«Ich höre Leibachers Fluchworte»
Am 27. September jährt sich der Amoklauf von Zug zum fünften Mal. Die Parlamentarier Karl Betschart und Moritz Schmid über das Attentat - und ihr Leben danach.
Veröffentlicht am 12. September 2006 - 11:14 Uhr
Donnerstag, 27. September 2001. Um 10.30 Uhr betritt Friedrich Leibacher in Polizeimontur das Zuger Parlamentsgebäude. Er ist bewaffnet mit Pistole, Revolver, Pumpaction und Sturmgewehr. Auf der Treppe vor der Tür zum Ratssaal erschiesst Leibacher SP-Regierungsrätin Monika Hutter-Häfliger. Kantonsrat Hanspeter Hausheer stürmt in den Saal und schreit: «Köpfe runter!» Der Amokläufer schiesst wild um sich. Wer kann, kriecht unter die Pulte. Kantonsrat Beat Villiger rettet sich mit einem Sprung aus dem Fenster. Im Kugelhagel sterben 14 Menschen. Leibacher zündet einen Sprengsatz. Auf den Tischen brennen die Papierstapel, der Raum füllt sich mit Rauch. Neben dem Präsidentenpult erschiesst sich Leibacher selbst.
Die Überlebenden retten sich nach draussen. Vor dem Parlamentsgebäude fotografiert der Pressefotograf Christof Borner die Szene. Das Bild - das spätere Pressebild des Jahres - geht um die Welt. Es zeigt fünf Personen. Sie warten geschockt auf Hilfe, drei Journalisten und die beiden Parlamentarier Karl Betschart und Moritz Schmid. Betschart und Schmid erklärten sich bereit, über das Erlebte zu sprechen.
Karl Betschart: Wie ein roter Faden zieht sich diese Fotografie durch die letzten fünf Jahre. Eine Zeitschrift schrieb, es zeige Entsetzen, Schmerz, Wut, Hilflosigkeit und Trauer. Genau so ist es.
Moritz Schmid: Ich erinnere mich, dass ich im Spital am Sonntag nach dem Attentat die Zeitungen von hinten nach vorne durchblätterte, um nicht gleich mit den schlimmsten Aufnahmen konfrontiert zu werden. Dieses Bild war ganz vorne platziert - es war das Aufmacherbild. Ich erschrecke heute noch, wenn ich es sehe.
Betschart: Was wir an diesem Donnerstag im Ratssaal von Zug erlebt haben, würde ich dem ärgsten Feind nicht wünschen. Man fühlt sich eingeschlossen wie in einem Kerker. Es gibt nur einen Ausgang, und dort steht Leibacher. Und der schiesst auf alles, was sich bewegt.
Schmid: Jetzt, wo wir darüber reden, stellen sich auch wieder die Erinnerungen ein. Die Bilder, der Lärm, der Pulverdampf, der Geruch nach Blut und nach Benzin. Eine Kugel hatte meine Hand durchschlagen. Aber als sich der Rauch ausbreitete, dachte ich, ich würde ersticken statt verbluten.
Betschart: Ich höre Leibachers Stimme, seine brutalen Fluchworte. Ich erinnere mich an die Schüsse, an meine Angst. Draussen vor dem Parlamentsgebäude habe ich dich, Moritz, gefragt: «Hast du Schmerzen?» Eigentlich eine dumme Frage. Du hast geantwortet: «Ich bin wie ein Indianer. Der kennt keinen Schmerz.»
Schmid: Ich war tatsächlich überzeugt, dass ich keine Schmerzen hatte. Ständig war da dieses Gefühl, alles sei ein Traum und ich würde bald aufwachen.
Betschart: Nach dem Attentat war ich sehr durcheinander. Zu Hause hatte ich Probleme mit den Namen meiner Kinder. Am Sonntag hatte ich das Verlangen, von meinen verstorbenen Kolleginnen und Kollegen Abschied zu nehmen. Meine Familie begleitete mich. Das Verlangen, die Aufgebahrten zu sehen, war übermächtig. Ich dachte immer, wir seien starke Männer. Dass ich weinen konnte, war für mich eine neue Erfahrung.
Schmid: Mir ging es ähnlich. Ich wollte damals unbedingt an die Beerdigung. Lange war aber unklar, ob ich dazu in der Lage sein würde. Als die Oberärztin im Spital schliesslich ihre Einwilligung gab, fiel ich ihr wie ein Kind um den Hals und weinte. Ich bin feinfühliger geworden.
Betschart: Und empfindlicher. Ich kann keine Krimis mit unheimlichen Szenen mehr schauen. Wenn ich in einem Lokal mit dem Rücken zur Tür sitze, beginne ich zu schwitzen.
Schmid: Ich schaue auch kaum mehr Fernsehen, keine lärmigen Sachen. Die Familie ist mir sehr wichtig geworden. Mit dir, Karl, treffe ich mich, weil wir uns austauschen können. Bei anderen Menschen bin ich wählerischer.
Betschart: Ohne die Unterstützung meiner Frau und meiner Kinder hätte ich auch nicht so schnell in den Alltag zurückgefunden.
Schmid: Viele Menschen halfen, ohne es zu wissen. Leute, die schrieben, «dein Winken im Auto fehlt uns». Du merkst dann, dass es nicht umsonst ist, wenn man einem Menschen Grüezi sagt.
Betschart: Überhaupt die Briefe. All die Leute, die geschrieben haben. Oder der Brief, den mir meine Tochter Tamara zum ersten Jahresgedächtnis geschrieben hat. Ich kann ihn nicht lesen, ohne zu weinen.
Schmid: Am Sonntag nach der Entlassung aus dem Spital erhielt ich einen Anruf von einer bekannten Bauernfamilie vom Walchwilerberg. «Hast du Kaffee?», fragte der Bauer - ein robuster Mensch -, den Rest bringe er mit. Da kam er mit einem Weidenkorb, voll mit Zwetschgenwasser, Meringues und feinen Sachen... Sorry, jetzt kann ich grad nicht weiterreden.
Betschart: Seit dem Attentat weiss ich, wer ein echter Freund ist. Das Attentat ist Bestandteil meines Lebens geworden. Seither bete ich. Man muss dazu nicht in die Kirche gehen. Es reicht, einen guten Gedanken zu haben.
Schmid: Auch ich bin kein Kirchgänger. Aber etwas zog mich nach dem Attentat in die Kirche. Ich hatte den Eindruck, hier ist einer, der hilft.
Betschart: Es ist schön, dass man noch leben darf. Je weiter weg das Attentat ist, desto besser wird es mir gehen. Ich möchte mindestens 88 Jahre alt werden.
Schmid: Ich habe heute noch Schmerzen. Dann laufe ich irgendwohin, blicke in die Landschaft. Das hilft. In zwei Fingern habe ich kaum Gefühl. Aber wenn ich mit der Hand darüberfahre und merke, es chrüselet, freue ich mich wie ein Kind.