Was knuspert denn da?
Rund 50 Millionen Fasnachtschüechli vertilgen die Schweizer jedes Jahr. Die meisten kommen aus Grossbäckereien. Es gibt aber immer noch Familien, die den «Blätz» zu Hause backen.
Veröffentlicht am 4. Februar 2008 - 14:50 Uhr
Leicht steigt die Landstrasse vom Zürcher Kurort Wald nach Ried an. Oberländer Bauernhäuser stehen in der verschlafenen Landschaft, Schneeflecken blitzen in der Vormittagssonne. Elisabeth Rüegg hatte gewarnt: «Es ist nicht sicher, dass es gelingt, beim Chüechle kann immer etwas schiefgehen.» Sie brauchte Worte wie «heikel», Sätze wie «Alles hängt davon ab, ob der Teig elastisch genug ist». Aber an so einem Tag fällt es schwer, sich vorzustellen, dass etwas nicht gelingen könnte.
Beim Spritzenhäuschen in Ried-Gibswil scharf links, an schottischen Hochlandrindern vorbei bis ans Ende der geteerten Strasse. Von hier aus gibt es nur noch das weite Feld, dahinter den Wald, und am Horizont die steilen Gipfel der Glarner Alpen. Mitten in dieser Bilderbuchkulisse steht ein liebevoll restauriertes Bauernhaus, ein Brunnen plätschert, Hühner gackern.
Drei Generationen am Herd
Tochter Judith Biberstein Rüegg, die eigens zum Chüechle aus Bern nach Hause gekommen ist, begrüsst die Gäste, gefolgt von ihren Eltern, Elisabeth und Werner. Ein fester Händedruck, das Du angeboten - «schliesslich werden wir ja nachher gemeinsam chüechle» -, und schon steht man in der guten Stube der Rüeggs. Der Kachelofen strahlt wohlige Wärme aus, die Sonne erhellt das niedrige Wohnzimmer, wo noch im 19. Jahrhundert ein Webstuhl gestanden hat - damals notwendiges Utensil zur Aufbesserung des Lebensunterhalts.
In der Küche heizt der alte Holzherd tüchtig ein, auf der modernen Küchenkombination liegen Eier, Mehl, Rahm und Kirsch bereit: «Alle Zutaten müssen zimmerwarm sein», erklärt Elisabeth. Sie witzelt mit ihrer Tochter Judith darüber, wer wohl heute die Verantwortung tragen muss, wenn es schiefgeht. Die beiden lachen, dennoch liegt Spannung in der Luft. Wird er gelingen? «Chüechle ist immer eine Gratwanderung», sagt die 41-jährige Judith, von Beruf Psychotherapeutin. Der Teig muss elastisch sein, damit er so dünn wie möglich gezogen werden kann. Zu wenig Mehl, dann klebt er. Zu viel, dann reisst er. «Ich komme jedes Jahr hier zu meiner Mutter in die Lehre», sagt Judith. Eine Lehre, die ein halbes Leben dauern kann: Elisabeth chüechelte über 30 Jahre lang unter ihrer Schwiegermutter, «Lehrmeisterin» Grosi.
Heute sind drei Generationen Rüegg dabei - die 67-jährige Flötenlehrerin Elisabeth und ihre Tochter Judith werden von der zwölfjährigen Enkelin Sabine unterstützt. Doch auch die Präsenz der Ahnen ist spürbar, nicht nur in den Geschichten rund ums Chüechlen. Von der verstorbenen Grossmutter sind die weissen, dünnen Leintücher, die sie als junges Mädchen in der Fabrik unten im Tal gewoben hat und die jetzt in der Stube auf ihren alljährlichen Einsatz warten. Und das Holzbrett, auf dem die Chüechli vor dem Backen ruhen, ist ein Andenken an den Grossvater. Auch die Holzstäbli aus Schindeln, die zum Wenden in der Pfanne gebraucht werden, hat er gemacht. Sie sind vom langjährigen Gebrauch vorne leicht geschwärzt.
