Kinderarmut nimmt in der Schweiz so stark zu wie in Frankreich
In der Schweiz leben um die 100’000 Kinder und Jugendliche in Armut. Sie werden ausgegrenzt. Die Stiftung SOS Beobachter kann Brücken bauen.
Im Oktober feierte Yulia Kravets zum ersten Mal ihren Geburtstag. Sie wurde 15 – und wünschte sich eine Erdbeertorte. Ein kleines Fest, ein Stück Normalität, wie sie es lange nicht gehabt hatte. «Als ich Yulia kennenlernte, hatte sie kein einziges Hobby», sagt ihre Beiständin. Inzwischen unternimmt die Jugendliche lange Spaziergänge, trifft Freundinnen, hat Karate ausprobiert. Sie träumt von einer Zukunft in Zürich, als Köchin oder Dolmetscherin.
Yulia Kravets ist nicht ihr richtiger Name. Alle Betroffenen in diesem Artikel sind aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre umbenannt. Wer die Kinder und Jugendlichen später googelt, soll nicht erfahren, dass sie in Armut aufgewachsen sind. Yulia stammt aus einer ukrainischen Grossstadt. Im Sommer 2023 floh sie mit der Mutter und zwei Geschwistern vor dem Krieg in die Schweiz. Doch das Leben blieb auch hier kompliziert.
«Kaum Essen, keine Kleidung, viel Gewalt»
«Zu Hause gab es kaum Essen, keine Kleidung, viel Gewalt. Deshalb ging ich zur Polizei», erzählt Yulia Kravets ruhig, in flüssigem Deutsch. Es habe eine Untersuchung gegeben. Die Mutter sei zurück in die Ukraine, der Kontakt zu ihr abgebrochen. Seither lebt der Teenager in einem Wohnheim für junge Frauen in instabilen Lebensphasen. Zu Beginn fühlte sie sich isoliert. «Ich hatte jeden Tag das gleiche Kleid an, dafür habe ich mich geschämt. Im November trug ich Sommerschuhe und teilte eine Jacke mit meiner Schwester.»
Nicht immer zeigt sich Armut anhand von ausrangierten Kleidern. Gerade in reichen Ländern bleibt sie oft verborgen. In der Schweiz leben je nach Statistik zwischen 99’000 und 134’000 Kinder und Jugendliche in Armut. 269’000 – 17 Prozent der Minderjährigen – sind armutsgefährdet. Zwei Drittel stammen aus Working-Poor-Familien: Das Einkommen ihrer Eltern liegt unter dem Existenzminimum, das Geld reicht nur fürs Nötigste.
Der Teufelskreis der Armut
Neben finanziellen Problemen haben diese Kinder und Jugendlichen auch emotionale, psychische und soziale Sorgen. Besonders ihr Zugang zu Bildung und Gesundheit ist mangelhaft. Oft versuchen sie ihr Möglichstes, die Not zu verbergen. Denn Armut und Ausgrenzung gehen Hand in Hand.
Kinder bekommen das besonders zu spüren. Sie wollen dazugehören – nicht negativ auffallen. Das tun sie aber, wenn sie auf Schulausflüge verzichten. Keine Geschenke zu Geburtstagspartys bringen, als Einzige nicht im Fussballclub spielen. In der Schule fallen Armutsbetroffene zurück, weil sie weder frühkindliche Bildung noch Nachhilfe in Anspruch nehmen. Wenn die Noten schlechter werden, verlieren sie das Interesse und hängen ab. Ein tiefes Bildungsniveau führt zu schlecht bezahlten Jobs und letztlich wieder zu Armut: ein Teufelskreis.
«Kinder leiden mit, wenn Eltern die Miete nicht bezahlen, mehrere Jobs annehmen und ständig unter Stress stehen.»
Beat Handschin, Geschäftsführer Stiftung SOS Beobachter
Dieser Teufelskreis dürfte nicht sein. Die Bundesverfassung garantiert das Recht auf Hilfe in Notlagen und ein menschenwürdiges Dasein. Bei Minderjährigen umschliesst das die Förderung ihrer Entwicklung. Die Verantwortung dafür tragen nicht nur die Eltern. Der Staat ist dazu verpflichtet, sie zu unterstützen.
