Deals statt Urteile
Staatsanwälte fällen inzwischen 98 Prozent aller Strafurteile, ohne dass ein Gericht aktiv wird. Sie haben immer mehr Kompetenzen und lassen sich immer schlechter kontrollieren.
Der Entscheid sorgte weitherum für Empörung: Zuger Staatsanwälte ermittelten fast fünf Jahre gegen die Fifa und zwei bekannte Persönlichkeiten, die den Weltfussballverband vertraten. Der Verdacht: ungetreue Geschäftsbesorgung und Veruntreuung. Dann wurde das Verfahren eingestellt – obwohl Beschuldigte zugaben, «Provisionen» angenommen zu haben, weil sie einer Firma milliardenschwere Vermarktungs- und TV-Rechte zugehalten hatten. Die Fifa-Vertreter behaupteten, das sei damals üblich und legal gewesen.
Im Normalfall lassen Staatsanwälte bei solchen Verfahren Richter entscheiden, was legal ist und was nicht. Nicht so bei diesen anonymen, aber «weltweit anerkannten Personen des öffentlichen Lebens», wie die Staatsanwaltschaft selber schreibt. Sie zahlten 5,5 Millionen Franken Wiedergutmachung, und das Strafverfahren war vom Tisch.
Diese Möglichkeit gibt es seit Anfang 2007, und sie hat im Strafverfahren gegen Ex-Armeechef Roland Nef wie auch im Fall des Milliardärs Viktor Vekselberg für Aufsehen gesorgt. Bei Wiedergutmachung können Strafverfolger Verfahren einstellen, selbst wenn ein Geständnis vorliegt oder die Beweise erdrückend sind. So werden Staatsanwälte zu Richtern.
Und sie laufen den Gerichten bald den Rang ab. Bereits seit Jahren dürfen Strafverfolger Verfahren mit sogenannten Strafbefehlen selbst entscheiden, wenn es sich um geringe Strafen handelt. Inzwischen «stammen 98 Prozent aller strafrechtlichen Verurteilungen von der Staatsanwaltschaft», kritisiert Niklaus Oberholzer, Präsident der St. Galler Anklagekammer. «Gerade noch zwei Prozent aller Verurteilten bekommen einen Richter zu sehen.»
Das ist nicht nur Oberholzer ein Dorn im Auge, sondern auch Strafrechtsprofessoren wie dem Freiburger Franz Riklin. «Der Inquisitionsprozess feiert Auferstehung», schreibt er in der Fachzeitschrift «Plädoyer» und weist darauf hin, dass Staatsanwälte viel mehr Fehler machen als Richter. 66 Prozent der angefochtenen Strafbefehle werden korrigiert. Werden dagegen ordentliche Urteile weitergezogen, sind nur etwa 30 Prozent mangelhaft. Das zeigt eine Untersuchung von Zürcher und Lausanner Kriminologen.
Dennoch haben die bereits mächtigen Staatsanwälte Anfang 2011 noch mehr Kompetenzen erhalten. Neu können sie schweizweit nicht nur Freiheitsstrafen bis sechs Monate verfügen und Verfahren bei Wiedergutmachung einstellen, sie dürfen auch Urteile aushandeln bei drohenden Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren. Sie feilschen also mit dem Beschuldigten um die Strafe. Einzige Bedingung: Allfällige Ansprüche von Geschädigten müssen zumindest im Grundsatz anerkannt werden. Ein Richter muss dann nur noch absegnen, ob der Deal zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem ordentlich zustandegekommen ist und mit der Aktenlage übereinstimmt.
Richter Niklaus Oberholzer spricht von «Deals hinter verschlossenen Türen», die den Gerichten dann noch zur Absegnung präsentiert werden. «Das Ganze ist eine Farce, denn der Richter verfügt nur über die Akten, die ihm vom Staatsanwalt auch vorgelegt werden.» So könne im Prinzip nur noch überprüft werden, ob der Angeklagte die zuvor schon «bereinigte Aktenlage» auch anerkennt. Für Oberholzer wird mit solchen Deals eine wesentliche Errungenschaft des Rechtsstaats preisgegeben: das Verbot jeglicher Geheimjustiz.
Der Berner Staatsanwalt Klaus Feller verteidigt die neuen Kompetenzen für seine Zunft: «Die gesetzlichen Voraussetzungen sind klar und schliessen jeglichen Missbrauch aus.» Für Beschuldigte, Opfer und Gesellschaft sieht er nur Vorteile, da das im abgekürzten Verfahren gefällte Urteil vom Verurteilten besser akzeptiert werde. So erziele die Strafe eine bessere Wirkung.
