Gefahrenzone Staat
Nach dem Amoklauf in Zug geht die Angst um, das Beispiel Friedrich Leibacher könnte Schule machen. Tatsache ist: Die Aggression gegen Ämter nimmt zu.
Veröffentlicht am 8. Oktober 2001 - 00:00 Uhr
Bei Kurt Lehmann, Gemeindepräsident von Schötz LU, kommen die Bilder wieder hoch, die er bereits verarbeitet glaubte: «Was im Zuger Kantonsratssaal geschah, beschäftigt mich sehr.» Das Blutbad erinnert ihn an den 3. April 1997. Damals erstach ein Sozialhilfeempfänger die Vorsteherin des Sozialamts in Schötz mit einem Küchenmesser und erhängte sich in der Nacht nach der Festnahme in seiner Zelle.
Im Gemeindehaus wurden daraufhin bauliche Anpassungen vorgenommen, um die Sicherheit zu erhöhen. Doch Lehmann macht sich keine Illusionen: «Das war mehr zur allgemeinen Beruhigung. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht.» Zudem verstünden sich auch in Schötz die Behörden als Dienstleistungsbetriebe; Einbunkern hinter Panzerglas sei keine Lösung.
Lehmann befürchtet allerdings, dass sich nach dem Amoklauf in Zug noch weniger Leute für öffentliche Ämter zur Verfügung stellen werden: «Wer tut sich das alles in Zukunft noch an?» Einen Grund für die wachsende Aggression gegen Behörden sieht Lehmann im Wertewandel: «Wir können nicht mehr umgehen mit negativen Entscheidungen. Alle Hindernisse werden weggeräumt. Das führt dazu, dass man alles will, und das sofort.»
«Eindeutig aggressiveres Klima»
Das Subito-Denken schlägt sich auch in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik nieder. Die Anzeigen wegen «Gewalt und Drohungen gegen Behörden und Beamte» nahmen innert Jahresfrist um 10,5 Prozent auf total 747 zu. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl beinahe verdoppelt. Das Bundesamt für Polizei sieht darin eine «zunehmende Gewaltbereitschaft».
Keine Auskunft geben die Zahlen darüber, ob die Zunahme der Drohungen allenfalls mit einer erhöhten Sensibilität der Betroffenen zusammenhängt und solche Delikte daher vermehrt angezeigt werden.
Sehr nachdenklich stimmen die Geschehnisse von Zug auch Norbert Raschle, seit 15 Jahren Leiter des Sozialamts in der Stadt St. Gallen und selber schon mehrfach auf verschiedenste Art bedroht: «Die Gefahr wird einem wieder viel bewusster. Dass Leute auf dem Sozialamt ausrufen, hat es schon immer gegeben. Aber das Klima ist eindeutig hektischer und aggressiver geworden.» Schon nach dem Terror in den USA vom 11. September hätten einige seiner Klienten verkündet, sie hätten zu Hause ebenfalls Waffen.
Im St. Galler Sozialamt wurden die Sicherheitsmassnahmen bereits vor zwei Jahren nach einem Lehrermord massiv verstärkt. Der Täter hatte gedroht, auch noch das Amt ins Visier zu nehmen. Seither kontrolliert die Securitas am Eingang, und es besteht ein direkter Draht von den Büros zur Polizei. Die Mitarbeiter wurden nicht nur im Umgang mit aggressiven Klienten geschult, sondern haben auch Kurse zur Selbstverteidigung absolviert. Wird Zoff befürchtet, führen immer zwei Sozialdienstmitarbeiter das Gespräch.
Norbert Raschle geht es aber auch ums Augenmass: «Es ist nach wie vor eine Minderheit, die eine Bedrohung darstellt. Wir dürfen deswegen nicht in Hysterie verfallen und müssen die Probleme so sachlich wie möglich angehen.» Aus dem Ruder laufe einer meist aus echter Verzweiflung: «Das Loch zwischen den Armen und Reichen in unserer Gesellschaft ist in den letzten Jahren grösser geworden.»
Seine Amtskollegin Rosanne Waldvogel, Leiterin der Sozialen Dienste in der Stadt Zürich, hat ihr Team angewiesen, sämtliche Dossiers nach potenziellen Leibachers zu durchforsten und Massnahmen zu besprechen: «Wir setzen jedoch eher auf Handlungsstrategien als auf technische Lösungen, die immer auch die Gefahr von Scheinlösungen bergen.» Waldvogel bekennt sich zu einer möglichst offenen, entspannten Atmosphäre. Dennoch ist man sich auch in Zürich sehr wohl bewusst, dass Vorfälle wie in Zug «die Bereitschaft zu Drohungen temporär verstärken und die Hemmschwellen senken».