Ein wichtiges Instrument ist dabei die Sozialhilfe. «Geldleistungen reduzieren die Einkommensarmut von Kindern um fast die Hälfte», schreibt das Kinderhilfswerk Unicef. Ohne sie läge die Kinderarmut in der Schweiz bei 30 Prozent. Im Jahr 2022 wurden rund 76’000 Kinder mit Sozialhilfe unterstützt – der mit Abstand höchste Wert in allen Altersklassen.
Eigentlich ein funktionierendes Auffangnetz. Trotzdem fallen manche durch die Maschen. So wie Yulia Kravets. Als Schutzbedürftige mit Status S wird sie zwar unterstützt, die Beiträge liegen aber 30 Prozent unter den vorgesehenen Sozialhilfe-Ansätzen. Konkret: 372 Franken pro Monat.
Endlich Geld für bitter nötige Schuhe und Kleider
In solchen Fällen kann SOS Beobachter einspringen. Die Stiftung unterstützt seit über 40 Jahren Armutsbetroffene in der Schweiz. Punktuelle Beiträge sollen ihnen helfen, den Alltag zu meistern. «Kinder sind häufig auch indirekt betroffen», sagt Geschäftsführer Beat Handschin. «Sie leiden mit, wenn Eltern die Miete nicht bezahlen, mehrere Jobs annehmen und ständig unter Stress stehen.»
Yulia Kravets erhielt einen Beitrag für Wechselkleidung, Winterschuhe, eine eigene Jacke. Seit August besucht sie eine Aufnahmeklasse und fühlt sich deutlich wohler. «Ich kann mich auch mal schön anziehen und steche nicht sofort heraus.» Was für andere nur Stoff ist, verschafft ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit.
SOS Beobachter stellt bei jedem Gesuch sicher, dass es gerechtfertigt ist und die ausbezahlten Gelder nachhaltig helfen. Viele Anfragen seien bescheiden, sagt Beat Handschin. «Ein Zwölfjähriger wünschte sich ein Pult für seine Hausaufgaben. Andere Kinder träumten von Zootickets oder einem gebrauchten Velo.» Von Schwimmlektionen, Kids-Tennis, dem Europa-Park.
Ein verletzter Kater und Long Covid
Nadja Schwyters Leben lief nicht immer nach Plan. Zweimal war sie verheiratet, beide Männer liessen sie sitzen. Allein mit den Kindern, ohne Unterhalt. Das Gericht gab ihr recht, die Alimente brachten Entlastung. Und doch ist die
«Wir schlagen uns durch», sagt die Alleinerziehende. Im Normalfall klappe das gut – vor zwei Jahren sei aber viel Unvorhergesehenes zusammengekommen. Ein kaputter Backofen, ein verletzter Kater, hohe Zahnarztrechnungen. Gleichzeitig erkrankte die damals
Musikunterricht abblasen, um zu sparen?
«Es wurde extrem eng», erinnert sich Schwyter. Wie sollte sie die nächste Rechnung bezahlen? Worauf könnte die Familie verzichten? Für einen Moment dachte sie an den Musikunterricht der Jüngsten. Der Zehnjährige spielt Klavier, die Zwölfjährige ein gemietetes Cello. «Es sträubte sich aber alles in mir», erinnert sie sich.
Auch wenn sie geschieden sei, wolle sie ihren Kindern ein schönes Leben bieten. «Beim Musizieren können sie abschalten.» Deshalb stellte sie ein Gesuch – und SOS Beobachter übernahm die Kosten.
Kinder haben ein Anrecht «auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemässe aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen Leben».
Uno-Kinderrechtskonvention
Nun liesse sich ketzerisch einwerfen: Es gibt Schlimmeres, als wenn ein Kind keine Musik machen kann. Mag sein, isoliert betrachtet. Aber ob ein Kind gut aufwächst, hängt nicht allein ab von elementaren Dingen wie ausreichender Ernährung oder einem Dach über dem Kopf.
Das hält auch die Uno-Kinderrechtskonvention fest, die die Schweiz 1997 ratifiziert hat. Demnach haben Kinder ein Anrecht «auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemässe aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen Leben».
Fachleute sind sich einig: Je länger ein junger Mensch erfahren muss, was Ausschluss und Armut bedeuten, umso wahrscheinlicher ist es, dass er ein Leben lang sozial und wirtschaftlich gefährdet ist.
