehrstellen vergeben werden ohne Tests. Kaufmännische Berufe und die Informatik seien stark betroffen. In den beliebten Bereichen werde damit die Konkurrenz um knappe Ausbildungsplätze zusätzlich angekurbelt. Ziltener plädiert dafür, wieder mehr auf die aussagekräftigeren Schulnoten abzustützen und insbesondere viel Zeit dafür zu investieren, potenzielle Berufseinsteiger bei Schnupperlehrtagen gut kennenzulernen, statt sich auf standardisierte Tests zu verlassen.
Vorlehrpraktika sind eine andere Hürde. Es klingt zwar geradezu absurd, dass Jugendliche vor der Lehre ein Praktikum absolvieren sollen, obwohl es in der Lehre ja genau darum geht, sich praktische Erfahrung anzueignen. Das Berufsbildungsgesetz hält explizit fest, dass die berufliche Grundbildung an die obligatorische Schulzeit anschliesst. Trotzdem sind Praktika in einigen Branchen normal.
Besonders stark betroffen sind beliebte soziale Berufe. Eine 23-jährige Fachfrau Kinderbetreuung, die nicht namentlich genannt werden möchte, musste zwei einjährige Praktika absolvieren, bevor sie überhaupt eine Lehre beginnen konnte. An beiden Arbeitsorten waren je drei Praktikantinnen angestellt, aber in Aussicht stand jeweils nur ein einziger Ausbildungsplatz. Nach dem ersten Praktikum sei sie noch zu unreif für den Job gewesen, sagte man ihr. Nach zwei Jahren klappte es dann endlich. Zurückblickend ist sie trotz langwierigem Weg bis zur Lehrstelle froh, dass sie nicht aufgegeben hat. Denn es sei ihr absoluter Traumberuf und sie gehe gerne zur Arbeit.
Nur 15 Prozent der Lernenden der Fachrichtung Kinderbetreuung stiegen direkt nach der obligatorischen Schule in die berufliche Grundbildung ein.
Quelle: Jahresbericht Savoir Social 2017
Wenn die zurückhaltende junge Frau über ihren Job spricht, leuchten ihre Augen und sie blüht auf: «Es ist unglaublich, die Entwicklung der Kinder mitzuverfolgen. Am Anfang können sie noch kaum reden. Wenn sie dann im Kindergartenalter sind, plappern sie ohne Punkt und Komma.» Als sie nach Abschluss der Lehre erneut auf Stellensuche war, stand sie erneut vor einer Hürde: viele verlangten zwei Jahre Berufserfahrung, doch ihr wurde gesagt, die Lehre und ihre bereits 5 Jahre andauernde Tätigkeit in dem Bereich würden nicht zählen.
Mithilfe des Mentoringprogramms «Job Caddie» der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft fand sie schliesslich wieder eine Anstellung. Doch die Unsicherheiten bei ihren ersten Schritten im Arbeitsleben waren eine grosse Belastung.
Claudia Manser, Leiterin von Job Caddie in Zürich, ist überzeugt, mit Praktika vor und nach der Lehre würden die Jugendlichen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. «Oft sind sie aber auch zu scheu, verlangen nichts Schriftliches bezüglich Lehrstellenzusage und gehen davon aus, dass sie diese bereits haben.» Wenn ein Praktikum mit einer fixen Zusage zur darauffolgenden Lehrstelle einher gehe, könne das aber durchaus eine gute Lösung sein, insbesondere wenn die Alternative Arbeitslosigkeit sei.
Einen weiteren Grund für Einstiegsschwierigkeiten sieht Manser beim Alter zum Zeitpunkt des Schulabschlusses. «Kinder werden immer früher eingeschult und sind dann entsprechend jünger, wenn sie mit der Schule fertig sind. Die Lehrbetriebe beklagen dann, dass die Bewerber zu jung sind für den Job.»
Dazu kommt im Bereich der Kinderbetreuung, dass früher für die Ausbildung ein Mindestalter von 18 Jahren galt, wie Nadine Hoch, Geschäftsleiterin des Verbands kibesuisse Kinderbetreuung Schweiz, erzählt. Heute schliesst die Lehre aber direkt ans Ende der obligatorischen Schulzeit an. «Weil es bei der damaligen Ausbildung zur Kleinkinderzieherin eine solche Altersbeschränkung gab, herrscht dieses Verständnis bei einigen Ausbildenden immer noch vor. Primär, weil man für die Arbeit mit Menschen eine gewisse Reife benötige.» Diese historischen Gründe würden aber zu einer etwas schizophrenen Argumentation führen: «Dem widerspricht natürlich, dass man ja auch im Praktikum mit Menschen arbeitet. Insofern macht das Argument keinen Sinn.»
In einem Positionspapier zu Vorlehrpraktika empfiehlt der Verband den Betrieben, auf Praktikumsstellen zu verzichten, beziehungsweise sie nur unter eingeschränkten Bedingungen zuzulassen. Der Monatslohn solle zwischen 800 und 950 Franken liegen. Zudem wird gefordert, dass innerhalb einer Kita nicht mehr Praktika als Lehrstellen angeboten werden.
Ein Problem sei jedoch, dass die Aufsichtsbehörden für Kindertagesstätten einen Betreuungsschlüssel vorgeben würden, der neben pädagogisch ausgebildeten Personen auch Lernende, nicht branchenspezifisch ausgebildete Erwachsene und Personen im Vorlehrpraktikum zuliessen.
