Die Tropfen rinnen langsam über die kleine Stirn. Die Lippen des Mädchens zucken. «Ich taufe dich im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.» Sarah wiegt 2330 Gramm. Der Pfarrer faltet seine Hände. Das Kind schläft.

Sein Vater, ein Protestant, wünschte eine ordentliche Taufe. Die Mutter war mit 19 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Das Zeremoniell möchten die Eltern nicht missen – wie viele andere Kirchenangehörige auch.

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Doch deren Zahl nimmt ab: Nur noch drei Viertel der Neugeborenen werden heute getauft, und immer weniger Erwachsene betreten sonntags eine Kirche. Wie lange wird Sarah ihr angehören?

In den letzten 30 Jahren verzehnfachte sich die Zahl der Konfessionslosen in der Schweiz auf 11,1 Prozent. Allein zwischen 1990 und 2000 verlor die protestantische Kirche 238'674 Mitglieder; das sind neun Prozent ihres Bestands. Die römisch-katholische schrumpfte im selben Jahrzehnt um knapp vier Prozent – um 124'434 Mitglieder. Der geringere Verlust ist migrationsbedingt: 30 Prozent der Katholiken in der Schweiz sind Ausländer. Setzt sich die Abwanderungsbewegung fort, schlittern vor allem die städtischen Pfarreien in existenzielle Nöte: Die Steuereinnahmen dürften um einen dreistelligen Millionenbetrag zurückgehen.

Für sich selbst gottesgläubig
«Gründe für die schwindende Mitgliedschaft bei den Landeskirchen gibt es viele», sagt Alfred Dubach vom Pastoralsoziologischen Institut St. Gallen. Seine Studie «Religion in der Schweiz» gilt als Standardwerk. Hauptergebnis: Eine überwältigende Mehrheit der Befragten gibt an, auch ohne Kirchenmitgliedschaft an Gott glauben zu können; selbst regelmässige Kirchgänger vertreten die Ansicht, ihr Glaube sei eine persönliche Angelegenheit.

Dubach: «Je stärker die Menschen von existenziellen Verunsicherungen betroffen sind, desto mehr suchen sie den Weg zu Gott.» Aber dieser Weg führt immer weniger über die Kirchenbank.

Laut einer repräsentativen Umfrage des Beobachters glauben 53 Prozent an den Gott der Bibel; fast die Hälfte baut auf die Kraft des Gebets. 42 Prozent der total 700 Befragten glaubt an ein Leben nach dem Tod; knapp die Hälfte an einen «Gott ausserhalb der Kirchen». Auffallend ist die starke religiöse Ausrichtung der 25- bis 34-Jährigen.

Die Entfremdung von der Kirche ist vor allem ein urbanes Phänomen. In den Kantonen Zürich, Aargau und Basel gaben rund 50 Prozent der Protestanten an, «schon einmal an einen Kirchenaustritt gedacht zu haben». Geschiedene tendieren stärker zum Kirchenaustritt, ebenso Menschen mit einem Universitätsabschluss. Dabei halten die Soziologen den Rekord: Sie sind viermal häufiger konfessionslos als andere Erwerbstätige.

Soziologen waren es auch, die in den achtziger Jahren das baldige Verschwinden der Religion aus der Gesellschaft prophezeiten. Der modernen Gesellschaft, so ihre Erkenntnis, fehle das einigende Prinzip: Der aufgeklärte Mensch sei sozusagen über Gott hinausgewachsen. Die soziologischen Prophezeiungen waren falsch – zumindest hat sich ihre Erfüllung verzögert. Freikirchen zum Beispiel kennen in der Regel keine Abwanderung.

Das T-Shirt mit der Aufschrift «Ewigs Läbe?!» gibt es in drei Grössen, kurzarm, zum Preis von Fr. 29.50. Die Verkaufsständer befinden sich im Foyer der alten Börse Zürich: dem Treffpunkt der International Christian Fellowship (ICF), einer Trendgemeinde für freikirchliche Jugendliche. Die ICF hat gesamtschweizerisch 3000 Mitglieder. Zu ihrem Angebot gehören Taufe, Heirat, Bestattung – sowie die Ebnung des Wegs zu Gott.

«S isch easy. S isch easy!», lächelt der Sänger von der Bühne. Sein Song heisst «He’s great». Die Jugendlichen werden aufgefordert mitzuwippen. Einige tun es mit verschränkten Armen. «Gott isch en Liebe! Hey! Du bisch guet!» Die vier Verstärker, gespiesen von einem 40-Kanal-Mischpult, bringen es auf insgesamt 4300 Watt. Zum funkigen Sound schweifen Lichtstränge in Rosa, Türkis oder Grün durch den Raum. Kanal sechs der Funkanlage ist überschrieben mit «Predigt».