Note «ungenügend» für die Schweiz
In Frankreich, Grossbritannien, Island und der Schweiz ist die Kinderarmut zwischen 2014 und 2021 am stärksten angestiegen. Mehr als 10 Prozent – das bedeutet für die Schweiz Platz 30 von 39 untersuchten EU- und OECD-Staaten. Die Bekämpfung von Kinderarmut gelingt also nur unzureichend. Das zeigt eine Unicef-Studie aus dem letzten Jahr.
Nicole Hinder von Unicef Schweiz ist alarmiert. «Aus der Perspektive der Kinderrechte ist dieses Ergebnis besorgniserregend», sagt sie. Die Ausgaben für Kinder und Familien seien zwar insgesamt gestiegen, doch die Unterstützung für die unteren Einkommensklassen ist rückläufig. Solche Transferleistungen seien aber zentral: «Die fehlende materielle Absicherung behindert Kinder darin, ihre Rechte wahrzunehmen und ihr volles Potenzial zu entfalten. Das schafft weitere Ungleichheiten.»
Bund und Kantone und die heisse Kartoffel
Was tut die Politik zur Verbesserung? Sie zaudert. Vorstösse im Parlament werden regelmässig versenkt, im Kern stets mit der gleichen Begründung: Für die Unterstützung von Bedürftigen seien die Kantone zuständig.
Diese setzen die Gewichte höchst unterschiedlich. Soeben hat sich Freiburg – nach Genf, Solothurn, Tessin und Waadt – dafür ausgesprochen, künftig Ergänzungsleistungen (EL) für Familien auszurichten. Dieses Instrument ist nachweislich eines der wirksamsten gegen Kinderarmut.
Föderalismus als Bremsklotz
Aber: 21 Kantone leisten sich keine Familien-EL – der föderalistische Flickenteppich bremst die Armutsbekämpfung aus. Gegensteuer soll eine nationale Strategie gegen Armut geben, deren Erarbeitung das Parlament soeben beschlossen hat.
Darin einfliessen dürften auch die Erkenntnisse einer aktuellen Untersuchung der Charta Sozialhilfe Schweiz. Sie kommt zu einem bedenklichen Fazit: Im heutigen Unterstützungssystem werden Kinder und Jugendliche in aller Regel bloss als Anhängsel ihrer Eltern behandelt. Eigene Interessen kommen zu kurz – sie sind die vergessenen Armen in diesem Land.
Zur Verbesserung sollen die Bedürfnisse von Kindern künftig vermehrt direkt angesprochen werden. So könnten etwa schulische Unterstützungsangebote finanziert werden – was heute oft zu kurz kommt. Und um finanzielle Lücken bei der Existenzsicherung zu schliessen, stehen altersabhängige Leistungen in der Sozialhilfe zur Debatte, wie man das bei den EL bereits kennt. Schliesslich fallen bei Jugendlichen andere Kosten an als bei Kleinkindern.
Das Projekt Gustaf greift, wenn es brennt
Einen anderen Weg, als Geld ins System zu pumpen, verfolgt das Nidwaldner Präventionsprojekt Gustaf. Das Kürzel fasst das Ziel zusammen: guter Start ins Familienleben.
Das Programm setzt in den ersten Lebensjahren an, noch vor dem Eintritt in den Kindergarten – wenn das Risiko am grössten ist, Armut am eigenen Leib zu erfahren. Eine Armutsgefährdung definiert sich nicht nur durch materiellen Mangel. Auch gesundheitliche Probleme oder fehlende gesellschaftliche Einbindung können eine Rolle spielen.
«Belastete Eltern übertragen ihren Stress auf die Kinder. Das wollen wir durchbrechen.»
Martina Durrer, Fachverantwortliche frühe Kindheit, Kanton Nidwalden
Deshalb vernetzt Gustaf verschiedene Fachdienste aus dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich: Die einzelnen Akteure bewirtschaften ihren Bereich nicht isoliert, sondern arbeiten zusammen und tauschen Informationen aus. Das ermöglicht einen ganzheitlichen Blick auf die Problemstellungen.
«Wenn es in dieser frühen Phase gelingt, eine mehrfach belastete Familie zu stärken, verbessert das die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder», sagt Martina Durrer, Fachverantwortliche frühe Kindheit beim Kanton Nidwalden. «Belastete Eltern übertragen ihren Stress auf die Kinder. Das wollen wir durchbrechen.»