Leckerei aus dem Mittelalter
«Grosi konnte schön böse werden, wenn die Fasnachtschüechli nicht gelangen.» Das habe dann arg auf die Stimmung geschlagen. Ist es heute anders? Elisabeth lacht: «Ja, natürlich. Ich bin nicht traurig, wenn es nicht klappt.» Tochter Judith schaut sie an, zieht die Augenbrauen hoch: «Ach ja, wirklich?» Sie nimmt die Teigmasse aus der Schüssel und beginnt mit dem Kneten: «Oh, das spüre ich schon jetzt: Der wird kleben», meint sie, während ihre Hände tief in den Teigballen greifen, ihn umdrehen, auseinanderziehen, wieder zusammenfalten. Und weiterkneten. Mit Kraft. Nach kurzer Zeit ist ihr Gesicht gerötet, die Stirn schweissnass. «In den Teig muss die ganze Wärme der Hand», sagt Elisabeth. Sie schaut aufmerksam zu, lässt ihre Tochter eine Weile gewähren und fragt schliesslich: «Chunnts guet?» Judith ist sich nicht sicher, greift zum Mehl: «Jetzt muss halt ein bisschen davon dazu.» Aber eben, nicht zu viel. Judith übergibt für eine Weile an ihre Mutter - eine gute halbe Stunde lang kneten und bearbeiten die beiden den Teig. Bis er kugelrund, geschmeidig glatt und leicht gelb glänzend vor ihnen liegt. Nichts bleibt kleben an der Arbeitsfläche, nichts an den Händen - es scheint geglückt. Doch Elisabeth ist skeptisch: «Das ist noch gar nicht sicher.»
Eine Stunde lang muss der Teig auf dem warmen Kachelofen ruhen, zugedeckt mit einem feuchten Küchentuch. Zeit, die alten Geschichten zu erzählen. Etwa, dass Grosi lange keine Kinder beim Chüechle dabeihaben wollte. «Sonst kann man nicht vorwärtsmachen», pflegte sie zu sagen. «Wir haben immer gespannt gewartet, bis Müeti mit dem Waschkorb voller Chüechli vom Haus der Schwiegereltern zurückkam», sagt Judith. Diese wurden dann an einem trockenen und kühlen Ort gelagert. Stibitzen? Nein, was bei den Weihnachtsguetsli durchaus drin lag, galt bei den Chüechli als unethisch.
In der Schweiz werden um die Fasnachtszeit rund 50 Millionen Fasnachtschüechli gegessen, der überwiegende Teil davon stammt aus den Industriebäckereien von Coop und Migros. Wer nur diese kennt, hat keine Ahnung, wie die selbstgemachten schmecken. Früher war es im ganzen Land gang und gäbe, die zarten Teigfladen selber zu backen, stolz tischte man das Gebäck auch Gästen auf. Ihren Ursprung haben die Fasnachtschüechli im Mittelalter: Vor der 40-tägigen Fastenzeit wurde die Bevölkerung dazu angehalten, ihren Vorrat an Eiern, Milch und Schweinefett aufzubrauchen. Eine Gelegenheit, nochmals so richtig zu sündigen. Wie die anderen Fasnachtsgebäcke, die Schenkeli und Schläufeli, werden sie schwimmend in Fett gebacken - heute Kokosfett, früher Schweinefett, auch Schmutz genannt. Daher der Name «Schmutziger Donnerstag».