«Krisenmanagement» heisst das Thema. «Lebe verheissungsorientiert», sagt der Prediger. Die Rede ist von Heilungen, Hoffnungen, Vertrauen und Kraft. Der Prediger stösst mit der Faust Richtung Himmel: «He’s great, he’s great!» Dann perlen die Pianoklänge, und das Licht wird sanft: Zeit, zu beten. «Mach dis Herz uuf. Du chasch nöd verlüüre. Easy, easy», raunt der Prediger. «Ich bi Fan vo dir, Jesus. Ich will mich heile laa.»

Die ICF Zürich wird an sechs Gottesdiensten pro Wochenende von 2000 Personen besucht. Mitglieder werden angehalten, zehn Prozent ihres Steuereinkommens zu spenden. Zehn Prozent dieses Zehnten werden für Soziales verwendet, der Rest für Löhne, Miete und Equipment.

Sexualität gehört für die ICF strikt in den ehelichen Rahmen; Homosexualität gilt als widernatürlich. «Wir werden immer altersspezifische Gottesdienste durchführen», sagt ICF-Sprecher Daniel Linder. «Gesamtgottesdienste gibt es nicht. Das ‹Einheitsprogramm› der Landeskirche ist ihre entscheidende Schwäche.»

Doch auch die Landeskirche sucht nach Alternativen. In Zug werden Gottesdienste auf einzelne Bevölkerungsgruppen zugeschnitten. In der Basler Elisabethenkirche gabs nebst Handauflegen, Heilritualen auch schon Fasnachts- und Tier-Gottesdienste. In Zürich sollen demnächst Rap-Gottesdienste stattfinden.

Keine Erwartungen an Kirche
Die Dorfkirche von Spreitenbach befindet sich 500 Meter neben dem Shoppingcenter. Matthias Fischer, 43, ist seit zehn Jahren Pfarrer in der Aargauer Gemeinde. «Wenn im Einkaufszentrum ein Geschäft nicht den budgetierten Umsatz bringt, wird es geschlossen. Ich verstehe es als ein Sinnzeichen, wenn wir unsere Angebote nicht streichen.» Die Aktivitäten sind vielfältig; sie werden unterschiedlich genutzt. Dass sonntags nur noch wenige zur Predigt kommen, weckte beim Pfarrer auch schon Selbstzweifel. Ein Besserwisser riet ihm, die Gemeinde mehr an Umkehr und Busse zu mahnen. «Dies ist nicht mein Weg», sagt Fischer. «Ich möchte neue Erfahrungsräume öffnen.»

Das ist auch nötig, wollen die Landeskirchen nicht noch mehr Gläubige verlieren. In Basel-Stadt etwa beträgt der Anteil der Konfessionslosen heute knapp 40 Prozent; die reformierte Kirche hat seit 1970 mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. In Genf sind 20 Prozent ohne Konfession, in Zürich acht und in Appenzell Innerrhoden knapp ein Prozent.

In Basel werden die Kirchensteuern von der Kirche selbst eingezogen: Ein Mitglied wird so jährlich an seinen Status erinnert – und auch an dessen Kündbarkeit. Trotz den vielen Abgängen bezeichnen sich mehr als zwei Drittel der Basler als «im weitesten Sinne religiös». Als häufigster Austrittsgrund wird «Enttäuschung» genannt. Die Kirchensteuer folgt erst an dritter Stelle.

Die Rechnung ist neuerdings um Transparenz bemüht: Dem Steuerbogen wird jetzt ein Verwendungskatalog beigefügt. Den Beitrag wollen die Basler Kirchen als «Sponsoring» verstanden wissen: Die Kirche will sich stärker an den Ansprüchen ihrer Zielgruppe orientieren. Das werde «die Vision der Kirche nicht verändern», versichern die Kirchenverantwortlichen. Es gelte vielmehr, «die Botschaft wirksamer zu vermitteln».

Das Projekt ist zu jung, um Ergebnisse vorweisen zu können. Doch die Basler Bilanz deckt sich mit gesamtschweizerischen Erkenntnissen. «Was erwarten Sie noch von den Kirchen?», fragte das Zürcher Institut für Wirtschaftsforschung und Sozialmarketing GfS 718 Schweizerinnen und Schweizer – und kam auf ein ernüchterndes Resultat: Über 50 Prozent antworteten mit «überhaupt nichts»; 20 Prozent wussten keine Antwort. Man addiere: 70 Prozent der Bevölkerung haben keine Erwartungen an die Kirche.

Das Bindungsmoment moderner Kirchenmitglieder sei nicht mehr die Anhängerschaft im alten Sinn, sagt Religionssoziologe Dubach. Vielmehr würden Kosten und Nutzen aufgerechnet. «So gesehen gibt es für ein städtisches Kirchenmitglied von heute oft keinen Unterschied zu einer Mitgliedschaft bei WWF, Greenpeace oder beim VCS.» Die Zugehörigkeit reduziere sich oft zweckgebunden auf die «Garantie», bei Lebensübergängen wie Heirat, Abdankung oder Taufe begleitet zu werden. Hingegen wird in ländlichen Gegenden mit funktionierenden traditionellen Bindungen eine Konfession eher noch als Identitätsmerkmal des Einzelnen empfunden.

