Vor der grössten Berufsschule der Schweiz in Zürich steht eine Kuh. Die Schüler dürfen sie streicheln – als Abschluss einer zweistündigen, obligatorischen Unterrichtseinheit zum Thema «Die Milch machts – eine Informationsveranstaltung rund um das Thema Milch». Dabei gabs ein Glas Milch und die Botschaft, Milchprodukte seien unerlässlich, wenn man gesund bleiben will.

Der Milchverband Swissmilk gibt auch Pausenmilch an jährlich rund 360 000 Schulkinder ab, samt Broschüre, in der Eltern sogar erfahren, was zu tun ist, wenn Kinder keine Milch mögen: «Gemixt mit Sirup, Honig oder Kakaopulver und gut gekühlt, verlocken diese Drinks sogar hartnäckige Milchverweigerer zum Genuss.»

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Gewagte Behauptungen im Unterricht

Susanne Müller stört sich daran. Ihre zehnjährige Tochter Sabrina brachte von der Primarschule Unterlagen von Swissmilk nach Hause. «Milch ist unentbehrlich für Kinder wie Erwachsene», steht da drin. Sabrina Müller leidet wie rund ein Prozent der Kinder in der Schweiz an einer Kuhmilchallergie. Wenn sie Milch trinkt, bekommt sie Durchfall und Hautausschlag.

Auch die Aussage «Schweizer Milchbetriebe garantieren eine tierfreundliche Haltung» stösst Susanne Müller sauer auf. Denn laut Bundesamt für Landwirtschaft leben weiterhin rund 60 Prozent der Kühe in der Schweiz in Anbindehaltung. «Und viele stehen nach wie vor unter einem Kuhtrainer, einem Draht, der den Tieren Stromstösse erteilt, wenn sie den Rücken krümmen, um zu koten oder zu urinieren», sagt Hans-Ulrich Huber, Geschäftsführer des Schweizer Tierschutzbunds STS. Darum fragt auch Susanne Müller beim Beobachter nach: «Habe ich kein Anrecht darauf, dass mein Kind in der Volksschule ehrlich informiert wird?»

Wie neutral gesponsertes Unterrichtsmaterial wirklich ist, ist schwer zu fassen. «Models trinken Milch, weil sie schlank macht», heisst es in der Broschüre für Jugendliche. Und im Infoteil des Vorlesebüchleins für die Unterstufe steht: «Kinder brauchen Milch, weil sie die für das Wachstum notwendigen Nährstoffe enthält.» Auch begeisterte Milchtrinker müssen zugeben, dass beide Behauptungen gewagt sind. Immerhin enthält ein Deziliter Vollmilch 64 Kalorien – und der Grossteil der Menschen verträgt Milch gar nicht. Nur dort, wo der harte Winter keine pflanzliche Ernährung zuliess und unsere Vorfahren auf Viehzucht setzten, können Menschen Milch überhaupt verdauen: In Skandinavien sind es rund 80 Prozent, in Teilen Asiens und Afrikas hingegen nur wenige Prozent der Bevölkerung.

«Unsere Informationen zur Bedeutung der Milch in der gesunden Ernährung und zu den Empfehlungen, täglich drei Milchportionen zu trinken und zu essen, sind keine Werbung», schreibt Swissmilk in ihrer Stellungnahme. «Diese Empfehlungen decken sich vielmehr mit den offiziellen Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung und des Bundesamts für Gesundheit.» Zum Thema Tierschutz verweist Swissmilk auf den ökologischen Leistungsnachweis. Dieser verlangt von Schweizer Milchbauern, dass sie die Schweizer Tierschutzgesetzgebung einhalten.

Interessant: Auch die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung kommt nicht ohne Sponsoring aus. Unter den Gönnern finden sich neben den Schweizer Milchproduzenten Pharmafirmen und Multis wie Coca-Cola und McDonald’s. Die Gesellschaft für Ernährung verbreitet unter anderem die Ernährungspyramide, Kochbücher für den Hauswirtschaftsunterricht und Znüni-Empfehlungen.

Der Milchkonsum sinkt

Entwicklung des Milchkonsums pro Person und Jahr in den letzten 60 Jahren

Quelle: Thinkstock Kollektion
Wo Milch nicht vertragen wird

Weltweite Verteilung der Laktoseintoleranz

Quelle: Thinkstock Kollektion
«Neutralität ist garantiert»

Sicher ist: Die Produktion von Lehrmitteln für Schweizer Schulen ist ein attraktiver Markt. Die darauf spezialisierte Kik AG listet auf ihrer Website über 180 Unterrichtseinheiten auf. Alles gratis. Bezahlt wird das Material von Lobbyorganisationen wie Nagra, Swissnuclear und Pharmasuisse, aber auch von Bundesämtern, Non-Profit-Organisationen und Multis – der Pharmariese Bayer zum Thema Sexualität oder Nestlé Thomy zur «Faszination Essen». Neutralität sei in jedem Fall garantiert, versichert Kik-Chef Meinrad Vieli. Die sogenannten Kompetenzpartner bezahlen zwar die Produktion des Materials und stellen ihr Know-how zur Verfügung, produziert aber werden die Arbeitsblätter von Pädagogen, die bei der Kik unter Vertrag stehen. Firmenlogos und explizite Werbebotschaften sind verboten.

