Die Herren Kollega unter sich
Die Umgangsformen unter Juristen verludern zusehends - meint zumindest der Zürcher Anwaltsverband. Ein Knigge soll nun für gewähltere Wortwahl sorgen.
Veröffentlicht am 20. Juni 2006 - 11:36 Uhr
Der Zürcher Anwaltsverband ist beunruhigt. Er fürchtet eine Verwilderung der Sitten - hervorgerufen vor allem durch die junge Generation. Deshalb hat er in seinem Mitteilungsblatt die Serie «Der kleine Anwaltsknigge» gestartet. Da wird den Jungen etwa beigebracht, dass es als «Akt des mangelnden Respekts und der Unhöflichkeit» empfunden werde, wenn man einen andern Anwalt mit «Sehr geehrter Herr Soundso» anschreibe statt mit «Sehr geehrter Herr Kollege». Dies gelte übrigens auch für den Mailverkehr.
Ähnliches sei bei der Grussformel zu beherzigen: «Es gibt nach wie vor eine beachtliche Anzahl von Anwältinnen und Anwälten, die etwas ganz Bestimmtes (und nicht Nettes) zum Ausdruck bringen wollen, wenn sie lediglich ‹Mit freundlichen Grüssen› oder ‹Mit kollegialen Grüssen› schreiben.» Die korrekte Formel heisse «Mit freundlichen und kollegialen Grüssen».
In der Anwaltschaft gilt offenbar die Interpretationsregel: Je höflicher, desto böser. Grüsst ein Rechtsvertreter zum Beispiel «Mit kollegialer Hochachtung», so ist klar, was es geschlagen hat: «Gang doch in See», übersetzt eine Juristin dem staunenden Laien die anwaltliche Geheimsprache. Ein anderer Anwalt interpretiert es als «Mit dir will ich kein Bier mehr trinken».
Der Kniff mit dem Bleistift
Der Zürcher Psychoanalytiker Peter Schneider hat Verständnis für diese mittelalterlich anmutenden Umgangsformen: «Je mehr man sich aus beruflichen Gründen an den Karren fahren muss, desto mehr wird der Umgang mit Floskeln formalisiert. Dies macht es erst möglich zu streiten, ohne es persönlich nehmen zu müssen.» Richtig: Bei den Ärzten ist der «Sehr geehrte Kollege» seit langem abgeschafft.
Für Ronald Pedergnana, einen St. Galler Rechtsanwalt, der derzeit Regeln der Anwaltsetikette zusammenträgt, ist klar: «Dass die Zürcher diesen Anwaltsknigge zusammenstellen, ist Ausdruck eines tieferen Missbehagens - dass nämlich die Umgangsformen unter Anwälten ruppiger geworden sind.»
Dies ist aber mitunter nur Show. So erzählt ein Jurist gegenüber dem Beobachter, dass man jeweils mit Bleistift «Lieber Roger» über die Anrede «Sehr geehrter Kollege» schreibe, wenn man den Gegenanwalt täglich zum Joggen treffe. Der Grund: So bleibts unsichtbar für den Klienten, der eine Kopie ohne Bleistiftanrede erhält und sich - ob des respektvollen Tons - kämpferisch vertreten fühlt.