«Ich will endlich wissen, was passiert ist»
Die Behörden sollen ihre Archive öffnen, fordert Ruedi Berlinger. Sein Vater war Pilot der Swissair-Maschine, die vor 50 Jahren über Würenlingen AG explodierte.
Veröffentlicht am 14. Februar 2020 - 13:56 Uhr
Es ist der grösste Terroranschlag, der je in der Schweiz verübt wurde. Vor 50 Jahren, am 21. Februar 1970, starben 47 Menschen beim Absturz einer Swissair Coronado. Kurz nach dem Start explodierte im Gepäckraum eine Bombe, ausgelöst durch einen Höhenmesser. Um 13.34 Uhr zerschellte die Maschine bei Würenlingen AG im Wald.
Innerhalb kurzer Zeit eruierten die Ermittler zwei mutmassliche Haupttäter: die beiden in Jordanien lebenden Palästinenser Sufian Radi Kaddoumi und Badawi Mousa Jawher. Gefasst wurden sie nie. Kaddoumi bestritt später in einem Radiointerview, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Die Ermittler gingen davon aus, dass die Bombe in einem Paket in München aufgegeben worden war, Zielort war Tel Aviv.
Der Fall kam nie vor Gericht, die Akten verschwanden im Archiv. Vor allem Angehörige der Opfer sorgen seither dafür, dass der Anschlag nicht in Vergessenheit gerät. Der Beobachter erstritt sich mehrfach juristisch den Zugang zu Dokumenten im Bundesarchiv – und wies auf Ungereimtheiten hin. So ignorierte die Bundesanwaltschaft jahrelang Hinweise, dass der palästinensische Bombenbauer Marwan Khreesat , der auch für mehrere Geheimdienste arbeitete, seine Finger im Spiel gehabt haben könnte.
2016 stiessen Beobachter und NZZ auf einen unbekannten Bericht der amerikanischen Bundespolizei FBI vom Juni 1970. Demnach waren am Anschlag wohl auch zwei nie identifizierte Westdeutsche beteiligt. Zudem wurde das Paket mit der Bombe womöglich in Zürich aufgegeben.
Das warf Fragen auf, die bis heute nicht beantwortet sind. Wussten Israel und die USA vom bevorstehenden Anschlag? Wenn ja, warum wurden die Airlines nicht informiert? Trotz neuer Faktenlage entschied Bundesanwalt Michael Lauber 2018, das Verfahren nicht wieder aufzunehmen. Das FBI-Dokument sei eine «unbelegte Behauptung».
Bis heute schweigt die Familie des mutmasslichen Attentäters Sufian Kaddoumi, mehrere Kontaktversuche blieben in den letzten Jahren erfolglos. Sufian Kaddoumi lebte bis zu seinem Tod Mitte der neunziger Jahre unbehelligt in Jordanien und Jerusalem.
Beobachter: Ihr Vater Karl Berlinger war Pilot der Swissair Coronado, die vor 50 Jahren bei Würenlingen abstürzte. Was empfinden Sie heute?
Ruedi Berlinger: Ich warte noch immer auf Antworten. Warum wurden die Hintergründe nicht restlos aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen? Weshalb ist diese Tragödie einfach in den Schubladen verschwunden? Immer wenn es neue Hinweise gab, sorgten die Behörden dafür, dass der Fall schnell wieder vergessen ging. Man kann das auch Vertuschung nennen.
Vor zwei Jahren erklärte Bundesanwalt Michael Lauber, die Behörden hätten alles versucht.
Das kann ich nicht glauben. Der Beobachter und die NZZ berichteten über ein Dokument des FBI vom Juni 1970. Danach waren wohl zwei weitere Personen in den Anschlag involviert, die Bombe wurde erst in Zürich auf die Post gebracht. Das waren ganz neue Hinweise, aber denen ging man nicht nach. Das ist unverständlich. Hinzu kommt: Wir Hinterbliebenen wurden 50 Jahre lang ignoriert.
Heute dürfte es wohl unmöglich sein, die Täter noch vor Gericht zu bringen.
Ich will auch keinen Schuldigen sehen. Ich will wissen, weshalb die Behörden seit 50 Jahren schweigen.
«Gab es geheime Absprachen, wurde der Fall deshalb schubladisiert?»
Ruedi Berlinger, Sohn des Piloten
Was haben Sie für Erinnerungen an den Tag des Absturzes?
Ich kann mich gut an diesen Tag erinnern. Ich war acht, wir hatten Besuch von Nachbarn. Mit meinen drei Geschwistern war ich im Wohnzimmer, als meine Mutter uns mitteilte, der Vater komme nicht mehr nach Hause. Ich realisierte gar nicht, was das bedeutet.
Wie ging ihre Familie mit der Tragödie um?
Das Thema wurde totgeschwiegen. Wir sprachen nie mehr darüber. Das Leben musste weitergehen. Unsere Mutter sagte, sie wolle das Thema ruhen lassen. Das akzeptierte ich.
Wann wurde für Sie die Geschichte Ihres Vaters wieder ein Thema?
