«Ich bin dumm, ich gebärde»
Bis Ende der achtziger Jahre wurden Gehörlose von Lehrern geschlagen und schikaniert – weil sie die Gebärdensprache benutzten.
Veröffentlicht am 21. Dezember 2010 - 09:08 Uhr
Der Lehrer packt Cam Ly am Nacken, hebt sie hoch, schüttelt sie und sperrt sie in ein Schlafzimmer. Die 14-Jährige zittert und weint. So geschehen 1988 in einem Skilager in der tief verschneiten Lenk. Cam Ly hat mit Freundinnen gespielt. Sie und ihre Kolleginnen sind gehörlos. Im Eifer des Spiels hat Ly unwillkürlich die Gebärdensprache benutzt.
Harte Strafen für Gebärdensprache waren in den fünf Deutschschweizer Taubstummenschulen, wie sie früher hiessen, bis Ende der achtziger Jahre gang und gäbe. Das zeigt auch die bisher einzige Untersuchung zum Thema, eine Befragung von 20 Gehörlosen der Sprachheilschule St. Gallen.
In Münchenbuchsee BE musste die gehörlose Ly endlos Buchstaben und Wörter artikulieren. «Wenn ich mich mit der Gebärdensprache verständigte, schlug man mir mit dem Lineal auf die Finger.» Einmal musste Ly hundertmal den Satz «Ich darf nicht gebärden» von der Tafel abschreiben. «Über diese Lehrer bin ich heute noch wütend», sagt die inzwischen 36-jährige Hausfrau – natürlich in Gebärdensprache. Sie hatte das gleiche Bedürfnis wie hörende Kinder, wollte unbeschwert spielen – und durfte es nicht, weil man ihr den Ausdruck mit Gebärden verbot. Nicht nur Ly ging es so, sondern auch ihrem Mann Daniel. Oder Peter Hemmi: «Manchmal mussten wir mehrere Male ums Schulhaus laufen oder seitenlang abschreiben, nur weil wir gebärdet hatten», erzählt der 66-Jährige.
Der Grund für die Verteufelung der Gebärdensprache reicht ins Jahr 1880 zurück. Damals kamen Pädagogen und Ärzte in Mailand zu einem Kongress zusammen. Sie waren begeistert von der Entdeckung, dass Taubstumme gar nicht stumm, sondern «bloss» gehörlos waren und bei entsprechendem Training Worte artikulieren konnten. Bei diesem Training störe aber die Gebärdensprache, meinten die Fachleute. Sie «beeinträchtigt die Klarheit der Gedanken». Deshalb beschloss der Mailänder Kongress, «dass die Artikulationsmethode in der Bildung und Erziehung der Taubstummen der Gebärdensprache vorzuziehen ist». Alle beteiligten Experten von damals waren Hörende. Und ihr Entscheid verbannte die Gebärdensprache für mehr als ein Jahrhundert in den Untergrund. Fortan galt sie als minderwertige Sprache und wurde teils als «Affensprache» oder als «Diebessprache» verhöhnt, weil Affen und Diebe sich mit Zeichen und Mienenspiel statt mit Worten verständigten.
«Ich wurde bestraft, wenn ich die Gebärdensprache benutzt habe. Hat uns in der Taubstummenschule Wollishofen ein Lehrer dabei erwischt, hiess es: ‹Du bist dumm. Du gebärdest.› Und wir mussten wiederholen: ‹Ich bin dumm. Ich gebärde.›»
Peter Hemmi, 66, pensioniert
Dabei ist die Gebärdensprache ein altes Kulturgut, das es bereits seit dem antiken Rom gibt. Sie besteht nicht bloss aus simplen Handzeichen, sondern setzt Bewegungen, Bewegungsrhythmen, -geschwindigkeiten und -wiederholungen in Sinneinheiten um. «Gesprochen» wird sie nicht bloss mit den Händen, sondern auch mit Armen, Schultern, Kopf, Lippen, Zunge, Wange, Nase, Augen, Augenbrauen und der ganzen Stirnpartie. Und sie ist als natürlich gewachsene Sprache auch Seele und Heimat der Gehörlosen. «Gebärdensprache ist unsere Kultur. Sie ist schön, tänzerisch – wie Musik», sagt Peter Hemmi. «Für uns haben gewisse Gebärden weit mehr Gefühl als tausend Worte.»
Die Mailänder Beschlüsse von 1880 waren die Vorboten einer verhängnisvollen Entwicklung. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden Gehörlose von Psychiatern und Fürsorgestellen für geisteskrank erklärt. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden sie ermordet und in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg oft zwangssterilisiert. Die Unterdrückung der Gebärdensprache erscheint so wie der letzte Ausläufer einer grundsätzlichen Diskriminierung der Gehörlosen, die bis heute weiterwirkt. Bis ins Skilager, bis in die Schulstuben. So tat sich ein tiefer Graben zwischen Gehörlosen und Hörenden auf.
«In der Schule musste ich die Hände hinter dem Rücken halten und reden, reden, reden», erzählt Peter Hemmi. Deshalb habe er die meiste Zeit einseitig mit Artikulationsübungen verplempert und wenig inhaltlichen Schulstoff gelernt. «Ich musste immer Vokale artikulieren», erinnert sich Cam Ly. Das sei ein unglaublicher, ein wahnsinniger Aufwand gewesen – und eine riesige Zeitverschwendung.
