Schulleiter im Schleudersitz
Schulen sollen dank Schulleitern professioneller werden. Doch diese werden oft zwischen Laiengremien, unwilligen Kollegen und Bürokratie zerrieben.
Veröffentlicht am 3. Juli 2009 - 15:25 Uhr
Das hatte sich Walter Hugentobler anders vorgestellt. Nach anderthalb Jahren kündigte er als Schulleiter in Halingen TG. Aus Selbstachtung: «Meine Entscheidungen wurden von der Schulratspräsidentin untergraben.» Eine geleitete Schule funktioniere jedoch nur, wenn die Laienbehörde die operative Führung abgebe und sich um strategische Belange kümmere. Dennoch ist Hugentobler vom Modell der geleiteten Schule überzeugt. Der 45-jährige Sekundar- und Berufswahllehrer war zuvor bereits andernorts Schulleiter – ohne Kompetenzgerangel. Dass es kein Honigjob ist, weiss er: «Behörden und Lehrer müssen sich an ihre neuen Rollen erst gewöhnen. Das birgt Konfliktpotential.» Das Ganze sei aber zu bewältigen, wenn der Schulleiter gestützt werde. Hugentobler wird andernorts dieselbe Funktion übernehmen.
Das ist für Brigitt Baumgartner nach ihrem abrupten Rauswurf als Schulleiterin in Kriessern SG noch offen. Die 52-Jährige wurde nach zweieinhalb Jahren freigestellt, nachdem eine Elterngruppe gegen sie opponiert hatte. Über die Hintergründe schweigt sich der Schulrat aus. Baumgartner hat sich einen Anwalt genommen und analysiert ihren Fall nüchtern: «Schulleitungen bringen eine Professionalisierung. Sie stehen aber oft Schulräten gegenüber, die von pädagogischen Inhalten weniger Ahnung, aber trotzdem das letzte Wort haben.» Und die Mitglieder des Laiengremiums Schulrat seien oft Eltern von Schülern und damit parteiisch – und würden darob ihre Verantwortung für die Schule als Ganzes vergessen. Baumgartners bittere Erkenntnis: «Eine kleine Minderheit kann die Vertrauensbasis zerstören. Das tut weh und ist teuer zugleich.» Auch sie verlangt klarer definierte Kompetenzen für die Schulleitungen.
Geleitete Schulen gibt es mittlerweile in allen Kantonen; nationale Daten über die Anzahl fehlen jedoch. In der Deutschschweiz führten die Innerschweizer das Modell in den neunziger Jahren als Erste ein, in anderen Kantonen hat man erst die Erfahrung weniger Jahre. Auch was Schulleiter zu sagen haben, variiert je nach Kanton und Gemeinde – Bildungsföderalismus pur. Allgemeine Zielsetzung des Modells ist es, dass die Schulleiter den Unterricht weiterentwickeln: Die Schulen in der Schweiz sollen eigenständiger, teilautonomer werden.
Bei der Umsetzung harzt es. Was Hugentobler und Baumgartner widerfahren ist, passiert reihenweise in helvetischen Schulhäusern. Allein in den ersten sechs Monaten 2009 gibt es Dutzende Presseartikel wie diese: «Schulleiter hat infolge unterschiedlicher Auffassungen über die Führung der Schule Unterlunkhofen gekündigt» («Aargauer Zeitung»); «Schulleiter wirft an der Schule Pfungen wegen zu hoher Arbeitsbelastung das Handtuch» («Der Landbote»); «Eklat an der Schule Bätterkinden: Schulleiter von der Gemeinde freigestellt» («Berner Zeitung»). Da stellt sich die Frage: Wer will diesen Job noch übernehmen?
Tatsächlich fühlt sich ein beträchtlicher Anteil der Leiter nicht wohl in ihrer Haut. Eine Umfrage der Zürcher Bildungsdirektion zeigt, dass fast ein Drittel mit den ihnen zugesprochenen Kompetenzen unzufrieden ist. Im Aargau klagt ein guter Teil der Schulleitenden über zeitliche Überlastung und zu viel Aufwand für Administration. In einer Thurgauer Erhebung vom Frühjahr 2008 äussern vor allem jüngere Schulchefs viel Missmut: Gerade mal 44 Prozent waren mit ihrer Arbeitssituation zufrieden. 11 der 85 Befragten fühlten sich körperlich schlecht bis sehr schlecht. Bei 15 Kündigungen waren das unzureichende Pensum und die «Opferrolle» bei der Einführung der geleiteten Schule die Hauptmotive.
Beklagt wurde vor allem die mangelnde Kooperation von altgedienten Lehrpersonen, die Abhängigkeit von der Schulbehörde und die nicht gewährte administrative Entlastung. Die Basis – die Lehrer, traditionell Einzelkämpfer – hat nicht nach der geleiteten Schule gerufen. Viele akzeptieren die neue Ordnung unwillig und müssen erst lernen, sich als Teil einer lernenden Organisation zu begreifen.
