Ist bei der Kesb jetzt alles paletti?
Die einst umstrittenste Behörde der Schweiz wird kaum noch kritisiert. Ist nun alles gut? Fünf Kesb-Kennerinnen und -Kenner ziehen Bilanz.
Veröffentlicht am 2. März 2023 - 14:00 Uhr
Zu paragrafentreu, zu lebensfern, zu interventionistisch. Um keine andere Behörde in der Schweiz wurde so heftig gestritten wie um die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, die sich seit dem 1. Januar 2013 um vernachlässigte Kinder und schutzbedürftige Erwachsene kümmert.
In den ersten Jahren schien es, als könne es die Kesb niemandem recht machen: Entweder griff sie zu wenig und zu spät ein oder zu früh und zu unverhältnismässig.
Dann kam es 2015 in Flaach ZH zum Schlimmsten, das man sich ausdenken konnte: Eine Mutter erstickte ihre beiden Kinder. Angeblich wegen der Kesb, die ihr die Kinder wegnehmen wollte. Es folgten Mahnwachen, Schlagzeilen und eine Volksinitiative, die dann aber nicht zustande kam.
Momentan unterstützt die Kesb in der ganzen Schweiz insgesamt rund 45'000 schutzbedürftige Kinder, 20'000 davon sind Kinder von Eltern, die sich um das Sorge- oder Besuchsrecht streiten.
«Die Kesb ist eine Schutzbehörde, keine Strafbehörde. Sie hilft, wenn es brennt.»
Diana Wider, Juristin
Diese Konflikte machen die Hauptarbeit der Behörde aus. Zwei Drittel der Schutzmassnahmen wiederum betreffen Erwachsene, 84 Prozent davon sogenannte Vetretungsbeistandschaften, also kleine Hilfeleistungen im Alltag.
In 80 bis 85 Prozent aller Fälle sind die Betroffenen gemäss Angaben der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (Kokes) froh, dass die Kesb sie unterstützt. Über sie dringt nur wenig an die Öffentlichkeit. Die Diskussion prägen aber durchwegs Fälle, die eskaliert sind.
In den letzten Jahren ist es stiller um die ehemals umstrittenste Behörde der Schweiz geworden, die nun zehn Jahre alt wurde. Ist alles gut? Fünf Kesb-Spezialistinnen und Spezialisten ziehen Bilanz.
Der Kopf dahinter: Christoph Häfeli
«Das neue Gesetz ist gut. Und das sage ich nicht nur, weil ich daran beteiligt war.» Christoph Häfeli blickt auf eine lange Laufbahn im Kindes- und Erwachsenenschutz.
Erst als Sozialarbeiter, dann als Jurist und Rektor der Fachhochschule für Soziale Arbeit, schliesslich als einer von drei führenden Köpfen, die hinter dem neuen Gesetz standen. In jüngster Zeit als unermüdlicher Berater für verschiedene Kesb-Behörden in der ganzen Schweiz.
«Die Revision des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts, sozusagen die Geburt der Kesb, war unbestritten. Das alte Gesetz war über hundert Jahre alt, die Behörde seit den 1950er-Jahren nicht mehr zeitgemäss.»
Damals entschieden hauptsächlich die Gemeinden über den Schutz von Kindern und Erwachsenen. Laien ohne Ausbildung. «Doch der Schutz der Schwächsten in unserer Gesellschaft braucht interdisziplinäres Fachwissen, Erfahrung und Unabhängigkeit. Deshalb gibt es die Kesb.»
In den Anfangsjahren habe er unterrichtet bis zum Umfallen, sagt Häfeli. Die Umwandlung von der Laien- in eine Profibehörde sei ein gigantischer Hosenlupf gewesen. Auch finanziell. Es kam zu Unstimmigkeiten, Fehlern und Skandalen. Aber das habe sich zum Glück gelegt.
Häfelis Hauptsorge gilt heute den Berufsbeiständen. Das Problem? Man findet nicht genug Leute. «Die Politik wünscht sich, dass vermehrt Privatpersonen als Beistände beigezogen werden können. Ich bin skeptisch.» Denn oft gehe es um konfliktreiche Familiensituationen, die Laien schnell überfordern.
Auch dass das Beistandschaftswesen wieder vermehrt über die Gemeindeebene organisiert werde, gebe ihm zu denken. Je grösser das Einzugsgebiet von Beiständen, desto mehr Fälle haben sie und desto grösser sei ihr Fachwissen. All das brauche es, um im Kindes- und Erwachsenenschutz wirklich gute Entscheidungen zu treffen.