«Weil Praktikumsstellen am günstigsten und vor allem auch zulässig sind, haben 80 Prozent der Kita-Betriebe solche Stellen. Mit diesen Betreuungsschlüsselvorgaben unterstützen die Behörden somit die hohe Anzahl Praktika oder nehmen sie zumindest in Kauf. Die Hauptursache für die unbefriedigende Situation ist der hohe Kostendruck», sagt Nadine Hoch. Die finanzielle Belastung für Eltern sei heute bereits enorm, die Schmerzgrenze erreicht. Der Ball liege bei der öffentlichen Hand und der Wirtschaft. Denn die Kita-Betriebe würden gerne aufs Einstellen von Praktikantinnen und Praktikanten verzichten, wenn sie denn genügend finanzielle Mittel für geschultes Personal zur Verfügung hätten.
Dem pflichtet auch Unia-Jugendsekretärin Kathrin Ziltener bei. Das Finanzierungsproblem dürfe aber nicht auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen, sondern müsse gesamtgesellschaftlich gelöst werden. «Kita-Praktika sind sicher das Paradebeispiel dafür, wie junge Arbeitnehmende ausgenutzt werden. Wir sehen aber auch eine generelle Zunahme von Vorlehrpraktika, wie beispielsweise bei Schreinern, Coiffeur-Betrieben, Schlossern und Grafikern», sagt Ziltener. Die Gründe seien unterschiedlich. Die hohe Nachfrage in einigen Branchen ist einer. Oder Schüler und Schülerinnen würden bei der Lehrstellensuche ausgenutzt, wenn sie schlechte Noten hätten.
Die Unia fordert deshalb ein Verbot von Vorlehrpraktika: «Für Jugendliche, die Mühe beim Berufseinstieg haben, gibt es institutionalisierte Lösungen wie z.B. das Zwischenjahr. Praktika sind im Arbeitsrecht praktisch nicht geregelt. Deshalb gibt es auch keinen besonderen Schutz für Praktikantinnen und Praktikanten. Ein Vorlehrpraktikum dient einzig dazu, die Lehre zu verlängern und jemanden günstiger einzustellen. In gewissen Branchen haben Jugendliche kaum eine Wahl und müssen solche Praktika zu Dumpinglöhnen leisten, um überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Wenn sich diese Praxis weiter einschleicht, schadet das nicht zuletzt dem dualen Bildungssystem.»
Viele Wege führen ins Arbeitsleben
Text: Tina Berg
Start-up: Sprung ins kalte Wasser
Start-up: Sprung ins kalte Wasser
Auf halben Weg hat Patrik Kuster sein Studium zurückgefahren, um mit einem Start-up direkt in die Berufswelt einzusteigen. Viel Arbeit, wenig Freizeit, dafür Praxis statt Theorie: passt für ihn.
Patrik Kuster mag es gern zügig und direkt. Nach der Matura ging es ohne Zwischenhalt ins Studium, Wirtschaft und Recht an der Universität St. Gallen. Dort möglichst fix zum Bachelor und zum Master. Und danach ein Job, irgend etwas im Beratungssektor. Das war ursprünglich der Plan.
Es ist anders gekommen – Patrik Kuster hat noch einmal eine Abkürzung gefunden. «Ich bin Lampenverkäufer geworden», sagt er und lacht laut. Das braucht eine Präzisierung. Der 25-Jährige ist zuständig für Verkauf und Finanzen bei einer Zürcher Start-up aus dem Technologiebereich. LEDCity entwickelt intelligente Beleuchtungssysteme: In LED-Röhren einbaute Sensoren sorgen dafür, dass das Licht nur dann und in der richtigen Stärke leuchtet, wenn es gebraucht wird. Dadurch lässt sich im Vergleich zu konventionellen Systemen 90 Prozent an Energie einsparen. Die Geschäfte sind gut angelaufen. «Es ist die richtige Zeit für solche Nachhaltigkeitslösungen», so Kuster, ganz der Verkäufer.
Für ihn selber war vor zwei Jahren die richtige Zeit für einen Richtungswechsel. Im Studium war der Frust laufend gewachsen. Zu theoretisch war ihm der Stoff dort, zu gross die Flughöhe. «Ich hatte das Gefühl, stehen zu bleiben. Das hat mir noch nie behagt.» Im Praktikum auf einer Bank war er zwar näher an der Geschäftsrealität, aber halt nur ein kleines Rädchen in einer grossen Maschine. «Mir ist es bei der Arbeit wichtig, mit meinen Fähigkeiten Einfluss zu nehmen und direkt zu sehen, wie die Auswirkungen sind», sagt er.
Dass ein guter Freund aus Gymi-Zeiten dabei war, sich mit dem Konzept der optimierten Beleuchtung selbständig zu machen, kam da wie gerufen. Ab Mitte 2017 war Patrik Kuster nur noch Student im Nebenamt, setzte stattdessen seine ganze Energie in den Aufbau der neugegründeten Firma. Er sprang rein, um schwimmen zu lernen, ohne Coaching und langes Überlegen. «Ich bin jemand, der gerne mal etwas ausprobiert und auch ein gewisses Risiko eingeht.»
