Der Bombenbauer bekam ein Visum
Der grösste Terroranschlag der Schweiz bleibt ein Rätsel. Jetzt zeigt sich: Der Geheimdienst verdächtigte einen berüchtigten Bombenbauer – griff aber nicht zu.
Veröffentlicht am 19. September 2017 - 11:02 Uhr,
aktualisiert am 19. September 2017 - 10:31 Uhr
Sie schweigt schon seit Jahren, die Schweizer Bundesanwaltschaft. Sie schweigt sogar, wenn sie etwas sagt. Und so bleibt unklar, warum am 21. Februar 1970 bei Würenlingen eine Swissair-Maschine abstürzte und 47 Menschen ums Leben kamen. Beim Flug von Zürich nach Tel Aviv war kurz nach dem Start eine Bombe explodiert. Das Attentat wird der Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC) zugeschrieben. Die mutmasslichen Täter, vier Palästinenser, kamen nie vor Gericht.
Es ist auch ein Rätsel, warum die Bundesanwaltschaft das im Jahr 2000 eingestellte Strafverfahren gegen die mutmasslichen Täter nicht wieder aufnimmt, obschon mehrere wichtige neue Details zum Fall auftauchten.
Der neuste Puzzlestein: Seit mehr als einem Jahr verweigert die Bundesanwaltschaft dem Beobachter Zugang zu einem Bericht über den international berüchtigten Topterroristen Carlos. Darin sind Angaben zum Flugzeugabsturz von Würenlingen 1970 enthalten. Diesen Bericht erwähnte die interdepartementale Arbeitsgruppe, die vor einem Jahr das Verhältnis der Schweiz zu den Palästinensern um das Jahr 1970 untersuchte. Zuvor hatte die NZZ publik gemacht, dass die Schweiz im Herbst 1970 auf höchster Ebene ein geheimes Stillhalteabkommen getroffen habe. Offiziell hat es bis heute kein solches Agreement gegeben.
Inzwischen hatte der Beobachter trotz amtlicher Verweigerung Einsicht in das Dokument. Im über 600-seitigen vertraulichen Bericht fasste die Bundespolizei am 13. Januar 2000 ihre Erkenntnisse zum Topterroristen Carlos zusammen.
Der Beobachter hat schon mehrfach über die Hintergründe des Attentats von Würenlingen berichtet.
- 12.10.2010 – Mantel des Schweigens
Ein bisher geheimes Dokument, das die Bundesanwaltschaft dem Beobachter aushändigen musste, wirft ein neues Licht auf das Swissair-Attentat von 1970, bei dem 47 Menschen starben. zum Artikel
- 21.12.2010 – Geheimakte Würenlingen
Die Hintermänner des Swissair-Attentats von 1970 hatten womöglich auch beim Lockerbie-Anschlag ihre Finger im Spiel. Darauf deutet ein geheimes Protokoll hin. zum Artikel
- 05.06.2012 – Lockerbie: Steckte Libyen dahinter?
Das wohl wichtigste Beweisstück, das zur Verurteilung eines libyschen Geheimdienstlers führte, war wahrscheinlich gefälscht. zum Artikel
- 02.07.2012 – Den Bombenbauer ignorierten sie
Die Bundesanwaltschaft merkte jahrzehntelang nicht, dass ein berüchtigter palästinensischer Bombenbauer seine Finger im Spiel hatte. zum Artikel
- 18.01.2016 – Geheimer Deal mit der PLO
46 Jahre nach dem Attentat von Würenlingen wird klar, warum die Terroristen nie vor Gericht kamen: Die Schweiz hatte mit Palästinensern einen geheimen Deal geschlossen. zum Artikel
- 13.09.2016 – Was genau wusste das FBI?
1970 fand der grösste Terroranschlag in der Schweiz statt. Jetzt taucht ein Bericht des FBI auf. Brisant: Eine der Spuren führt nach Zürich. zum Artikel
- 19.09.2017 – Der Bombenbauer bekam ein Visum
Der grösste Terroranschlag der Schweiz bleibt ein Rätsel. Jetzt zeigt sich: Der Geheimdienst verdächtigte einen berüchtigten Bombenbauer – griff aber nicht zu. zum Artikel
- 16.08.2018 – Der Absturz bleibt ungeklärt
Der Terroranschlag auf eine Maschine der Swissair im Jahr 1970 wird nicht neu untersucht. zum Artikel
- 14.02.2020 – «Ich will endlich wissen, was passiert ist»
Die Behörden sollen ihre Archive öffnen, fordert Ruedi Berlinger. Sein Vater war Pilot der Swissair-Maschine, die vor 50 Jahren über Würenlingen AG explodierte. zum Artikel
Dieser sitzt seit 1994 in Frankreich im Gefängnis, zu mehrfach lebenslanger Haft verurteilt. Mit dem Swissair-Absturz direkt hatte er nichts zu tun. Doch im Bericht listet die Bundesanwaltschaft die Anschläge palästinensischer Extremisten der sechziger und siebziger Jahre auf. Zum Bombenanschlag auf die Swissair-Coronado vom 21. Februar 1970 heisst es: «Es gelang in der Folge, die nachstehenden Tatverdächtigen zu ermitteln.» Neben den vier einschlägig bekannten Verdächtigen listet die Bundespolizei auch explizit Marwan Khreesat auf.