Einzig grosse Player wie die Post oder der Milchverband, der jährlich 1,6 Millionen Franken in die Produktion von Lehrmitteln und in Aktionen wie die Pausenmilch investiert, produzieren ihre Lehrmittel selber und bieten sie via Kiknet zum Download an. Die Zahlen der Plattform sind beeindruckend: 23'000 Lehrkräfte haben sich bisher registriert. Pro Monat werden 30'000 bis 40'000 Unterrichtseinheiten heruntergeladen, zu den Spitzenreitern gehören diejenigen zum Thema Wetter von Meteo Schweiz und zum Thema Sehen von Fielmann. «Für die Lehrkräfte», so Meinrad Vieli, «ist unser Angebot äusserst interessant, denn unsere Lehrmittel belasten das ohnehin schon knappe Budget nicht.»

Von 1931 an gabs Pausenmilch

Von Interessengruppen und Verbänden hergestellte Lehrmittel gibt es schon lange. Der Historiker und Direktor des Archivs für Agrargeschichte Peter Moser hat mit «Milch für alle» ein Buch zur Geschichte der Milchpolitik in der Schweiz geschrieben. Mosers Recherchen zeigen, dass die «Propagandazentrale der Schweizerischen Milchkommission» bereits 1925 Vortragstexte für Schulen produzierte, «weil die meisten Lehrbücher der Primar- und Mittelschulen der heranwachsenden Jugend keinerlei nähere Kenntnisse über die Milchwirtschaft vermitteln». 1931 wurde an den ersten Schulen Pausenmilch verteilt. 1933 ging man sogar davon aus, dass Milchtrinken in der Schule mit der Zeit zu einem Schulfach wie Turnen und Baden würde.

So weit kam es nicht. Die Euphorie schwand, und in den fünfziger Jahren wurden erste Stimmen gegen Milch als Zwischenverpflegung laut. Kinderärzte befürchteten, dass die Mägen der Schüler zur Zeit des Mittagessens noch prall gefüllt wären, wenn sie in der Zehn-Uhr-Pause 200 Gramm Milch tränken.

Dass Firmen versuchen, über die Schule an Kunden zu kommen, ist ebenfalls nicht neu. Der Berner Erziehungswissenschaftler Markus Heinzer hat für eine Forschungsarbeit zum Thema «Schülerspeisungen» historische Protokolle von Schulbehörden gesichtet. Er fand Erstaunliches: So stellte die Firma Wander bereits im Jahr 1939 im Berner Schosshaldequartier einen Antrag, den Kindern Ovomaltine ausschenken zu dürfen. Die Anfrage wurde von der Oberlehrerkonferenz der Stadt Bern ausgeschlagen. «Aus erzieherischen Gründen», sagt Markus Heinzer. Man habe die armen Kinder zu Nüchternheit und Mässigung erziehen wollen, nicht dazu, Luxusprodukte zu konsumieren.

Heute wehrt sich keine Oberlehrerkonferenz mehr, wenn Firmen und Lobbyorganisationen in Schulen tätig werden. Die Präsidentenkonferenz des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) hat sich zwar vor einigen Jahren zu gesponsertem Unterrichtsmaterial geäussert, aber verbindliche Regeln dafür fehlen. Der LCH schreibt zwar: «Gesponserte Lehrmittel müssen fachlich korrekt sein (State of the Art), sie haben in umstrittenen Fragen die wichtigsten kontroversen Standpunkte fair abzubilden und sie dürfen keinerlei Produktewerbung enthalten.» Wie diese Richtlinien im Schulzimmer umgesetzt werden, ist laut LCH-Zentralpräsident Beat W. Zemp aber allein den Lehrern überlassen. «Eine Lehrperson ist heute dafür ausgebildet, versteckte Werbung zu erkennen», ist Zemp überzeugt. Tatsache ist: Ohne Regelung entscheiden allein die Vorlieben der Lehrkraft über den Einfluss von Firmen und Lobbyorganisationen in der Schule.

Worüber Schüler kein Wort lesen

Zemp stört sich nicht an den Promoaktionen von Swissmilk. Vor drei Jahren ging er allerdings höchstpersönlich auf die Barrikaden, als er die – von Kollegen rege genutzten – Unterrichtseinheiten zu Energiequellen von Swissnuclear sah. Swissnuclear erwähnte zwar die Nachteile von Solarenergie und Geothermiekraftwerken. Zur Nuklearenergie fanden sich in den Unterlagen viele Vorteile, Nachteile suchte man aber vergebens.