Schnell integrieren – aber wie?
13'600 schulpflichtige Kinder und Jugendliche sind aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Wie schaffen das die Schulen, die schon vorher zu wenige Lehrpersonen hatten?
Veröffentlicht am 13. Juni 2022 - 16:50 Uhr
Vanya Potapenko ist elf und gerade ziemlich frustriert. «Den ganzen Tag habe ich nur Deutsch in der Schule», klagt der junge Ukrainer. Dann schiebt er nach, dass er noch eine Stunde Sport habe pro Woche, etwas Englisch und Zeichnen. Dabei würde er viel lieber Mathematik machen. «Das Beste an der Schweizer Schule sind die Burger in der Mensa», sagt er und grinst.
Seine Schwester Kateryna, die auch für den Beobachter schreibt, knufft ihn in die Seite, dann meint er: «Okay, dass wir uns im Schulzimmer frei bewegen können und die Lehrer weniger streng sind, gefällt mir auch.»
Vanyas Lage sei nicht sehr befriedigend, sagt die 28-jährige Kateryna Potapenko. In seiner Aufnahmeklasse seien 16 ukrainische Kinder zwischen sieben und elf, Vanya sei einer von zwei Elfjährigen. Er langweile sich. Und zu den Kindern der Regelklasse habe er kaum Kontakt. «Ich sehe sie nur in der Mensa und in der Pause», sagt der Junge.
Vanyas grosses Problem ist aber: Er kann nicht am Online-Unterricht seiner Schule in Kiew teilnehmen, die Winterthurer Schule ist zu wenig flexibel. Die Lektionen werden nicht aufgezeichnet, die Lehrer können ihm nur die Hausaufgaben über eine App schicken. Die macht er dann meist am Sonntag, wenn er die Aufgaben der Schweizer Schule erledigt hat.
In der Ukraine hatte Vanya pro Woche vier Lektionen Mathematik, dazu Englisch, Ukrainisch, Literatur, Geschichte, Biologie, Kunst, Musik, Sport, Informatik und Werken. «Ich vermisse meine Freunde und die Mathestunden.»
Martha Jakob ist Präsidentin der Kreisschulpflege Seen-Mattenbach in Winterthur, wo Vanya die Schule besucht. Sie sehe sein Problem, aber es gehe leider im Moment nicht anders. Die Kinder würden in der Mittelstufe nach einer Startphase im Englisch- und Französischunterricht und teilweise im Sport in einzelnen Fächern in die Regelklasse integriert. «Denn auch für Mathematik braucht es ein Mindestmass an Deutschkenntnissen.» Zudem könnten sich die Kinder erst richtig konzentrieren, wenn sie etwas zur Ruhe gekommen sind.
Vanyas Lehrerin – auch sie aus der Ukraine zugereist – habe die Klasse erst kürzlich übernommen. Laut Jakob brauchen Kinder wie Lehrerin jetzt Zeit, um sich in der neuen Situation einzufinden. Myriam Ziegler, Leiterin des Zürcher Volksschulamts, sagt, der Fokus von Aufnahmeklassen liege während der ersten Monate auf dem Deutscherwerb. Danach sollen die Kinder dem Alter entsprechend in allen Fächern unterrichtet werden. Nach spätestens einem Jahr müssen sie in die Regelklasse integriert sein, verlangt das kantonale Gesetz.
Ob die ukrainischen Kinder nach den Sommerferien in einzelnen Fächern die Regelklasse besuchen können, hänge stark vom individuellen Fortschritt in der deutschen Sprache ab, sagt Jakob. «Doch es ist unser Ziel, sie so rasch wie möglich zu integrieren. Die Kinder gehören zu uns.» Im Winterthurer Schulkreis Seen-Mattenbach wurden 80 Kinder aus der Ukraine in vier Aufnahmeklassen, in Kindergärten und 1. Klassen eingeschult. Für alle neuen Klassen eine geeignete Unterrichtsperson zu finden, sei nicht einfach, sagt Jakob.
«Die Integration der ukrainischen Kinder ist eine zusätzliche Belastung.»