Khreesat ist kein Unbekannter. Er diente der terroristischen Palästinenserorganisation PFLP-GC über Jahre hinweg als Bombenbauer. Heute lebt er vermutlich irgendwo in Syrien. In den offiziellen Ermittlungsberichten von 1970 war er nie ein Thema. Damals tauchte aber ein «Marwan» auf. Der Hauptverdächtige beim Attentat von Würenlingen, Sufian Kaddoumi, hatte einer Freundin wenige Tage vor dem Anschlag geschrieben, er wolle «Bruder Marwan» treffen. Dieser sei als Steward der jordanischen Fluggesellschaft nach München geflogen. Die Ermittler gingen davon aus, dass Marwan den Sprengstoff für die Bombe geliefert hatte. Dass Marwan nicht der leibliche Bruder von Kaddoumi sein muss, sondern ein «Bruder» im Sinn eines Gesinnungsgenossen ist, fiel den Ermittlern erst 20 Jahre später auf.
Im Herbst 1988 explodierte die Pan Am 103 über der schottischen Kleinstadt Lockerbie. 270 Menschen starben. Zwei Monate zuvor war Marwan Khreesat in den Fokus der internationalen Ermittler gerückt. Damals gelang dem deutschen Bundesnachrichtendienst ein aufsehenerregender Schlag gegen palästinensische Extremisten. Über ein Dutzend Palästinenser wurden in der «Aktion Herbstlaub» verhaftet, darunter Marwan Khreesat.
Bei ihm fand man mehrere Bomben. Er gab auch zu, sie konstruiert zu haben. Khreesat beteuerte, die Bomben hätten nicht funktioniert, er arbeite in Wahrheit für den Bundesnachrichtendienst und habe dazu beitragen wollen, die Extremisten zu schnappen. In der Folge wurde er freigelassen. Wenige Wochen später explodierte der Jumbo-Jet über Lockerbie.
Weil das Attentat auf die Pan Am dem Muster von Würenlingen glich, kam es im Mai 1989 zu einem Treffen zwischen schottischen und Schweizer Ermittlern. Dabei beschrieben die Schweizer Khreesat als einen der möglichen Hintermänner des Anschlags von Würenlingen.
Die Akten von Mitte der neunziger Jahre, die der Beobachter nun beschaffen konnte, werfen ein eigenartiges Licht auf die Arbeit der Bundesanwaltschaft. Das Dossier umfasst die Ermittlungen der damaligen Bundesanwältin Carla Del Ponte. Sie liess in Deutschland Unterlagen über Marwan Khreesat einholen. Unter anderem Khreesats Visumsantrag für die Schweiz vom 6. September 1988, also wenige Wochen vor dem Anschlag in Lockerbie, den er auf der Schweizer Botschaft in Amman eingereicht hatte. Sechs Tage später wurde ihm die Einreise erlaubt, obwohl er seit einem versuchten Bombenanschlag in Rom 1972 international zur Verhaftung ausgeschrieben war. Ob Khreesat tatsächlich nach Zürich kam, ist nicht bekannt.
Von den damals Zuständigen der Bundesanwaltschaft will niemand sprechen. Mehrere frühere Mitarbeiter beteuern, sie stünden nach wie vor unter Schweigepflicht. Der damalige Bundesanwalt Rudolf Gerber erklärte gegenüber dem Beobachter: «Der Name Marwan Khreesat sagt mir nichts.»
Von anderer Seite heisst es aber, Khreesats Verhaftung in Deutschland sei in Bern sehr wohl ein Thema gewesen. Ein früherer Mitarbeiter der Bundespolizei erinnert sich: Man habe sich in den Gängen gewundert, weshalb Bundesanwalt Rudolf Gerber damals nicht sofort Khreesats Auslieferung in die Schweiz beantragt habe.
Zehn Jahre später, im November 2000, stellte die Bundesanwaltschaft das Verfahren gegen die mutmasslichen Attentäter von Würenlingen ein. Der Name Khreesat taucht in der Einstellungsverfügung nicht auf. Hätten die Schweizer die internationalen Vorkommnisse etwas genauer verfolgt, wären sie vielleicht anders vorgegangen. Denn fast zeitgleich tagte im niederländischen Camp Zeist das Berufungsgericht zu Lockerbie.
Khreesat liess sich im Vorfeld in Amman befragen. Das Protokoll des Gesprächs findet sich in den Akten des Lockerbie-Prozesses. Khreesat sprach offen über seine Rolle als Bombenbauer und über frühere Attentate. Zum Anschlag auf die Swissair-Maschine von 1970 sagte er: «Ich kann bestätigen, dass die PFLP-GC involviert war. Mehrere mir vorgelegte Namen sagen mir nichts.» Doch welche Rolle spielte er selber im Februar 1970? Diese Frage wurde ihm nicht gestellt.
Seit Jahrzehnten lässt der Fall dem früheren Würenlinger Gemeindepräsidenten Arthur Schneider keine Ruhe. Und so ersuchte er vor über einem halben Jahr die Bundesanwaltschaft, das Strafverfahren aufgrund der neuen Informationen wieder zu reaktivieren. Der Beobachter und die NZZ machten damals ein bis dahin unbekanntes FBI-Dokument publik, wonach auch zwei Westdeutsche in die Vorbereitungen des Anschlags involviert waren.
Nichts passierte. Schneider wartet weiterhin auf eine Antwort aus Bern. Ein Entscheid ist angeblich noch nicht gefallen, das Gesuch sei «in Bearbeitung», heisst es dort.
Beitrag in der Sendung «10vor10» vom 18. September 2017.