Wie dünn das Eis ist, auf das sich tatendurstige Neo-Unternehmer begeben, zeigen die Erfahrungswerte aus der Schweizer Gründerszene. Die Kennziffern: Von zehn Start-ups gelingt bloss einem der erhoffte Erfolg, es kann sich also über die kritischen fünf Anfangsjahre hinaus auf dem Markt halten. Eines bis zwei erzielen einen beständigen Umsatz, nicht aber das erwartete Wachstum. Und im Schnitt sieben bis acht Jungfirmen scheitern früher oder später. Für Kuster und seine Kollegen spricht, dass sie finanziell keinen Hochseilakt eingehen mussten, da es im Nachhaltigkeitsbereich vergleichsweise viele Fördertöpfe gibt. Das Kapital zur Firmengründung steuerten unter anderem die Klimastiftung Schweiz bei, auch gab es Gelder vom Bund und der EU.
«Ich bin in der realen Welt angekommen.»
Patrik Kuster, Gründer des Start-ups LEDCity
Dass er damals die «Komfortzone» als Student verlassen hat, um sich selbständig zu machen, hat Durchstarter Patrik Kuster noch keinen Moment bereut. «Ich bin in der realen Welt angekommen», sagt er. Ihm gefällt, dass er bis heute immer wieder Neues dazulernt – «by doing», so wie ihm das passt. Vor allem an die Rolle als Verkäufer musste er sich zuerst einmal gewöhnen. Heute schätzt er es, auch mit Leuten ausserhalb der Studenten-Blase zu tun zu haben, vom Hauswart bis zum Geschäftsführer. «Mein Universum ist grösser geworden.»
Das hat seinen Preis. Die Arbeitsbelastung hat sich im dritten Jahr der Firma, die unterdessen auf elf Angestellte gewachsen ist, zwar stabilisiert, bleibt aber hoch: zwischen 52 und 55 Stunden pro Woche. Darunter leidet das soziale Leben. «Päde, du schaffsch z’vill», hört er von seinen Freunden oft. Tatsächlich muss Kuster Freizeit und Ferien ums Geschäft herum planen. «Früher hatte ich nie einen Terminkalender, jetzt geht es nicht mehr ohne», schmunzelt der Ex-Student.
Arbeit hat für Patrik Kuster einen hohen Stellenwert, zumal für etwas Eigenes. Sich trotzdem die privaten Freiräume zu erhalten, aber ebenso. «Work hard, play hard», das ist die Losung, bloss nicht halbbatzig. Mit dieser Einstellung passt er ins Schema der Generation Y, in das Leute seines Alters gezwängt werden (siehe Illustration).
«Sie können sich in ihre Jobs hineinknien», sagt der Luzerner Soziologe und Arbeitsmarktforscher Peter Kels. «Die Bereitschaft, das auf Kosten des Privatlebens zu tun, ist im Vergleich zu den früheren Generationen allerdings stark gesunken.» Ebenfalls typisch für «Millennials» ist Kusters Antrieb. Arbeit allein als Mittel zum Zweck, Geld zu verdienen, würde bei ihm nicht funktionieren, sagt er. «Sinn muss es machen – und Spass.»
Seinen Bachelor-Abschluss an der Uni hat Patrik Kuster neben allem anderen übrigens doch noch hinbekommen. Für seinen Lebenslauf und als Absicherung, falls es mit der Selbständigkeit doch nicht klappen sollte. «Und ein bisschen auch für meine Eltern». Ihnen wäre lieber gewesen, ihr Sohn hätte den Berufseinstieg schön Schritt für Schritt vollzogen statt mit gerade einmal 23 Jahren die risikoreiche Direttissima zu wählen.
Die beruflichen Pläne für die Zukunft? Nicht konkret. Die nächste Zeit gehört LEDCity, die junge Beleuchtungsfirma soll sich weiter etablieren. Die technologischen Möglichkeiten seien noch lange nicht ausgeschöpft, weiss Kuster. «Gas geben und schauen, wohin wir kommen»: an dieser Devise will er nicht rütteln.
Patrik Kuster mag es nicht bloss zügig und direkt, er hat auch Ausdauer – nicht nur im Job: Der Start am Zürcher Ironman-Triathlon im Juli steht fix in seinem Terminkalender. Einen solchen hat er als Geschäftsmann ja nun.
Viele Wege führen ins Arbeitsleben
Text: Daniel Benz
Praktikum: Gut ausgebildet, schlecht bezahlt
Praktikum: Gut ausgebildet, schlecht bezahlt
Junge Erwachsene müssen viel zu viele Praktika absolvieren, die Qualität ist oft bedenklich, sagt die Unia. Bundesrat und Wirtschaft sehen das anders. Zwei Praktikantinnen erzählen.
Lorella Liuzzo kann sich gut verkaufen. Sie nimmt sich Zeit für Antworten und gestikuliert Ausrufezeichen hinter das Gesprochene. Begeisterungsfähig, selbstständig, kreativ – so steht es ihrem Lebenslauf, so ist es ihr ins Gesicht geschrieben. Die 29-Jährige wirkt wie ein alter Hase auf dem Arbeitsmarkt, erschnuppert sich aber noch immer Erfahrungen. Sechs Praktika hat sie gemacht: eines vor der Fachmatura, zwei für die Ausbildung zur Pflegefachfrau, zwei zur Umorientierung in die Kommunikationsbranche, noch eines fürs Studium.