Sabina Larcher, Rektorin der Pädagogischen Hochschule Thurgau
Schon vorher waren im Kanton Zürich über 700 Stellen unbesetzt. Gleichzeitig sind über 2200 Kinder aus der Ukraine in den Kanton Zürich gekommen und weitere 2500 aus anderen Kantonen zugezogen, schätzt das Volksschulamt Zürich. Es sei unmöglich, alle auf bestehende Klassen zu verteilen.
Wie in der ganzen Schweiz gibt es im Kanton Zürich nicht genug Lehrpersonen. Der Kanton hat deshalb die Anstellungsbedingungen gelockert. Neu dürfen die Gemeinden auch Personen einstellen, die noch nicht über ein anerkanntes Lehrdiplom verfügen, etwa Studierende der pädagogischen Hochschule. Auch sie können nun unterrichten.
Pragmatische Unterstützung von der Hochschule
Das Problem der fehlenden Lehrpersonen beschäftige auch die pädagogischen Hochschulen, sagt Sabina Larcher, Rektorin der PH Thurgau. Bereits während der Corona-Pandemie mussten die Schulen teils improvisieren. «Die Integration der ukrainischen Kinder ist nun eine zusätzliche Belastung.» Bislang sind über 13'600 schulpflichtige Kinder in die Schweiz eingereist. Niemand könne abschätzen, wie sich die Lage entwickeln werde.
Um die Schulen zu unterstützen, geht die Pädagogische Hochschule Thurgau pragmatisch vor. Bislang durften die Studierenden während des Semesters an zwei Terminen fehlen. Während der Corona-Pandemie durften sie vier Terminen fernbleiben, wenn sie unterrichteten. Diese Regelung wurde nun für die Ukraine-Situation verlängert. «Wir ermuntern die Studierenden, sich für praktische Einsätze zu melden und kürzere Vertretungsstellen anzunehmen.»
Zudem sei es auch möglich, in höheren Semestern das Studium in Teilzeit zu absolvieren und in einem kleinen Fixpensum an einer Schule zu arbeiten, so Larcher.
Ortswechsel. Sekundarschulzentrum Egelsee in Kreuzlingen TG. Sieben Stundenpläne hängen an der Wand, auf einer Karte stecken Fähnchen mit Namen: eines in Kiew, ein anderes in Boryspil, eines südlich von Kiew, eines in Charkiw, zwei in Kramatorsk, eines in der Nähe von Saporischschja. Der 13-jährige Gleb konjugiert laut das Verb arbeiten, Danilo macht einen Spruch auf Ukrainisch, die sieben Knaben lachen. Die 12- bis 15-Jährigen besuchen wie jeden Morgen den Deutschkurs bei Lehrer Thomas Meier.
Der 60-Jährige schreibt lächelnd «ich arbeit -e, du arbeit -est» an die Tafel, legt dann einem Jungen die Hände auf die Schultern und sagt, er soll sich wieder setzen. Dann erklärt er ihm nochmals, wie er die Papierschnipsel mit den Sätzen in sein Heft kleben soll.
«Mir ist klar, dass nicht alle immer gleich motiviert sind, aber ich lasse das bewusst zu.» Sie sollen selbst merken, dass sie nur mit Engagement weiterkommen. «In der Ukraine gibt der Lehrer vor, wie sie arbeiten müssen, bei uns sollen sie mehr eigene Lernstrategien entwickeln», sagt Meier.
Nach den zwei Lektionen Deutsch schauen die Schüler auf der Stundenplanwand, wo sie nun hinmüssen. Danilo und vier Kollegen holen ihre Laptops und Kopfhörer aus dem Spind und vertiefen sich in die Online-Lektionen ihrer ukrainischen Schule. Gleb besucht eine Lektion Sport mit einer Regelklasse.
Bei Yegor stehen zwei Lektionen Mathematik auf dem Programm. Der 13-Jährige ist mit seiner vierjährigen Schwester und dem vierjährigen Cousin aus Kiew zu einer Verwandten in die Schweiz geflüchtet, seine Mutter und sein Vater leisten in der Ukraine Militärdienst. Yegor ist gut in Mathematik, darum hat ihm Fabienne Baier mehr Lektionen zugeteilt als seinen sechs Kollegen. Die 47-Jährige ist stellvertretende Schulleiterin und verantwortlich für die Aufnahmeklasse.