Der Kritiker: Pirmin Schwander
Pirmin Schwander war das Sprachrohr jener, die die Kesb kritisieren. Willkürlich, unmenschlich und zerstörerisch sei die Behörde. Ein «Sozial-Irrsinn», sagte der Schwyzer SVP-Nationalrat.
2018 sammelte er Unterschriften für eine Volksinitiative, die der Kesb zentrale Befugnisse wegnehmen wollte. Trotz Mahnwachen und tragischer Geschichten, die Schwander an die Öffentlichkeit zerrte, kam die Initiative nicht zustande. Seither ist es ruhig geworden um den Kesb-Kritiker Schwander.
Ist heute alles paletti mit der Kesb, Herr Schwander? «Nein. Juristen und ihre Paragrafen haben die Überhand, Menschen sind zu Fallnummern geworden, und das hat Konsequenzen.»
Die Fehlerquote der alten Vormundschaftsbehörde habe bei 3 Prozent gelegen, die der Kesb betrage 18 bis 20 Prozent. Diese Zahlen hat Schwander selbst berechnet, anhand von «Fehlern», die er gesammelt habe, wie er sagt.
Grundlage seien die gut 5000 Fälle, die bei ihm in den letzten 40 Jahren über das Pult gegangen seien. Fälle, in denen er Betroffenen zur Seite gestanden habe.
Er sei froh, dass das Bundesamt für Justiz momentan an einer Minirevision des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts arbeite. Eine Revision, die sich allerdings auf wenige Einzelpunkte beschränken wird, etwa auf Vorsorgeaufträge und auf einen verbesserten Einbezug von nahestehenden Personen.
Für Schwander, der mit seiner Kritik an der Kesb keine politischen Erfolge einfahren konnte, ist diese Minirevision «eine Genugtuung». «Leider mussten die Betroffenen zehn Jahre darauf warten. Zehn Jahre lang hat man Tausende Menschen in diesem Land umsonst traumatisiert.»
Was sagt der Politiker Schwander dazu, dass der grösste Teil der Kesb-Kritik relativiert oder widerlegt wurde? «Jeder falsch gelaufene Fall ist einer zu viel.»
Der Praktiker: Andreas Hildebrand
«Die ersten Jahre waren eine Herausforderung», sagt Andreas Hildebrand, der heute Präsident der kleinen ländlichen Kesb von Gossau SG ist.
«Mit einem Lieferwagen haben wir damals Hunderte Dossiers bei den alten Vormundschaftsbehörden abgeholt. Wir hatten keine Ahnung, was drinsteht.
Wir kannten die Fälle nicht, das neue Recht nicht, der Beruf ‹Mitglied einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde› war völlig unbekannt.» Weder die Polizei noch die Schule noch die Sozialarbeiter hätten gewusst, wer sie seien.
«Wir wurden zwar gross angekündigt, mussten uns dann aber erst einmal bewähren. Einfach war das nicht. Das ist es auch heute nicht.»
Zusammen mit seinem fünfköpfigen Team aus einer Juristin, einer Psychologin, einer Sozialpädagogin und zwei Sozialarbeitern entscheidet Hildebrand über das Schicksal von Jugendlichen mit psychischen Problemen, von einsamen alten Menschen, zerstrittenen Familien und vernachlässigten, traumatisierten oder in ihrer Entwicklung gefährdeten Kindern.
Jeder Fall sei eine Gratwanderung. Er und sein Team sehen Kinder, die sich nicht gut entwickeln und in einer liebevollen Pflegefamilie besser aufgehoben wären. Und doch sei da eine Bindung zwischen Eltern und Kind, die sie mit einer Fremdplatzierung verletzten.
Was verursacht weniger Leid? Oder sie seien mit älteren Menschen konfrontiert, die unbedingt in ihrem Haus weiterleben wollen, egal, wie dement, krank und vereinsamt sie sind. Wie viel Selbstbestimmung soll man zulassen? Und wie viel Elend?
«Meine grösste Angst ist, dass irgendwann ein Mensch vor mir steht und sagt: Du hast genau gewusst, wie schlimm es bei mir zu Hause war, hast aber nichts unternommen.»
Für die Zukunft wünscht sich Hildebrand mehr Zeit – für Gespräche, für Kompromisse und um Vertrauen aufbauen zu können. Davon hänge letztlich der Erfolg genauso ab wie vom Fachwissen aller Mitarbeitenden.
