Wenn Silben und Zahlen zur Qual werden
Manchen Kindern fällt es schwer, rechnen und lesen zu lernen. Je früher Lernstörungen erkannt werden, desto aussichtsreicher ist eine Therapie.
Veröffentlicht am 10. August 2023 - 16:30 Uhr
Übung macht den Meister. Das gilt nicht nur fürs Geige-, Golf- oder Schachspielen. Es gilt auch fürs Lesen, Schreiben und Rechnen. Doch bei manchen Kindern harzt dieser Prozess. Sie können Hausaufgaben machen, so viel sie wollen: Für sie bleibt jede Rechenaufgabe eine Qual – oder ein einfacher Text wird zu einem Buch mit sieben Siegeln.
Lernstörungen bei Kindern sind häufig. Drei bis acht Prozent leiden an einer Rechenstörung, auch Dyskalkulie genannt. Ebenso viele, manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 15 Prozent aus, haben eine Lese-Rechtschreib-Störung; die Fachbegriffe dafür lauten Legasthenie oder Dyslexie. Betroffen sind beim Rechnen mehr Mädchen, beim Lesen und Schreiben mehr Buben.
Die Ursachen sind nicht vollständig geklärt. Teilweise sind Lernstörungen genetisch bedingt. So kenne man heute neun Gene, die an der Entstehung der Dyslexie beteiligt seien, sagt Monika Brunsting, Psychologin am Nordostschweizer Institut für Lernfragen und Expertin für Lernstörungen. Bei Betroffenen sind bestimmte Hirnareale weniger gut verknüpft. Bei Kindern mit einer Dyskalkulie lasse sich das an einer Hirnfurche nachweisen, die beim Rechnen und Schätzen von Mengen eine wichtige Rolle spiele, sagt die Neurobiologin Karin Kucian, Forschungsgruppenleiterin am Kinderspital Zürich und am universitären Forschungsschwerpunkt «Plastische Hirnnetzwerke für Entwicklung und Lernen».
Auch das Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, kann zur Entwicklung einer Lernstörung beitragen. Wenn beispielsweise schon die Eltern eines Kindes von Dyslexie betroffen sind, haben sie wahrscheinlich kaum Bücher zu Hause und sind keine Leser. «So verstärkt die Familienumwelt, was als Anlage angeboren ist», sagt Monika Brunsting.
Auf erste Warnsignale achten
Lernstörungen machen sich früh bemerkbar. «Expertinnen und Experten können schon bei Kleinkindern erste Anzeichen einer Dyskalkulie ausmachen – zum Beispiel Schwierigkeiten, beim Spielen mit Klötzchen einfache Mengen zu erfassen», sagt Karin Kucian. Wenn es darum geht, eine Dyslexie zu erkennen, sollten Eltern beispielsweise stutzig werden, wenn ihr Kind kein Interesse an Geschichten und Bilderbüchern habe, ergänzt Monika Brunsting.
Bei älteren Kindern sind die Probleme offensichtlicher. Anzeichen einer Dyslexie können langsames und stockendes Lesen sein, das Kind verliert Zeilen im Text, verwechselt Silben oder Buchstaben. Kinder mit Dyskalkulie wiederum zählen oft länger als andere mit den Fingern. Sie haben Schwierigkeiten, über die Zehner- oder Hundertergrenzen zu rechnen. Oder sie schaffen es fast nicht, die Uhrzeiten zu erlernen.
Vielfach könne man Betroffenen regelrecht ansehen, wie sehr sie das Lösen von Rechenaufgaben anstrenge, sagt Kucian. «Sie schwitzen, haben einen roten Kopf, es ist extrem anstrengend für sie.»
Schwierigkeiten beim Rechnen oder beim Leseverständnis können auch andere Schülerinnen und Schüler haben. Zum einen hat nicht jedes Kind dieselbe Intelligenz. Zum anderen unterscheiden Expertinnen Lernstörungen und Lernschwächen. Bei beiden liegen die Leistungen im Rechnen oder Lesen und Schreiben normalerweise deutlich hinter den sonstigen kognitiven Leistungen. «Grundsätzlich sind die Schwierigkeiten bei beiden Phänomenen die gleichen», sagt Monika Brunsting. Bei Lernstörungen seien sie jedoch stärker ausgeprägt.
