«Noch tragen Knaben keine Röcke»
Buben kämen in der Schule zu kurz, kritisieren Fachleute. Und bringen damit die Diskussion über die Geschlechterrollen wieder aufs Tapet.
Veröffentlicht am 18. Februar 2008 - 17:21 Uhr
Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann kann es nur geben, wenn Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder die eigenen Vorurteile überwinden, finden die Beobachter-Erziehungsexperten Sarah Renold und Walter Noser. Die 38-jährige Erziehungsberaterin und der 44-jährige Sozialarbeiter im Gespräch über Geschlechterfallen, Geschlechtermuster und deren Überwindung.
Beobachter: Kann man Mädchen und Knaben nicht einfach gleich erziehen?
Walter Noser: Eine sogenannt geschlechtsneutrale Erziehung ist nicht möglich - selbst wenn wir das wollten. Die Bilder in den Köpfen der Erwachsenen, wie ein Knabe oder ein Mädchen zu sein hat, sind viel zu stark. Das zeigt sich schon, kaum ist ein Kind auf der Welt: Eine der ersten Fragen ist jene nach dem Geschlecht. Wir brauchen diese Klassifizierung unbedingt, um zu wissen, wie mit einem Kind umzugehen ist.
Beobachter: Das bedeutet, wir behandeln ein Mädchen automatisch anders als einen Jungen?
Sarah Renold: Ja klar. Die Berührungen sind feiner, der Umgang ruhiger, wenn Erwachsene ein Mädchen im Arm halten. Mit Knaben geht man immer etwas gröber um. Dabei sind gerade sie von ihrer Konstitution her eigentlich das schwächere Geschlecht. Bei Früh- und Zwillingsgeburten zeigt sich, dass die Mädchen stärker sind.
Beobachter: Dann können wir also gar nicht anders, als die
Geschlechter ungleich zu behandeln. Was sollen dann all die Bemühungen um Chancengleichheit, wenn sie in der Praxis nicht funktionieren?
Renold: Es ist ganz sicher illusorisch, Kinder geschlechtsneutral erziehen zu wollen. Das ist meines Erachtens auch nicht nötig. Gleichwohl plädiere ich dafür, dass Eltern ihrem Sohn oder ihrer Tochter bewusst alle Möglichkeiten offenlassen und beispielsweise nicht gleich in Angst verfallen, wenn der Bub mit Puppen spielen will oder das Mädchen sich nur für Autos interessiert. Wichtig ist, dass man sein Kind und nicht dessen Geschlecht in den Mittelpunkt der Erziehung stellt.
Noser: Wird ein Kind auf seine Geschlechterrolle reduziert, kommt unweigerlich ein Teil des Menschseins zu kurz. Der menschlichen Seele ist es egal, ob sie männlich oder weiblich ist.
Beobachter: Aber das ist doch ein Widerspruch. Auf der einen Seite sagen Sie, es spiele keine Rolle, ob ein Mensch weiblich oder männlich sei, anderseits halten Sie es für ganz selbstverständlich, dass man gleich nach der Geburt nach dem Geschlecht eines Babys fragt.
Noser: Natürlich. Wir sind doch alle Kinder unserer Zeit, und daher ist das für mich ein Widerspruch, der logisch ist.
Beobachter: Eltern wollen also Chancengleichheit unter den Geschlechtern, können sich in der Praxis aber nicht den rollentypischen Bildern in ihren Köpfen entziehen. Damit drehen wir uns doch im Kreis.
Renold: Das muss nicht sein. Eltern können Gegensteuer geben, indem sie versuchen, offener zu werden...
Noser: ...und sich vor allem ihrer Vorurteile und Bilder bewusst sind.
Beobachter: Wie sollen Eltern das konkret machen?
Renold: Sie sollen ihre Kinder genau beobachten, um wahrzunehmen, wofür sie sich interessieren. Ein Mädchen kann sich besser entwickeln, wenn ihm nicht automatisch weniger als einem Buben zugetraut wird. Zudem finde ich es wichtig, die Kinder - egal welchen Geschlechts - in die Alltagsarbeiten zu integrieren, Mädchen und Knaben ganz bewusst Geschirr spülen und den Abfall hinuntertragen zu lassen. Das klingt zwar simpel, doch oft merken wir Erwachsenen gar nicht, wie sehr wir eine gewisse Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau verinnerlicht haben.
Noser: Es kann nichts schiefgehen, wenn Eltern sich der Problematik - ihrer Schere im Kopf also - bewusst sind.
Beobachter: Was können Eltern tun, damit ihr Mädchen keine Tussi, ihr Sohn kein Macho wird?
Renold: Ehrlich gesagt können sie da nicht viel beeinflussen. Obwohl die Eltern als Vorbild funktionieren, eifern die Kinder später anderen Idolen nach. Erziehung kann da wenig steuern.
Noser: Eltern können schliesslich nicht entscheiden, wie ihr Kind werden soll, so sehr sich das manche auch wünschen.
Renold: Eltern sollen ihr Kind begleiten, damit es in der Gesellschaft später seinen Platz finden kann. Auf Temperament oder Charakter aber haben sie keinen Einfluss.
Beobachter: Dass sich Buben vor allem im Teenageralter zuweilen aggressiv und gewalttätig verhalten, begründen Experten mit dem Fehlen männlicher Vorbilder. Spielt es Ihrer Meinung nach eine Rolle, wer erzieht?
Renold: Für ein Kind ist wichtig, dass es Bezugspersonen beider Geschlechter hat, an denen es sich orientieren kann. Aber es wird sicher keinen Schaden nehmen, wenn es nur von einem Geschlecht aufgezogen wird. Kinder in Frauenhaushalten erleben ja auch Götti, Grossvater, Lehrer und Sporttrainer.
Noser: Grundsätzlich spielt es meiner Meinung nach keine Rolle, ob ein Kind nur von Frauen oder Männern erzogen wird. Aber um sich in unserer Gesellschaft, so wie sie heute noch funktioniert, zurechtzufinden, ist es sicher besser, wenn Kinder nicht in einer reinen Frauen- oder Männerwelt aufwachsen.
Beobachter: Nach 30 Jahren Emanzipation scheint diese bereits wieder zu schwinden: Die einen wollen Buben wieder stärker fördern, andere proklamieren, die Frauen sollten zurück an den Herd.
Noser: Solche Entwicklungen dauern Generationen, schliesslich sind die Rollenbilder zementiert. Wir befinden uns jetzt erst in einer Phase, in der wir Neuland betreten. Und immerhin muss ich als Mann heute nicht mehr oben am Tisch sitzen und sagen, wo es langgeht.
Renold: Ich habe keine Angst, dass sich die Mädchen und Frauen die Freiheiten nehmen lassen, an die sie sich inzwischen gewöhnt haben. Es mag sogar sein, dass man die Buben und Männer etwas vergessen hat, und es nun gilt, sie sich emanzipieren zu lassen. Schliesslich steht es den Mädchen heute frei, die Haare kurz zu schneiden oder Hosen anzuziehen. Die Knaben hingegen tragen noch keine Röcke...
Noser: ...aber hoffentlich bald. Das wäre dann im Alltag gelebte Gleichberechtigung, bei der man aufgrund seines Geschlechts weder Vor- noch Nachteile hat.