In vielen Branchen ist der Berufseinstieg über ein Praktikum längst zur Normalität geworden. Doch Praktikum ist nicht gleich Praktikum, denn im Gesetz ist der Begriff nicht definiert. Ein gewisser Ausbildungscharakter und die befristete Anstellung sind der kleinste gemeinsame Nenner, ansonsten herrscht Wildwuchs: Manche Praktika dauern wenige Wochen, andere länger als ein Jahr. Mal lässt sich mit dem Lohn gut leben, mal ist er kaum vorhanden. Einige Arbeitgeber profitieren vom Know-How der Studienabgänger und haben hohe Anforderungen, andere lassen sie nur banale Arbeiten verrichten.
«Es wenden sich immer mehr Personen an uns Gewerkschaften, die unter Praktika leiden», sagt Kathrin Ziltener, Jugendsekretärin der Unia. Fehlende Betreuung sowie schlechte Löhne seien an der Tagesordnung. «Wir sind davon überzeugt, dass die meisten Praktika nur Festanstellungen zu Dumpinglöhnen sind.»
Die Kritik ist nicht neu. Um die Jahrtausendwende löste ein italienisches Internetforum eine europaweite Diskussion aus. Lautstark kritisierte die Jugend den zementierten Arbeitsmarkt und fand Verbündete in Spanien, Griechenland, Frankreich und Deutschland. Die Vertreter der «Generation Précaire» oder «Generation Praktikum» waren sich einig: Praktikanten werden als billige Arbeitskräfte von der Wirtschaft ausgenutzt. Kurz darauf wurde die Leidensgeschichte der Praktikanten sogar niedergeschrieben. Der italienische Roman «Generazione 1000 Euro» erzählt von hoch qualifizierten, aber schlecht bezahlten jungen Erwachsenen. Sie hangeln sich von Praktikum zu Praktikum, verdienen 1000 Euro im Monat und wohnen ewig bei den Eltern. Gefallen lassen sie sich die unverschuldete Misere aber nicht. Ein nationaler Streik legt die Wirtschaft lahm.
So weit kam es in der Wirklichkeit nicht. Der Aufschrei beschäftigte aber auch die Schweiz. Zwischen 1991 und 2005 liess der Bund die Situation der Praktikanten untersuchen. Fazit: Eine «Generation Praktikum» gebe es hierzulande nicht.
«Wir sind davon überzeugt, dass die meisten Praktika nur Festanstellungen zu Dumpinglöhnen sind.»
Kathrin Ziltener, Jugendsekretärin der Unia
«Schwerpunkt der Studie war der Übergang von der Hochschule in den Arbeitsmarkt und die Entwicklung der ersten Berufsjahre nach dem Studium», sagt Petra Koller vom Bundesamt für Statistik. Die Untersuchung sollte klären, ob Praktika in der Schweiz zu einem Einfallstor für prekäre Arbeitsbedingungen geworden sind. Obwohl sie mittlerweile fast 15 Jahre alt ist, wurde sie nie wiederholt.
«Es waren keine Anzeichen einer Trendveränderung festzustellen», so Koller. Ein Jahr nach Abschluss des Studiums absolvierten zwischen 2005 und 2016 immer 12 bis 14 Prozent der Uniabsolventinnen mit Master ein Praktikum. Ein Grossteil der Praktikumsquote kann auf Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaften zurückgeführt werden, die sich in einem Anwaltspraktikum befinden. Bei den Fachhochschul-Absolventen liegt die Quote sogar unter fünf Prozent. Der niedrigere Wert lässt sich dadurch erklären, dass ein Pflichtpraktikum in vielen Fällen bereits Teil der Ausbildung ist.
«Die Ergebnisse der Studie sind nicht aussagekräftig», widerspricht Gewerkschafterin Ziltener. «Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass es eine Generation Praktikum gibt.» Es stellt sich heraus, dass der Bund und die Gewerkschaft unter einer Generation Praktikum verschiedene Dinge verstehen. Der Bund zählt die Praktikumsstellen, die Unia bemängelt aber nicht nur deren Anzahl, sondern auch die Qualität. Die Situation der Praktikanten könne nur zufriedenstellend beurteilt werden, wenn alle Formen von Praktika berücksichtigt werden. Dazu gehören auch Praktika vor und nach der Lehre sowie während des Studiums.
Sollte es eine Generation Praktikum geben, gehört Lorella Liuzzo definitiv dazu. An ihr erstes Praktikum erinnert sich die Baslerin nur ungern. Sechs Monate arbeitete sie für ihre Fachmatura in einem grossen Spital. Manchmal sieben Tage am Stück, oft folgte auf den Spätdienst ein Frühdienst. Schon am ersten Tag musste die damals 18-Jährige einen dementen, sterbenden Mann waschen. «Ich war total überfordert», erinnert sie sich. In den folgenden Monaten erledigte sie fast ausschliesslich Dinge, die sonst niemand machen wollte: Kotreste reinigen, Tee servieren, Materialschränke auffüllen.
Ihre Freundinnen haben in Pflegeberufen ähnliche Erfahrungen gemacht. Die meisten haben ihre Ausbildung abgebrochen, Weiterbildungen gemacht oder sich für eine Umorientierung entschieden.
Liuzzo biss auf die Zähne und wurde trotz Startschwierigkeiten Pflegefachfrau. Auch zwei Praktika gehörten zur Ausbildung, dieses Mal machte die Baslerin aber positive Erfahrungen. «Ich konnte Schritt für Schritt umsetzen, was ich in der Schule gelernt hatte», sagt sie. Nun gefiel ihr der Beruf immer besser.