Ein stetes Kommen und Gehen
Vielseitige Identifikationsmuster bietet die Französische Kirche Bern an. Auf der Treppe zur Kanzel liegt ein Velohelm. Entlang den Bänken stehen acht Boxen. Der hohe Raum füllt sich langsam. Es treten ein: ein Junge mit Rollbrett, eine Dame mit Hut, ein junges Paar, ein Herr im Rollstuhl, ein Hund. Umarmungen, freudige Blicke; auf der Bühne spielt die Band. Die Vineyard Christian Fellowship hat hier Gastrecht. Vineyard ist eine Bewegung mit weltweit wachsendem Zulauf.

Die Kirchentür in Bern bleibt offen. Die gut 700 Plätze sind wechselnd besetzt. Menschen kommen und gehen, und sie singen: «Wenn i liege oder wenn i stah, ob i ga, was i ou tue – du bisch bi mir.» Eine ältere Dame reckt ihre Hand gen Himmel. Der amerikanische Gastprediger spricht: «Die Freude am Geben macht uns reich.» Und er erinnert sich: An der Berliner Mauer habe er gestanden und «im Gebet gewusst», dass sie falle. Im Hintergrund spielen Oboe, Bass und Gitarre dezente Weisen. «Du bist stärker als das Dunkel», sagt die Leiterin in ihrer Fürbitte. Das Gebet gilt einer todkranken Mutter. Es wird still.

Von Vineyard Bern werden zurzeit 140 Familien mit Lebensmitteln versorgt. Das zentrale Anliegen der Freikirche ist das Erfülltwerden durch den Heiligen Geist. Der Berner Ableger hat keine Abgangsbewegungen zu verzeichnen.

«Die Welt der Protestanten war immer nüchtern und rational. Jetzt ist es auch die Welt geworden», sagt Ralph Kunz, Protestant und Assistenzprofessor für praktische Theologie in Zürich. Eine Kopie der freikirchlichen Event-Gottesdienste wäre für ihn jedoch «keinesfalls eine Alternative», um zu neuen Kirchgängern zu kommen: «Die Reformierten müssten ein Erlebnis bieten können, ohne den Verstand auszuschalten.»

«Reformierte sind allgemein unsicher, ob sie stolz sein dürfen auf ihre Konfession.» – «Gut reformiert sein heisst, ein etwas kompliziertes Verhältnis zur eigenen Kirche haben.» – «Die reformierte Kirche ist selten einig, schwierig zu führen, oft kaum zu bewegen.» Mit diesen Thesen beginnt ein Projektpapier für eine Imagekampagne der Protestanten. «Die Reformierten müssen sich in der Öffentlichkeit besser darstellen», lautet die Einsicht. «Markante Werbung ist ein Weg, um mit distanzierten Menschen in Kontakt zu treten.»

Masochistische Selbstkritik
Fünf Poster sollten schweizweit aufgehängt werden. Etwa ein Männerkörper, tiefgefroren, mit der Aufschrift «Zukunft?». Auf einem anderen Plakat prangen unter der Frage «Schöpfung?» sechs geklonte Frauen. «Selber denken. Die Reformierten», bringt es der Slogan auf den Punkt.

Die Zürcher und die Bündner sagten ihre Beteiligung ab, ebenso die Berner, die Thurgauer und die Freiburger. Die reformierte Kirche funktioniert wie der Staat: föderalistisch. Das Projekt kam nicht zustande. Wie hiess es im Papier für die Kampagne? «Die reformierte Kirche ist selbstkritisch in einem Ausmass, das dem Masochismus gefährlich nahe kommt.»

Religionen: Boomende Freikirchen

Freikirchen haben in der Schweiz eine lange Tradition. 1525 gründeten die Mennoniten in Zürich die erste Täufergemeinde; sie zählt heute rund 3000 Mitglieder. Mit zirka 35'000 Mitgliedern ist die Neuapostolische Kirche die grösste Freikirche der Schweiz.

Am meisten Zulauf hatte im 20. Jahrhundert die Pfingstbewegung (weltweit 600 Millionen Gläubige), zu der auch International Christian Fellowship und Vineyard gehören. Die Schweizerische Pfingstmission wurde 1907 gegründet (9000 Anhänger); weitere 5000 Mitglieder zählt die Bewegung plus.

Zum Erfolg der Pfingstbewegung tragen die vielen kleinen Gemeinden bei – zum Beispiel die Freien Christgemeinden der Ostschweiz (1600 Mitglieder), die Christliche Mission Freiamt (90) und das Christliche Zentrum Zürich (50).

Manche Gemeinden kultivieren einen rigiden Verhaltenskodex. So unterstreichen etwa die Frauen der Christengemeinde Buttikon (200 Mitglieder) ihre Moralansprüche damit, dass sie nur Röcke tragen.