Die erste Generation der Schulleitenden wird schnell verheizt. «Der Verschleiss ist in den ersten fünf Jahren am höchsten», sagt Erziehungswissenschaftler Anton Strittmatter. Er ist beim Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer in der Schulleiterausbildung tätig. Strittmatter spricht von einer «historischen Umbruchsituation». Die kommunalen Laienbehörden seien zwar generell auf dem Rückzug, mischten sich mancherorts aber immer noch kräftig operativ ein: «Solange das geschieht, bleibt es konfliktträchtig» (siehe Box «Stolpersteine für Schulleiter).
Als positives Beispiel erwähnt Strittmatter den Kanton Luzern, wo sich das System der geleiteten Schule innert 20 Jahren etabliert habe. Was ist das Erfolgsrezept? «Es braucht starke Persönlichkeiten mit gut geklärter Verantwortung.» Strittmatter verlangt eine professionelle Ausbildung, mehr Verantwortung auch für den Lehrplan und weniger «bürokratischen Selbstdarstellungs- und Berichtskram». Doch auch unter verbesserten Bedingungen ist die Funktion schwierig genug. «Manager aus der Wirtschaft würden die Flucht ergreifen», so Strittmatter. «Ihnen käme der Schulbetrieb als nicht führbar vor.» Dies fange beim überladenen, widersprüchlichen und diffusen Auftrag der Schulen an und ende damit, dass es keine breit anerkannten Standards fürs Kerngeschäft Unterrichten gebe.
Die Flucht ergriffen hat auch Florian Dorn, während zweier Jahre Schulleiter in Uster ZH: «Ich kam gar nicht dazu, das zu tun, was ich eigentlich sollte – die Schule weiterzuentwickeln. Ich hatte über 60 Lehrpersonen zu betreuen. Das ist zu viel.» Dorn störte sich zudem an der Überregulierung durch den Kanton, dem es nicht um Schulqualität, sondern um Kontrolle gehe. Positiv äussert sich der Ex-Schulleiter hingegen zur Schulpflege: «Die operativen Kompetenzen waren mir weitgehend übertragen. Ich war für die Personalrekrutierung und die Mitarbeiterbeurteilung verantwortlich und hatte Budgetverantwortung.»
Wofür braucht es da überhaupt noch Schulpflegen? Dazu die Ustermer Stadträtin Sabine Wettstein-Studer, Präsidentin der Primarschulpflege: «Wir sind ein politisch breit abgestütztes Gremium, das die Leitplanken festlegt. Wir stellen die Infrastruktur zur Verfügung, beschaffen die Ressourcen und sichern die Qualität.» Diese Qualitätssicherung ist für Anton Strittmatter jedoch schweizweit ein ungelöstes Problem: «Wer ist Vorgesetzter der Schulleitenden und kann intervenieren? Wenn die Schulpflege als Laiengremium entscheiden muss, ist das eine unstabile Situation.» Und die Fachstellen für externe Schulaufsicht sind für Strittmatter zu weit weg vom Geschehen: «Es braucht eine nahe Begleitung mit hoher fachlicher Autorität durch ein professionelles Inspektorat bei den Kantonen.»
Eine weitere Konsequenz ist für ihn eine neue Rolle für die Laienbehörden, sobald «Schulleitungen etabliert und genügend qualifiziert sind». Das sei keine Abschaffung der Schuldemokratie: «Elternräte ohne operative Zuständigkeiten könnten die Schulpflegen ersetzen.»
Stolpersteine für Schulleiter
Bildungsfachmann Anton Strittmatter, Befürworter des Modells der geleiteten Schule, sieht folgende Stolpersteine auf dem Weg zu einer guten Schulleitung:
- Rollenkonflikte: Schulleiter dürfen weder die unterste Kommandostufe der Schulbehörde noch die Speerspitze der Lehrer gegenüber Behörde oder Eltern sein – sie müssen bewusst dazwischenstehen. Und: Sie sollten nicht an derselben Schule unterrichten.
- Kompetenzgerangel: Schulpflegen mischen sich in operative Tagesfragen ein, und Schulleiter müssen für allzu viele Entscheide eine Bewilligung einholen. Auch schwierig: mangelnde Ermächtigung durch das Lehrerkollegium.
- Gruppendynamik: Ungeleitete Schulen haben eine starke informelle Hierarchie. Die neue Leitung bringt diese Dynamik durcheinander. Informelle Leader müssten in die Leitung eingebunden werden, loyal sein oder gehen – sonst herrscht eine chronische Mobbingsituation.
- Überlastung: Meist sind Schulleitungen für diese Funktion krass unterdotiert. Das führt zu Fehlern, vorzeitigen Abgängen und Burn-out-Schäden.
- Do it yourself: Anstatt von funktionierenden Modellen und externer Beratung zu profitieren, basteln sich viele Gemeinden ihre geleitete Schule selber. Das führt oft zu teuren Dauerkonflikten.
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