Die Sozialämter müssen Entscheide fällen, die für Betroffene oft einschneidende Veränderungen bedeuten: seis im finanziellen Bereich durch die Kürzung oder Verweigerung von Beiträgen, seis bei Bevormundungen oder beim Sorgerecht. Mit einem abschlägigen Bescheid umzugehen ist nie leicht. Erst recht für Leute mit psychischen Problemen. «Sie werden oft depressiv oder entwickeln grosse Aggressionen, Zerrbilder und Wahnvorstellungen», sagt Rosanne Waldvogel.
Polizei nur für Normalfall gerüstet
Seit der Tragödie von Zug sind nun auf allen politischen Ebenen Task-Forces installiert, um die Sicherheit für die Verwaltung und die Politiker zu verbessern. Doch wie rasch man hier an personelle Grenzen stösst, zeigt der Fall Zug, wo man für die Bewältigung der Krise auf Polizeikräfte aus anderen Kantonen angewiesen war. Die Polizei ist meistens bloss auf den Normalfall ausgerichtet.
«Auf einmal beschleicht mich wieder das flaue Gefühl, das ich empfunden habe, als im Sozialamt meiner Direktion letztes Jahr ein Klient zur Pistole gegriffen und abgedrückt hat», schrieb der Luzerner Stadtrat Ruedi Meier wenige Tage nach dem Massaker in der «Zuger Presse». Besonders wichtig ist für ihn eine geschickte Gesprächsführung in akuten Krisen, um die Situation gar nicht erst eskalieren zu lassen. Aber man müsse auch Grenzen ziehen können: «Wer uns mit Gewehr, Pistole oder Motorsäge droht, muss damit rechnen, dass wir die Polizei rufen oder Anzeige erstatten.»
Meier weiss indes, dass zu allem entschlossene Täter wie Friedrich Leibacher «kaum gestoppt werden können, denn sie schiessen sich ihren Weg rücksichtslos frei». Darüber hinaus stellt sich für den grünen Politiker die Frage der Selbstverantwortung von Amtsstellen und der Justiz: Abschlägige Entscheide würden den Betroffenen meist in trockenem Juristendeutsch auf dem Korrespondenzweg zugestellt. Mit ihrem Ärger, ihrer Wut und dem Zorn auf die Behörde lasse man sie allein.
Wir hier oben, ihr da unten: Dieses System existiert trotz allen Bekenntnissen zur Bürgerfreundlichkeit mancherorts leider noch immer. Meiers Vorschlag: «Schwierige Urteile und Entscheidungen sollte man auch mündlich eröffnen und den Zugang zu einer Ombudsperson in jedem Fall gewährleisten.»
Die Schweiz rühmt sich als Land, wo Bundesräte noch ohne Bodyguards mit Tram und Zug unterwegs sind. Doch der sorgsam gepflegte Sonderfall ist längst Fiktion, und das nicht erst seit Metalldetektoren am Eingang zum Bundeshaus installiert worden sind. Eine Umfrage der Ex-Nationalrätin Angeline Fankhauser bei 46 National- und Ständerätinnen ergab vor zwei Jahren, dass 35 von ihnen schon wegen ihrer Funktion oder politischen Einstellung bedroht wurden. Fankhauser selber war wegen ihres Engagements für Asylbewerber übelsten Belästigungen ausgesetzt.
Ins Fadenkreuz anonymer Bedroher geraten jedoch die Exponenten jeglicher Couleur. Ruedi Baumann, Nationalrat der Grünen, wurden die Reifen am Fahrzeug ebenso aufgeschlitzt wie dem SVP-Parteipräsidenten Ueli Maurer. Letzterem wurde auch noch das Wohnhaus verschmiert und der Briefkasten mit Fäkalien gefüllt.
«Die Bedrohung politischer Amtsträger in der Schweiz wird zu Unrecht bagatellisiert und unterschätzt», warnte Angeline Fankhauser schon damals. Die linke Politikerin liess es denn auch nicht gelten, als der rechtskonservative Maurer in Medienkommentaren wegen seiner polarisierenden Art auf einmal vom Opfer zum Täter mutierte: «Das ist so, wie wenn eine Frau mit Minirock für ihre Vergewaltigung verantwortlich gemacht wird.»