Trotzdem blieb Liuzzo nur kurze Zeit in der Pflege. Mit 25 Jahren hatte sie einen Bandscheibenvorfall und musste sich umorientieren. «Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben», erinnert sie sich. Familie und Freunde rieten ihr zu einer Weiterbildung im Gesundheitsbereich, so wäre die bisherige Ausbildung nicht umsonst gewesen. Doch Liuzzo zweifelte. Schon immer hatte sie es geliebt, Geschichten zu erzählen.
Kurzerhand informierte sie sich beim Berufsberater und verschickte Blindbewerbungen. Ihr erstes Praktikum in einer Werbeagentur bekam Liuzzo ohne Berufserfahrung. Sie war motiviert und konnte gut schreiben, das reichte fürs Erste. Danach ist sie «Leiterli gestiegen»: Die gewonnenen Erfahrungen verhalfen ihr zu einem Praktikum im Marketing, dieses wiederum zu einem Freelancer-Job bei einer Agentur. «Danach war ich sicher: Das Kommunkationsstudium ist das Richtige für mich», sagt sie.
Sozial- und Geisteswissenschaftler steigen besonders häufig über ein Praktikum in den Job ein, da ihre Studiengänge selten auf ein klar definiertes Jobprofil abzielen. Ein weites Feld an Berufen stehen ihnen offen, nur fehlen die praktische Erfahrungen. Viele Studierende sammeln diese über Nebenjobs oder Praktika. Auch Julia Bänninger ist eine von ihnen. Die Zürcherin machte fünf Praktika: drei während der Ausbildung, zwei danach – im Marketing, bei einer Zeitung, beim Radio, in der Kommunikation.
«Wenn es mir ums Geld gegangen wäre, dann hätte sich kellnern mehr gelohnt.»
Lorella Liuzzo
Bei einigen musste Bänninger Abstriche machen, meistens beim Lohn. Beim Radio verdiente sie gar nichts und war auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. «Man muss es sich leisten können, ein Praktikum nur aus Interesse anzunehmen», gibt sie zu. Auch Liuzzo verdiente bei einem fünfmonatigen Praktikum nichts. «Wenn es mir ums Geld gegangen wäre, dann hätte sich kellnern mehr gelohnt.»
Die Unia kritisiert un- und unterbezahlte Praktikumsstellen scharf: «Wenn junge Menschen auf die finanzielle Unterstützung von Eltern oder anderen Personen aus ihrem Umfeld angewiesen sind, führt das zu Chancenungleichheit.» Um sie besser vor Ausbeutung zu schützen, setzt sich die Gewerkschaft für eine maximale Praktikumsdauer von sechs Monaten sowie eine Mindestlohn-Regelung ein.
Ähnliche Forderungen aus der Politik hatten bisher einen schweren Stand. Vor einem Jahr forderte SP-Nationalrat Mathias Reynard zum Beispiel einen gesetzlichen Rahmen für die Dauer, Entschädigung und Ausbildung eines Praktikums. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion: «Aufgrund der Vielfalt möglicher Konstellationen, in denen Praktika absolviert werden, wäre eine einheitliche Regulierung solcher Arbeitsverhältnisse nicht sinnvoll.» Eine Erhöhung des administrativen Aufwands könne dazu führen, dass Unternehmen weniger Praktika ausschreiben. Ausserdem seien weder ein Mindestlohn noch eine zeitliche Begrenzung zielführend.
Der Arbeitgeberverband stimmt zu: «Eine Regulierung ist nicht nur unnötig, sondern würde auch bürokratischen Leerlauf bedeuten», so Kommunikationschef Fredy Greuter. «Dass Praktika ausbeuterisch sind, ist blosse gewerkschaftliche Rhetorik.» Das bestätige die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung: Im Jahr 2017 dienten 77 Prozent der Praktika einer Ausbildung, nur sieben Prozent wurden absolviert, weil junge Erwachsene keine Festanstellung fanden.
Laut der Unia erfüllt ein gutes Praktikum folgende Punkte:
- Bestenfalls ist es an eine anerkannte Ausbildung gekoppelt
- Eine Ansprechperson im Betrieb sowie in der begleitenden Schule stehen zur Verfügung
- Ein Praktikumsplan listet verschiedene Ausbildungselemente auf
- Die Praktikumsdauer beträgt maximal ein halbes Jahr
- Praktikanten sollten vom Lohn leben können
Bänninger und Liuzzo betonen, dass sie nicht ausgebeutet wurden. Beide haben sich bewusst für ihre Praktika entschieden. «Ich würde keine dieser Erfahrungen missen wollen. Sie sind ein Teil meines Weges. Der war nicht linear und das ist auch gut so», sagt Bänninger. Mittlerweile steht die 28-Jährige kurz vor dem Abschluss ihres fünften Praktikums. Danach will sie endlich eine Festanstellung, am liebsten im Kulturbereich.
Auch Liuzzo hat einige Kurven, Sackgassen und Umwege hinter sich, doch die haben sich ausgezahlt. Noch diesen Monat beendet sie ihr Studium, die Festanstellung bei einer Zürcher Werbeagentur hat sie bereits in der Tasche.
Viele Wege führen ins Arbeitsleben
Text: Jasmine Helbling
Sinnsuche: Arbeit als Mittel zum Zweck
Sinnsuche: Arbeit als Mittel zum Zweck
Wie man zu sich selber findet: Reisen und die Welt erkunden, statt arbeiten und Karriere machen. Zwei Frauen und ihr Weg.
«Das Reisen, das gleichsam eine höhere und ernstere Wissenschaft ist, führt uns zu uns zurück.»