«Die Behandlung ist nicht gemacht mit acht Therapiestunden, es kann Jahre dauern.»
Karin Kucian, Neurobiologin
Wenn Eltern feststellen, dass ihr Kind Probleme beim Lesen oder Rechnen hat, sollten sie unverzüglich Hilfe suchen, raten beide Expertinnen. Denn eine Lernstörung wächst sich nicht aus. Betroffene Kinder brauchen eine Therapie. Heilbar seien Lernstörungen nicht, sagt Karin Kucian. Aber je früher die Therapie beginne, desto erfolgversprechender sei sie. «Die Behandlung ist nicht gemacht mit acht Therapiestunden, es kann Jahre dauern.» Auch bringe eine Einzeltherapie mehr als eine Gruppentherapie, ergänzt Brunsting. Denn die Störungsbilder sind ganz unterschiedlich, jedes betroffene Kind hat seine individuellen Probleme.
Ein Therapiebestandteil bei Dyslexie ist laut Brunsting das Tandemlesen: Die Therapeutin und der Schüler lesen einen Text gemeinsam und laut. Erstere drückt dabei etwas aufs Tempo, das spornt den Schüler zum Mitziehen an. Trainieren könnten Betroffene aber auch zu Hause, so Brunsting: mit Hörbüchern aus spezialisierten Onlinebibliotheken. «Sich ein Buch vorlesen zu lassen und selbst leise oder laut mitzulesen, ist ein einfaches und wirkungsvolles Training.»
Während der Therapie ist es wichtig, auf Begleitprobleme zu achten. Kinder, die sich mit Rechnen, Schreiben und Lesen schwertun, entwickeln Ängste und Aggressionen oder sind frustriert und resignieren, wenn sie schulisch auf keinen grünen Zweig kommen. «Dieser Kontext muss bei der Behandlung berücksichtigt werden», sagt Karin Kucian. So können die Therapeutinnen Ängste abbauen und die Kinder beim Lesen, Schreiben oder Rechnen fördern. Risikokinder könnte und sollte man spätestens im Kindergarten systematisch identifizieren, sagen Kucian und Brunsting. Die Realität sei aber eine andere.
«Es fehlt an allen Ecken und Enden», so Karin Kucian. Betroffene Kinder würden oft auch während der Schulzeit, wenn die Probleme augenfällig werden, nicht abgeklärt und behandelt. «Entweder man bemerkt es nicht, oder man probiert weiter ohne Therapie.» Wenn das Problem endlich erkannt sei, dauere es oft ein halbes Jahr oder ein Jahr bis zur Abklärung durch eine Fachperson. «Einige Kantone haben schon vor Jahren aufgehört, Dyslexie abzuklären und zu behandeln; andere sind eben dabei, das zu tun», sagt Monika Brunsting.
Mehr Fachleute, mehr Zeit
Das hat auch damit zu tun, dass Fachpersonen für Abklärung und Förderung rar sind. In Schulen übernehmen oft Heilpädagogen die Therapie. Doch davon gibt es zu wenige, und ihre Pensen sind zu klein. «So kommt es, dass eine Heilpädagogin in einer Schulstunde fünf Kinder betreut, die die unterschiedlichsten Probleme haben», sagt Kucian. «Zehn Minuten pro Kind reichen nirgendhin.»
Letztlich, sind sich die Expertinnen einig, braucht es grössere Investitionen in die Bildung, um das Problem zu lösen: mehr Fachleute, mehr Räumlichkeiten, mehr Zeit. Denn Schreiben und Rechnen werden auch in Zeiten von künstlicher Intelligenz grundlegende Fähigkeiten bleiben.
Wenn Sie glauben, Ihr Kind leide an einer Lernstörung, finden Sie auf der Homepage des Verbands Dyslexie Schweiz nützliche Informationen (auch zur Dyskalkulie), wie Sie Ihr Kind unterstützen können. www.verband-dyslexie.ch
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