Nachdem meine Mutter 2010 gestorben war. Ich begann, mich vertieft mit den Hintergründen zu befassen, nahm alte Unterlagen hervor, recherchierte. Damals wurde es für mich offensichtlich: Da gibt es viele Unstimmigkeiten und offene Fragen.
50 Jahre nach dem Terroranschlag wollen die Behörden noch immer nicht darüber sprechen.
Wir Angehörigen werden bis heute nicht ernst genommen. Irgendwie fühle ich mich verloren. Indirekt gibt man uns zu verstehen: Was wollt ihr eigentlich noch nach 50 Jahren? Das ist doch kalter Kaffee. Für uns Angehörigen ist das aber nicht so.
Was brauchte es, damit Sie persönlich abschliessen können?
Ich will endlich wissen, was wirklich passiert ist. Gab es geheime Absprachen zwischen dem Bundesrat und den Palästinensern, wurde der Fall deshalb schubladisiert? Das Fazit der Arbeitsgruppe des Bundes – sie kam vor drei Jahren zum Schluss, es habe keine Absprachen gegeben – ist für mich wenig glaubwürdig. Wir wissen bis heute nicht, ob alle Dokumente öffentlich gemacht wurden. Oder nur diejenigen, bei denen Angehörige und Journalisten Einsicht verlangten? Die Schweiz, Deutschland, Israel und die USA müssen endlich ihre Archive öffnen. Sie sollen die restlichen, noch unveröffentlichten Berichte und Dokumente auf den Tisch legen.
Den Gedenkanlass zum 50. Jahrestag organisieren Sie privat. Die offizielle Schweiz schweigt.
Das ist typisch. Die Schweiz müsste endlich dazu stehen, was passiert ist, und zugeben, dass die Behörden Fehler gemacht haben. Die Haltung der Schweiz zeigt sich schon beim Gedenkstein an der Absturzstelle bei Würenlingen. Dieser Platz wird nicht einmal gepflegt. Hätte nicht die Gemeinde vor zehn Jahren den Stein gereinigt, wäre gar nichts passiert. Heute hat offensichtlich niemand der offiziellen Schweiz mehr ein Interesse, an diese Tragödie zu erinnern. Es ist ein aktives Stillschweigen.
Der Beobachter hat schon mehrfach über die Hintergründe des Attentats von Würenlingen berichtet.
- 12.10.2010 – Mantel des Schweigens
Ein bisher geheimes Dokument, das die Bundesanwaltschaft dem Beobachter aushändigen musste, wirft ein neues Licht auf das Swissair-Attentat von 1970, bei dem 47 Menschen starben. zum Artikel
- 21.12.2010 – Geheimakte Würenlingen
Die Hintermänner des Swissair-Attentats von 1970 hatten womöglich auch beim Lockerbie-Anschlag ihre Finger im Spiel. Darauf deutet ein geheimes Protokoll hin. zum Artikel
- 05.06.2012 – Lockerbie: Steckte Libyen dahinter?
Das wohl wichtigste Beweisstück, das zur Verurteilung eines libyschen Geheimdienstlers führte, war wahrscheinlich gefälscht. zum Artikel
- 02.07.2012 – Den Bombenbauer ignorierten sie
Die Bundesanwaltschaft merkte jahrzehntelang nicht, dass ein berüchtigter palästinensischer Bombenbauer seine Finger im Spiel hatte. zum Artikel
- 18.01.2016 – Geheimer Deal mit der PLO
46 Jahre nach dem Attentat von Würenlingen wird klar, warum die Terroristen nie vor Gericht kamen: Die Schweiz hatte mit Palästinensern einen geheimen Deal geschlossen. zum Artikel
- 13.09.2016 – Was genau wusste das FBI?
1970 fand der grösste Terroranschlag in der Schweiz statt. Jetzt taucht ein Bericht des FBI auf. Brisant: Eine der Spuren führt nach Zürich. zum Artikel
- 19.09.2017 – Der Bombenbauer bekam ein Visum
Der grösste Terroranschlag der Schweiz bleibt ein Rätsel. Jetzt zeigt sich: Der Geheimdienst verdächtigte einen berüchtigten Bombenbauer – griff aber nicht zu. zum Artikel
- 16.08.2018 – Der Absturz bleibt ungeklärt
Der Terroranschlag auf eine Maschine der Swissair im Jahr 1970 wird nicht neu untersucht. zum Artikel
- 14.02.2020 – «Ich will endlich wissen, was passiert ist»
Die Behörden sollen ihre Archive öffnen, fordert Ruedi Berlinger. Sein Vater war Pilot der Swissair-Maschine, die vor 50 Jahren über Würenlingen AG explodierte. zum Artikel
Gedenkanlass zum 50. Jahrestag des Flugzeugabsturzes in Würenlingen am 21. Februar 2020 um 13.15 Uhr beim Gedenkstein an der Absturzstelle Unterwald in Würenlingen AG. Mit Beteiligung der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich sowie der katholischen und reformierten Kirche.