Albert Camus, französischer Schriftsteller
Es klingt abgedroschen, aber sie meint es sehr ernst: «Mir ist meine Freiheit wichtig», sagt Amanda Stämpfli. Die 37-jährige Ostschweizerin hat schon 26 Länder bereist, von Asien zu den Pazifikinseln bis nach Süd- und Nordamerika. Stämpfli ist Mutter einer sechsjährigen Tochter. «Die Schweiz ist mir zu durchgetaktet, ich mag es einfach und lebensnah.»
Seit dem Abschluss ihrer Lehre als Dekorationsgestalterin und zweijährigem Jobeinsatz war Amanda Stämpfli immer unterwegs, manchmal auch jahrelang an einem Ort – mit kurzen Abstechern zurück in die Schweiz zum Geldverdienen. Im thailändischen Koh Samui, wo sie sich zur Tauchlehrerin ausbilden liess und so ihren Lebensunterhalt verdiente, lebte sie drei Jahre am Stück. «Es musste aber dann doch immer wieder etwas Neues her. Sehr lange kann ich nicht an einem Ort bleiben.» Sie sei wohl eine Nomadin. Oder eine typische Millennial, eine Vertreterin der Generation Y, die in den 80er bis Mitte 90er Jahre des letzten Jahrhunderts geboren wurden (siehe «Von den Babyboomern zur Generation Z»).
«Sehr lange kann ich nicht an einem Ort bleiben.»
Amanda Stämpfli
Erst seit ihre Tochter im Kindergarten ist, hat sich Stämpfli in einem Stöckli auf einem Bauernhof im Bernbiet niedergelassen und arbeitet den Sommer durch als Raft- und Kanu-Guide. Sie träumt aber bereits wieder vom Reisen, vom einfachen Lebensstil, vom Einssein mit der Natur. «Vielleicht etwas mit Baumhäusern, gemeinschaftlichem Leben, Workshops, Abenteuertouren, Menschen in Not helfen.» Ideen hat Stämpfli genug. Wohin es sie ziehen wird, weiss sie noch nicht. Irgendwo in die Wärme. Sicher ist für sie, dass ihre Reise weitergehen wird. Mit Tochter Joya, die in Thailand geboren wurde und mit der sie schon 16 Länder bereiste. «Hauptsache, wir sind zusammen.» Als Joya ein Jahr alt war, trennte sie sich von ihrem Vater, einem Franzosen.
Für die Generation Y oder die Millennials (Jahrtausender) ist es wichtig, sich nicht gleich festzulegen, zu improvisieren, eine gute Balance zwischen Job und Freizeit zu finden, sagt der Berliner Soziologe und Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Ihr Lebenslauf habe die Geradlinigkeit verloren, die noch für die Eltern typisch gewesen sei. Das Leben sei für sie viel weniger planbar als früher. Bei allem Stress, den sie empfänden, würden die Ypsiloner dies auch geniessen, weil es sie unabhängig und frei mache, so Hurrelmann in seinem Buch «Die heimlichen Revolutionäre».
Für Sarah Britt, im Gegensatz zu Amanda Stämpfli eine «junge» Millennial, öffnet sich gerade wieder eine neue Tür. «Meine vielen Reisen nach Südamerika waren ein Entwicklungsprozess», sagt die 25-jährige Zürcherin. Erst dadurch sei ihr bewusst geworden, was sie eigentlich wolle. Nämlich: Biobäuerin werden. Die Reaktion ihrer Familie und Freunde darauf sei eindrücklich gewesen: «Endlich hat sie es gemerkt – Sarah muss ‘in die Erde’.»
Soeben hat Britt die vierjährige Ausbildung zur Fachfrau biodynamische Landwirtschaft Demeter begonnen. Sie arbeitet und wohnt auf einem Hof im Luzernischen.
Keine Mühe, plötzlich sesshaft zu werden? Britt lacht, ihr feiner Nasenring vibriert leicht. «Nein. Ich habe die Zeit in Ecuador gebraucht, um meinen Weg zu finden.» Nach der Schule arbeitete Britt ein Jahr als Au-Pair in Lausanne, weil sie nicht wusste, welche Ausbildung sie beginnen sollte. Danach folgten ein Jahr Kunstschule und dann die Lehre als Grafikerin. Doch schon während der Stifti habe sie gewusst, dass diese Ausbildung nur ein Schritt auf ihrem Weg sein und noch mehr kommen werde. Dennoch beendete sie ihre Lehre erfolgreich. Dann zog es sie aber immer wieder monatelang nach Südamerika, «da lernte ich, alles Gelernte wieder zu verlernen und tauchte ein, in die grenzenlose Fantasie des Dschungels». Heute spricht Sarah Britt fliessend Spanisch und hat auch noch eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin in Ecuador absolviert.
«Als ich im Frühling in die Schweiz zurückkam, wusste ich noch nicht, was ich als nächstes machen sollte.» Doch dann geschah «die Magie», wie es Britt nennt. Sie wollte in einem Bioladen fragen, ob sie dort Arbeit für sie hätten. Im Laden lag eine Zeitschrift, darin ein Artikel über einen Biobauernhof. Britt verschlang den Text. – Auf genau diesem beschriebenen Bauernhof wird sie ihre Lehre zur Biobäuerin machen. «Es kribbelte in mir, als ich das realisierte.»