Doch durch die neuen Befugnisse werden Staatsanwälte definitiv zu heimlichen Richtern, die zudem kaum mehr kontrolliert werden können. Abgekürzte Verfahren lassen sich durch die Medien ebenso wenig überprüfen wie durch die Richter, weil die entscheidenden Weichen im Geheimen gestellt werden. Und bei Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen haben die Staatsanwaltschaften selbst dafür gesorgt, dass sie nicht öffentlich werden: Zwar betont das Bundesgericht immer wieder, dass Medien Einsicht in solche Entscheide verlangen dürfen. Das Prinzip der Justizöffentlichkeit und die daraus abgeleiteten Informationsrechte würden für Transparenz in der Justiz sorgen, was «eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz» bedeute.
Die Staatsanwaltschaften fanden trotzdem einen Weg, Transparenz zu verhindern. Anfang Jahr haben sie in vielen Kantonen neue Regelungen erlassen, die die Einsicht in Einstellungsverfügungen und Strafbefehle für Medien faktisch unbrauchbar machen. Einsicht wird nämlich nicht mehr innert Stunden, sondern erst nach monatelangen Verfahren gewährt – weil das Gesuch der Medien neu jenen Personen zur Stellungnahme vorgelegt wird, die ins Strafverfahren verwickelt waren.
Das wird dazu führen, dass Justizkontrolle faktisch nicht mehr ausgeübt wird: Welcher Journalist wartet Monate, ja Jahre, bis er überhaupt einen Entscheid in der Hand hat? Daran ändert nichts, dass im Kanton Zürich Strafbefehle nach dem Entscheid 30 Tage lang, im Kanton Bern sieben Tage lang öffentlich aufgelegt werden, denn zu diesem Zeitpunkt weiss noch kaum jemand, ob ein Strafbefehl oder eine Einstellungsverfügung überhaupt von öffentlichem Interesse ist.
Kantone wie Zürich und Zug schrecken nicht einmal davor zurück, Geld für die Einsicht in die Entscheide zu verlangen: Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft hat einem Journalisten des «Tages-Anzeigers» Gebühren von 2000 Franken auferlegt, als er Einsicht in Strafverfahren gegen Milliardärssohn Carl Hirschmann verlangte und nicht erhielt. Zudem musste der Journalist Hirschmanns Anwalt 4000 Franken Parteientschädigung zahlen. Und als der Beobachter kontrollieren wollte, ob bei der Verfahrenseinstellung gegen die «weltweit anerkannten Personen des öffentlichen Lebens» der Fifa alles mit rechten Dingen zu- und hergegangen war, wurde er zur Kasse gebeten, obwohl sein Gesuch gutgeheissen wurde.
Die Staatsanwaltschaft verlangte vom obsiegenden Beobachter 1000 Franken und von den unterliegenden Fifa-Funktionären keinen Rappen. Das begründet die Zuger Staatsanwaltschaft damit, dass der «Journalist gewinnorientiert arbeitet».
Da streichen also Fifa-Funktionäre Millionen ein, bezahlen Anwälten Tausende von Franken, damit diese Dutzende von Seiten gegen ein Einsichtsgesuch schreiben und so der Staatsanwaltschaft Arbeit verursachen. Zur Kasse gebeten wird aber der Journalist, der im öffentlichen Interesse die Justiz kontrollieren will, die sich bei Wiedergutmachungen auf einem heiklen Terrain bewegt. «Konsensuale Erledigungsstrategien» kämen nämlich oft den Mächtigen zugute, meint Appellationsrichter Oberholzer. Sie könnten es sich einfacher leisten, einen Schaden zu beheben.
Dass Medien heikle Entscheide der Staatsanwälte nur einsehen können, wenn sie zahlen, ist nicht nur absurd, sondern verfassungswidrig. So hebeln Kantone wie Zug und Zürich mit kantonalen Bestimmungen die Bundesverfassung und die Rechtsprechung des Bundesgerichts aus.
Dass es auch korrekt geht, zeigen die Kantone Bern und Basel-Stadt. Sie verlangen für Einsichtgesuche in Strafbefehle und Einstellungsverfügungen nichts. Der Berner Justizdirektor Christoph Neuhaus zeigt sich überrascht über die Kostenauflagen in anderen Kantonen: «Transparenz ist zentral für die Glaubwürdigkeit der Justiz und für Staatsanwaltschaften, die wie Richter handeln – je länger, je mehr.» Neuhaus will das Thema in der Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren aufs Tapet bringen.
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