Die Ruhezeit für den Teig ist fast um, die zweite Etappe beginnt: Judith und Elisabeth stellen in der Stube zwei Stühle einander gegenüber, legen das Holzbrett dazwischen, darüber eines der weissen Leintücher. Elisabeth formt pflaumengrosse Kugeln aus dem Teig, die auf einem Küchenleintuch noch ein wenig liegen sollen: «Ich glaube, er ist doch zu feucht.» Enkelin Sabine, die ebenfalls Kugeln formt, ist ganz kribbelig: Ob es ihr auch gelingen wird, das berühmte Übers-Knie-Ziehen? Dann beginnt sie mit dem Auswallen. Nicht ganz einfach, der Teig klebt zwar nicht, aber er entzieht sich gerne dem Wallholz. Elisabeth legt den dünnen Teigblätz Judith aufs Knie. Voilà, ein Chnöiblätz, wie die Fasnachtschüechli in manchen Gegenden heissen. «Jetzt kommt das Heikelste», sagt Judith und nimmt den Blätz zwischen Zeigfinger und Daumen, beginnt sanft zu ziehen, lässt los, greift erneut. So wird der Teig immer weiter ausgezogen: «Er sollte so dünn werden, dass man hindurchsehen kann.» Endlich: Die Farbe des Tuchs auf ihrem Knie schimmert durch den Teig.
Der gemütliche Schwatz gehört dazu
Die feuchte Wärme des Blätzes ist, obwohl das Tuch dazwischen liegt, auf dem Knie spürbar. Sabine gefällt das. Der Blätz fühlt sich geschmeidig an. Sie beginnt nun ebenfalls zu ziehen. Es klappt. Sie wird mutiger, zieht noch mehr. Da, ein Riss. Man wäre versucht, den Teig zusammenzuschieben und von vorn zu beginnen. Doch nichts da: «Es gibt keine zweite Chance», sagt Elisabeth und tröstet: «Der schmeckt auch so.» Nun geht es eins ums andere, die drei tauschen Neuigkeiten aus: «Das ist der gemütliche Teil: zusammenhöckeln, reden», sagt Elisabeth. Die Tessiner nennen das Gebäck denn auch «chiacchere» - Geschwätz.
Lagenweise liegen die Chüechli auf dem Brett, leicht angetrocknet erinnern sie nun an Pergament. In der Küche steht die Gusseisenpfanne bereit. Judith leert drei Kübelchen Kokosfett hinein. Und nun geht es auf einmal ganz schnell: Elisabeth nimmt einen Fladen, lässt ihn ins heisse Fett gleiten und gibt ihm sogleich mit den zwei Holzstäben seine Form. Das geht so: Der Teig wird sanft nach unten gedrückt und gleichzeitig von aussen nach innen zusammengeschoben. Es schäumt, und die gelblichen Fladen werden in Sekundenschnelle weiss, werfen Blasen, gehen auseinander. Einmal wenden, und schon lässt Elisabeth das Gebäck gut austropfen, bevor sie es auf ein Kuchengitter legt. Sofort beginnt die Veredelung: Judith streut Zucker über das noch warme Gebäck - «wir nehmen Kristallzucker, den haben wir lieber als Puderzucker» - und legt es in den Wäschekorb. Schicht um Schicht füllt sich dieser mit mal helleren, mal dunkleren, mal grösseren, mal kleineren Chnöiblätz.
In der nun fast unerträglich warmen Küche ist die Luft schwer und ölig. Fenster auf und - testessen! Mit einem Biss in das knusprige, hauchdünne Küchlein wird klar, warum Westschweizer sie «Merveilles» nennen, «kleine Wunder». Die drei Frauen ziehen entspannt die Schürzen aus.
Rezept: Fasnachtschüechli
Rezept für zirka 60 Stück | |
4 Eier | verklopfen |
1dl Rahm 1 Teelöffel Salz 1 Esslöffel Kirsch (nach Belieben) | beigeben |
500g Mehl | hineinkneten |
30 Minuten gut kneten, Teig darf nicht kleben und muss elastisch sein. Eine Stunde zugedeckt ruhen lassen. Mit einem Messer pflaumengrosse Stücke abschneiden, zu Kugeln formen. Kugeln zugedeckt zirka 10 Minuten ruhen lassen. Dünn auswallen und von Hand noch weiter verziehen. Chüechli kurz im heissen Kokosfett schwimmend backen, sofort mit Zucker bestreuen. Die Chüechli sollten an einem kühlen und trockenen Ort gelagert werden. |