Ihre Wanderjahre in Südamerika will Britt auf keinen Fall missen. Ihre Liebe zu Ecuador wird bleiben und vielleicht wird sie ihr viertes Lehrjahr auch dort machen können. Und dann später einen Hof in Südamerika betreiben. «Die ganze Welt ist, sie in einem selbst zu entdecken», so Britt etwas pathetisch.
Selbstverwirklichung ist eines der Hauptmerkmale der Generation Y, sagt Generationenforscher Peter Kels von der Hochschule Luzern. Kels befasst sich mit verschiedenen Generationen und deren Einbindung in den Arbeitsmarkt, der immer globaler wird. Die Lebenskünstlerinnen Amanda Stämpfli und Sarah Britt tun das in konsequenter Form. Für sie ist Arbeit das Mittel zum Zweck, damit ihre Träume wahr werden.
Die sechsjährige Joya, die Tochter von Amanda Stämpfli, ist schon jetzt eine Weltbürgerin. Das quirlige Mädchen findet sich überall zurecht, parliert gekonnt auf Englisch und Französisch, hat keinerlei Kontaktschwierigkeiten und kann sich auch gut selber beschäftigen. Was macht sie am liebsten? Die Welt entdecken. Und so ihren Weg finden.
Viele Wege führen ins Arbeitsleben
Text: Birthe Homann
Interview: «Man rät den Jungen oft, etwas ‹Richtiges› zu lernen. Schade»
Der Luzerner Soziologe Peter Kels weiss, wie sich die Arbeitswelt dank der jüngeren Generation wandelt. Und plädiert dafür, innovative Köpfe zu unterstützen.
Beobachter: Sie gehören zur Generation X, Ihre Studierenden zur Generation Y, Ihre Töchter zur Generation Z (siehe Illustration). Welche Welten prallen da aufeinander?
Peter Kels: Nicht gerade Welten, aber Unterschiede gibt es schon. Bei meinen Studierenden fällt mir auf, dass viele sehr kritisch sind und sich trauen, Dinge zu hinterfragen. Das finde ich toll! Dafür kämpfen manche mit Konzentrationsschwierigkeiten: Lange und komplizierte Texte überfordern sie, meine Präsentationen müssen abwechslungsreich und kurzweilig sein. Das ist sicher ein Effekt der neuen Medien. Auch meine Töchter sind sehr vertraut damit, digital zu kommunizieren. Sie kommen mir viel selbständiger und reifer vor, als ich es in dem Alter war.
Sind solche Zuschreibungen an die verschiedenen Generationen nicht willkürlich?
Grobe Unterteilungen helfen uns, gesellschaftliche Veränderungen besser zu verstehen. Die Annahme, dass Leute ab einem gewissen Jahrgang plötzlich andere Werte und Vorstellungen verkörpern, entspricht aber natürlich nicht der Realität. Es ist schwierig, einzelne Beobachtungen auf eine ganze Generation zu übertragen, denn sie ist nie einheitlich. Die Generation Y wird von einigen Forschern zum Beispiel als reif und pragmatisch geadelt, andere bezeichnen sie als ambitionslos und politikfern. Solche Zuschreibungen sind oft wertend. Schon immer haben ältere Generationen gern über jüngere geklagt.
Ganz ehrlich: Haben es Junge heute nicht einfacher als früher? Sie können sich für eine Lehre entscheiden, ein Studium absolvieren, ein Start-up gründen – und nach einigen Jahren wieder einen neuen Weg einschlagen.
Ja, der Arbeitsmarkt entwickelt sich für Schul- und Studienabgänger momentan sehr positiv. Ein Grossteil der Babyboomer-Generation wird in den nächsten Jahren pensioniert, dadurch werden viele Stellen frei. Gerade in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik oder Pflege sind Junge mit guter Ausbildung gefragt. Gleichzeitig differenziert sich das Bildungssystem aus, neue Ausbildungen und Berufe entstehen.
«Schon immer haben ältere Generationen gern über jüngere geklagt.»
Peter Kels, Soziologe
Kann diese Fülle an Möglichkeiten auch überfordern?
Es ist nicht einfach, sich für einen Beruf zu entscheiden, wenn man so viele Freiheiten hat. Die Karriere ist weniger berechenbar geworden. Entscheidend ist aber, dass der gewählte Weg die spätere Laufbahn nicht zementiert. Wer sich für eine Ausbildung entscheidet, kann später trotzdem noch eine andere Richtung einschlagen.
Besteht dadurch nicht die Gefahr, dass Junge sich für alles ein wenig, aber für nichts so richtig interessieren?
Vielseitig interessierte Bewerberinnen sind das Beste, was einem Arbeitgeber passieren kann. Leider haben das noch nicht alle Firmen erkannt. Oft wird die Person eingestellt, die das Jobprofil am besten ausfüllt. Doch das ist zu kurz gedacht. Sinnvoller wäre jemand, der wissensdurstig und flexibel ist. Gerade durch die Digitalisierung verändern sich Stellen nämlich sehr schnell.
Wie gut kommen verschiedene Branchen mit den Veränderungen im Arbeitsmarkt zurecht?
Das ist unterschiedlich. Der IT-Bereich reagiert zum Beispiel sehr schnell und flexibel. Kleinere Firmen spüren den Fachkräftemangel häufig stärker, denn viele Absolventen wollen lieber für grosse Player wie Google oder Swisscom arbeiten. Deshalb suchen manche innovative KMU in ihren Stellenausschreibungen nicht mehr nach Spezialisten, sondern nach Hochschulabsolventen mit IT-Flair. Oder sie werben mit ihrer demokratischen Firmenkultur. Das funktioniert sehr gut; diese Firmen haben kaum Fluktuation, die Mitarbeiterinnen sind zufrieden.