Die Koordinatorin: Diana Wider
«So schwierig ich es finde, wenn die Arbeit der Kesb auf den Fall Flaach reduziert wird: Der Fall – oder eigentlich die emotionale Flutwelle danach – war ein Schlüsselmoment», sagt Diana Wider, Professorin an der Hochschule Luzern.
Seit bald 17 Jahren ist sie Generalsekretärin der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (Kokes), die das Scharnier bildet zwischen den 124 regionalen Behörden und den 26 Kantonen.
Für den Kindes- und Erwachsenenschutz sind die Kantone zuständig. Wider koordiniert für sie Weiterbildungen, formuliert Empfehlungen, führt die Statistik. Und sie kämpft unermüdlich für ein besseres Image der Behörde.
«Die Kesb konnte nicht gut erklären, was sie macht und warum sie es macht. Das wissen wir seit dem Fall Flaach.» Damals hätte die junge Behörde weder die Fachkompetenz noch die Zeit gehabt, um zusätzlich zu ihrer Tätigkeit auch noch gute Öffentlichkeitsarbeit zu machen. «Wie wir unsere Arbeitsweise kommunizieren, war anfangs Luxus, heute ist es eine Notwendigkeit.»
Ohne das Vertrauen der Bevölkerung könne die Kesb ihre Arbeit nicht richtig machen, sagt Wider. Massnahmen müssten sorgfältig beschlossen werden.
Das gelinge aber nur, wenn die Betroffenen auch bereit seien, mit der Behörde offen über Probleme zu sprechen. «Die Kesb ist eine Schutzbehörde, keine Strafbehörde. Sie hilft, wenns brennt. Wie eine soziale Feuerwehr.»
In der Politik mangle es manchmal am Bewusstsein, dass die Arbeit der Kesb ein Spiegel der Gesellschaft sei. So sei derzeit die hohe Zahl von fürsorgerischen Unterbringungen ein Problem.
Es brauche dringend mehr Therapieplätze. Ohne Hilfe verschlechtere sich die Situation von Menschen mit psychischer Belastung so stark, dass die Kesb sie in die Klinik einweisen müsse. Nur weil alle anderen Stricke gerissen sind.
Der Vermittler: Guido Fluri
Vor sechs Jahren hat Guido Fluri die Kesb-Anlaufstelle Kescha gegründet. Seither hat sie 13000 Fälle bearbeitet, in denen die Fronten verhärtet waren.
Dabei ging es auch um Missbrauchsanschuldigungen, Besuchsverweigerungen, angedrohte Suizide. «Viele Menschen, die in einer schwierigen Situation sind und mit einem Kesb-Entscheid konfrontiert werden, sind im freien Fall. Bei einem Konflikt versucht die Kescha, sie aufzufangen und Lösungen aufzuzeigen.»
«Familie ist leider nicht immer der heile Ort, an den viele Kesb-Gegner glauben. Übergibt man einer dysfunktionalen Familie die ganze Verantwortung, leiden viele.» Deshalb brauche es eine professionelle Behörde wie die Kesb, die eingreifen und sauber abklären könne.
Es gebe aber immer noch Luft nach oben, fügt Fluri an. So seien viele Berufsbeistände überlastet und könnten ihre Aufgabe, Menschen in Krisensituationen beizustehen, kaum wahrnehmen.
«Kesb-Entscheide können noch so gut sein, sie zeigen wenig Wirkung, wenn den Beiständen die Zeit fehlt, um bei Betroffenen Vertrauen aufbauen zu können.» Die Politik müsse dafür sorgen, dass die Kesb genügend qualifizierte Leute habe.
Leute, die in der Lage sind, die grossen Belastungen, die Teil der Arbeit sind, auszuhalten, menschlich zu entscheiden und die Betroffenen eng zu begleiten. Das brauche genügend Ressourcen für Beistände. Und genau dort hapere es.
Auch ein neues Familienverfahrensrecht, das verlangt, dass vor Trennungen und Scheidungen eine kinderrechtliche Beratung stattfinden muss, wünscht sich Fluri.
«Am meisten Arbeit machen noch immer Eltern, die verbissen um ihre Kinder kämpfen.» Ein entsprechendes Pilotprojekt im Kanton Bern gibt Fluri Hoffnung. «Die Kescha braucht es hoffentlich nicht für immer. Aber noch so lange, bis alle Menschen im freien Fall nicht irgendwo anders aufgefangen werden.»