Mit weitreichenden Folgen: «Die Unterdrückung der Gebärdensprache hat dazu beigetragen, dass der Bildungsstand unter den Gehörlosen in der Schweiz tief ist», erklärt Daniel Hadorn, Leiter des Rechtsdienstes des Schweizerischen Gehörlosenbundes. Im Unterschied zu nordischen Ländern gebe es in der Schweiz sehr wenig Akademiker unter den Gehörlosen, weil man hierzulande zu spät auf die zweisprachige Erziehung gesetzt habe und in den Gehörlosenschulen auch heute noch viel zu selten sowohl in Gebärden- wie auch in Lautsprache unterrichtet werde.
Erst 1985 wurde in der Schweiz eine Dolmetscherausbildung angeboten. Parallel dazu emanzipierten sich die Gehörlosen von den Hörenden. 1998 verliess der Schweizerische Gehörlosenbund den Verband für das Gehörlosenwesen, einen Verband hörender Gehörlosenfachleute, weil sich die Gehörlosen dort von den Hörenden bevormundet fühlten.
So richtig voran kam die Rehabilitierung der Gebärdensprache in der Schweiz erst in diesem Jahrtausend: Seit 2000 finanziert die Invalidenversicherung Dolmetscher am Arbeitsplatz, seit 2004 kann der Bund die Gebärdensprachenbildung und -ausbildung finanziell fördern, seit 2006 muss pro Tag und pro Amtssprache eine redaktionelle Sendung des Schweizer Fernsehens auch in Gebärdensprache gesendet werden. Im Jahr darauf hielt der damalige Bundesrat Moritz Leuenberger die erste Ansprache eines Regierungsmitgliedes in Gebärdensprache – etwas unbeholfen abgelesen vom Laptop, aber symbolisch von weitreichender Bedeutung.
«In der Öffentlichkeit ist die Gebärdensprache heute präsent und anerkannt», sagt Hadorn vom Gehörlosenbund. «In den Schulen und bei den Ärzten aber noch lange nicht.» Viel zu oft versuche man mit neuartigen Hörgeräten – den sogenannten Cochlea-Implantaten – Gehörlose zu Hörenden zu machen, statt sie sowohl in Laut- wie auch in Gebärdensprache zweisprachig zu fördern.
Diese Hörimplantate erleben einige Gehörlose als Vergewaltigung durch die Hörenden. So stellte sich zum Beispiel der gehörlose Slam-Poet Rolf Perollaz in einer Performance an einem Deaf Slam – einem Poetry Slam der Gehörlosen – vor, dass alle Hörenden in ein Konzentrationslager gebracht werden und ihnen dort das Trommelfell zerstört wird. Die Ärzte werden an die Wand gestellt. Die Provokation zeigt: Der Riss zwischen Gehörlosen und Hörenden geht noch immer tief.
Wie eine Geste der Versöhnung wirken deshalb die Beschlüsse des Fachkongresses im kanadischen Vancouver (siehe Infos). In der offiziellen Resolution werden die «verheerenden Auswirkungen» der Mailänder Beschlüsse bedauert. Die Entschuldigungserklärung wurde von rund zwei Dritteln hörender und einem Drittel gehörloser Fachleute verabschiedet.
«Das war ein sehr bewegender Moment», erzählt Tobias Haug, Professor an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich, der am Kongress in Vancouver dabei war. «Die Resolution wurde von Hörenden und Gehörlosen zusammen vorgetragen. Und genau das ist das wichtige Signal: Beide Gruppen müssen jetzt aufeinander zugehen.» Für Haug ist es mit der Erklärung von Vancouver alleine nicht getan. Noch immer seien die Mailänder Beschlüsse tief im kollektiven Bewusstsein verankert, dass nämlich die Gebärdensprache eine minderwertige Sprache sei. «Jetzt gilt es, mit vielen nationalen und regionalen Aktionen das neue Leitbild in der Gesellschaft, in den Schulen und in Fachkreisen zu verankern – dass nämlich Laut- und Gebärdensprache gleichwertig sind.»
<h3>Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm «verbotene Sprache» von Katrin Sutter und David Thayer.</h3>
Im Juli 2010 hat ein Fachkongress im kanadischen Vancouver die Gebärdensprache vollumfänglich rehabilitiert. In einer Resolution rief er «ein neues Zeitalter der Teilhabe und Zusammenarbeit mit gehörlosen Menschen» aus und stellte unter anderem folgende Forderungen auf:
- Gehörlose Kinder sind grundsätzlich und unvermeidlich zweisprachig.
- Gehörlose Kinder haben das Recht auf den uneingeschränkten Gebrauch zweier Sprachen: der Sprache der nichtbehinderten Mehrheit und der Gebärdensprache.
- Nichtbehinderte Menschen haben keine Rechte, die vorrangig vor denen behinderter Menschen gelten.
- Gehörlose Kinder haben das Recht darauf, dass Geschichte und Kultur der Gehörlosen in die Bildungsprogramme ihrer Schulen einbezogen werden.
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