Nicht alle Firmen sind so flexibel und offen.
Viele halten an starren Rekrutierungskriterien fest, insbesondere solche mit Firmenkulturen, die nach wie vor durch Prestige, Statusdenken und steile Hierarchien geprägt sind. Doch auch sie werden sich anpassen müssen.
«Babyboomer haben hart gearbeitet und waren stolz darauf. Auch die Generationen X und Y können sich in ihre Arbeit hineinknien. Sie sind allerdings viel weniger bereit, das auf Kosten des Privatlebens zu tun.»
Peter Kels, Soziologe
Was sind die grössten Veränderungen, die auf den Arbeitsmarkt zurollen?
Nicht unwahrscheinlich ist eine verstärkte Kontrolle und Leistungsoptimierung durch künstliche Intelligenz, Tracking und Algorithmen. Damit wird die Leistung von Mitarbeitenden analysiert, und Firmen können Prognosen machen: Welche Bereiche, Teams oder Talente sind für uns besonders wertvoll? Wer kostet viel, trägt aber wenig zum Erfolg bei? Doch Firmen werden auch experimentierfreudiger und kreativer. Sie reagieren schneller auf Veränderungen, und das traditionelle Führungsverständnis verliert zusehends an Bedeutung. Die Chefin oder der Chef sind keine Alleinherrschenden mehr, sondern unterstützen ihre Mitarbeiter, damit sie möglichst leistungsfähig und erfolgreich sind.
Haben die Jungen dieselben Anforderungen an einen Job wie früher ihre Eltern?
Die Arbeitsmotive sind über Generationen hinweg relativ stabil geblieben. Eine erfüllende und sinnvolle Arbeit zum Beispiel war vielen in der Schweiz schon immer wichtig. Verändert hat sich allerdings der Stellenwert der Work-Life-Balance: Babyboomer haben hart gearbeitet und waren stolz darauf. Auch die Generationen X und Y können sich in ihre Arbeit hineinknien. Sie sind allerdings viel weniger bereit, das auf Kosten des Privatlebens zu tun. Junge möchten genug Zeit für Familie, Freunde und Hobbys haben.
Arbeiten sie deshalb auch häufig in flexiblen Arbeitsmodellen?
Nicht unbedingt. Bei einer Befragung haben wir herausgefunden, dass die Generation Y schon beim Vorstellungsgespräch nach Möglichkeiten wie Home-Office, Teilzeitarbeit oder flexiblen Arbeitszeiten fragt. Das sind für sie Basiskriterien bei der Wahl eines Jobs. Davon Gebrauch machen sie aber erstaunlich selten. Das liegt einerseits daran, dass sie beim Einstieg in den Beruf zuerst Vollgas geben möchten. Anderseits scheint sie die potenzielle Flexibilität des Arbeitgebers bereits zufriedenzustellen. Eine verständnisvolle Chefin, ein kollegiales Umfeld sind wichtiger geworden als eine steile Karriere.
Dennoch entscheiden sich immer mehr für ein Studium.
Das ist nicht unbedingt ein Gegensatz. Im Bewusstsein junger Erwachsener ist verankert, dass eine gute Ausbildung direkte Auswirkungen auf die Lebensqualität hat. Wer sich einen guten Job erarbeitet, hat es später besser. Nicht allen ist diese berufliche Sicherheit gleich wichtig.
Einige gründen mit Anfang 20 lieber ein Start-up oder reisen um die Welt.
Start-ups werden heute stärker gefördert als noch vor zehn Jahren. Viele Hochschulen coachen und unterstützen da gezielt. Dennoch weiss man, dass viele Start-ups scheitern. Schweizer sind da eher risikoscheu: Jungen Leuten wird oft geraten, etwas «Richtiges» zu lernen, bevor sie sich auf dünnes Eis begeben. Das ist eigentlich sehr schade – innovative Leute sollten unterstützt werden. Vielleicht profitiert ja die nächste Generation davon.
Ihre Töchter stehen in ein paar Jahren vor der Entscheidung, welchen beruflichen Weg sie einschlagen möchten. Was raten Sie ihnen?
Dank meiner Arbeit kann ich einschätzen, welche Berufe eher an Bedeutung gewinnen oder verlieren. Meine Töchter sollen sich aber nicht aufgrund solcher Kriterien entscheiden. Ich hoffe, dass sie den Wert von Bildung erkennen und ein Leben lang dazulernen wollen. Dass sie sich für viele unterschiedliche Dinge begeistern und ihren Leidenschaften folgen. Berufswege müssen nicht gradlinig sein – Umwege und Schlaufen machen das Leben spannend. Ich bin auf jeden Fall glücklich, dass ich heute kein kaufmännischer Angestellter mehr bin.
Zur Person
Generationenforscher Peter Kels, 46, absolvierte eine kaufmännische Lehre. Dann studierte er Soziologie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Pädagogik. Heute arbeitet er als Professor für Personalmanagement, Führung und Innovation an der Hochschule Luzern. Er forscht zu Generationen und deren Einbindung in den Arbeitsmarkt. Kels ist verheiratet und Vater zweier Töchter im Teenageralter.
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Interview: Jasmine Helbling und Birthe Homann