Hebammen ermöglichen frühen Zugang
Bloss: Wie erreicht man armutsgefährdete Familien? Fachpersonen, die früh mit der Familie in Kontakt kommen, spielen eine wichtige Rolle. Die Hebamme etwa: Ihr vertraut die Mutter an, wo in der Familie der Schuh drückt. Diese Info kann die Hebamme an die richtige Stelle tragen – so wird das interdisziplinäre Netzwerk der Unterstützenden aufgebaut. Entscheidend für den Ansatz: Alles geschieht nur mit ausdrücklicher Zustimmung. «Die Familie holt uns ins Boot, nicht umgekehrt», sagt Verena Wicki Roth, Vorsteherin des Nidwaldner Sozialamts.
Gustaf gibt es seit 2023 als feste Einrichtung. Rund 20 Prozent der Nidwaldner Familien wurden seither nach der Geburt eines Kindes weiter begleitet, die Erfahrungen sind positiv. Das Modell hat schweizweit Pioniercharakter und inspiriert bereits Nachahmer, so etwa die Kantone Obwalden und Luzern.
Auch arme Kinder wollen Träume verwirklichen
Amira Karimi war als Kind weit weg von einer engmaschigen Begleitung. Sie lernte früh, sich auf eigene Faust durchzuschlagen – in letzter Konsequenz: 2022 reiste sie als
Doch sie hat aus ihrem früheren Leben auch etwas mitgebracht, was ihr heute Halt gibt: Taekwondo, eine koreanische Kampfkunst. «Es ist für mich nicht nur ein Sport, sondern ein Teil meiner Identität», sagt sie. Und zugleich eine Brücke zur sozialen Integration. Im Training hat sie Freunde gefunden und ihre Sprachkenntnisse verbessert. «Der Sport hilft mir auch, Struktur im Alltag zu bewahren und mit klaren Zielen auf den Erfolg hinzuarbeiten.»
Inzwischen ist sie Schweizer Meisterin
Erfolgreich ist Amira Karimi bereits. Sie gewann in ihrer Gewichtsklasse den Schweizer Meistertitel, was ihr gute Aussichten für eine Teilnahme an den Olympischen Sommer-Jugendspielen 2026 gibt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sie das Training intensivieren und regelmässig Wettkämpfe bestreiten, auch international. Das hat seinen Preis. Allein die vier wöchentlichen Trainings kosten 2400 Franken im Jahr.
Amira Karimi lebt vollumfänglich von der Sozialhilfe. Spitzensport unterstützt diese jedoch nicht. Eltern oder Verwandte, die für die zusätzlichen Kosten aufkommen könnten, hat sie keine. Die Stiftung SOS Beobachter hilft nun mit einem Beitrag aus. Das sorgt bei der Jugendlichen für einen Motivationsschub: «Ich bin fest entschlossen, meinen Traum zu verwirklichen.»
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 4. November 2024 veröffentlicht.
2 Kommentare
'Arm dran' sind die Betroffenen vor allem wegen den gesellschaftlichen Ansprüchen, die wir haben. Und nicht nur wir, sondern auch unsere Gäste (u.a. Ukrainer) und Migranten, die kaum in der Schweiz, Ansprüche stellen. Selbstmitleid oder Gejammer kann ich nicht mehr hören. Als klassischer Secondo war ich in Allem was Geld kostete benachteiligt, kein Skilager, ein altes Velo, keine Badi-Saisonkarte, kein Sackgeld, keine Ferienreisen usw. Es ging finanziell einfach nicht. Man wurde früher noch viel mehr diskriminiert, nicht nur in Bezug auf Einkommen oder Geld im Allgemeinen. Klar leben wir nicht mehr in den 70ern, aber meine Eltern haben wir etwas mitgegeben, was auch heute funktioniert: 'Sei ein guter Mensch, sei ein guter Schüler, halte dich vom Aerger fern und nutze die Chance, die dir die Schweiz gibt.' Es hat funktioniert!
Ich erlebe immer wieder wie neuwertige Alltagsgegenstände die ich verschenken möchte und auf Ricardo, Tutti usw ausschreibe, auf kein Interesse stossen. Helfen ist manchmal gar nicht so einfach.