Bei ihrer Ankunft hat Baier für jeden Schüler und jede Schülerin einen eigenen Stundenplan erstellt und ein Ukraine-Team gebildet. «Wir möchten die Kinder möglichst rasch integrieren . Das geht am besten, wenn sie getrennt voneinander den Unterricht in den Regelklassen besuchen.»
Ukrainische Finanzspezialistin unterstützt die Schule
Der Plan scheint aufzugehen, Yegor mag die Schweizer Schule. «Der Stoff wird hier viel spannender vermittelt, und ich habe eine gute Klasse erwischt.» Obwohl er etwas schüchtern sei, habe er schon Kontakt zu den Schweizer Schülern geknüpft – auf Englisch. Das Deutsch bereite ihm noch Mühe, lässt er Olga Dzyana übersetzen.
Die 40-jährige Ukrainerin ist Mitglied von Baiers Ukraine-Team. Die Finanzspezialistin und zweifache Mutter unterstützt die Schule als Übersetzerin. Doch sie ist weit mehr als das: Dzyana erklärt den Eltern, wie die Schweizer Schule funktioniert, hört den Jugendlichen am Montagmorgen zu, was sie übers Wochenende erlebt haben, und vermittelt, wenn die Kinder in Konflikt mit den Schweizer Gepflogenheiten geraten.
Fabienne Baier ist froh um die Hilfe. «Ohne Olga wären wir ziemlich aufgeschmissen. Viele Eltern und Begleitpersonen können kein Englisch, und niemand von unserer Schule versteht Ukrainisch.» Insgesamt 14 Kinder besuchen in zwei Schulen in Kreuzlingen die Oberstufe, 636 schulpflichtige Kinder aus der Ukraine befinden sich im Kanton Thurgau.
Es brauche – neben den Deutschstunden – deutlich mehr Koordination als sonst, sagt Baier. Etwa, wenn die Regelklasse im Lager sei und die ukrainischen Schüler nicht mit ihnen Mathematik oder Sport machen können. Baier, Meier und weitere Lehrpersonen haben daher ihre Pensen erhöht. Eine Zusatzbelastung, aber bisher machbar. «Und es ist auch sehr spannend, eine andere Kultur kennenzulernen.»
Hoffen auf Möglichkeiten in Kiew
Demnächst werde entschieden, welche Regelklasse die Kinder aus der Ukraine nach den Sommerferien besuchen werden. «Wir planen sie fix ein. Sollte eines dann nicht mehr in der Schweiz sein, ist das leichter zu handhaben, als wenn wir erst nach den Ferien mit der Einteilung beginnen.»
Die Kinder sollen möglichst in separate Klassen kommen, die Deutschstunden auf vier Lektionen pro Woche reduziert werden, die sie einzeln oder mit Kindern aus anderen Ländern besuchen werden. «Wir wollen verhindern, dass sich die Kinder aus der Ukraine in abgespaltenen Grüppchen bewegen.» Ein Plan, der schon jetzt zu funktionieren scheint. «Natürlich lernen Kinder schneller Deutsch, wenn sie während Wochen intensiv nur das machen. Aber wenn ich sehe, dass ein ukrainisches Kind in der Pause inmitten der Kinder aus der Regelklasse steht, macht mir das Freude.»
Vanya Potapenko und seine Schwester Kateryna hoffen, dass die Lage im Zentrum von Kiew so stabil bleibt wie im Moment. «Dann können wir Ende Juni zurückkehren, und Vanya kann nach den Sommerferien an eine auf Mathematik und Technik spezialisierte Schule wechseln.»
1 Kommentar
Kinder im Schulalter von Asylanten, Migranten, dürfen NICHT überfordert werden mit: "schnell Integration" durch die eh schon sehr geforderten Lehrpersonen schweizweit!
Kinder von Asylanten, "lernen zusammen mit ihren ELTERN zu Hause": Sprache, Regeln, Gesetze, Gepflogenheiten, welche zu einer "Integration" gehören!
Dann können die Kinder in den Schulbetrieb miteinbezogen werden! Eltern = Vorbilder der Kinder! Wer Kinder hat, hat klare Erziehungs-Aufgaben zu erbringen, was auch bei einer Migration in ein anderes Land integrativ - aus logischem Eigeninteresse - umgesetzt werden muss!!