Es ist kalt geworden draussen, der erste Schnee ist gefallen, Weihnachten steht vor der Tür. Nicole und Markus Becker (Namen aller Betroffenen geändert) sitzen auf der Esszimmerbank und rücken näher zusammen. Die 56-jährige Hausfrau und der 59-jährige Elektriker wirken auch nach 37 Ehejahren wie frisch verliebt. In Feststimmung aber sind sie nicht.

Gemeinsam haben sie vier Söhne und eine Tochter grossgezogen, fünf Enkelkinder sind mittlerweile dazugekommen, die jüngsten sieben und acht Monate alt. Ein Teil des Wohnzimmers ist als Spielecke eingerichtet, die vielen zerkratzten Holzklötzchen und Spielzeugeisenbahnwagen zeugen davon. Die beiden zwei- und dreijährigen Kinder ihres Sohnes Marcel kommen regelmässig zu Besuch, «meist am Mittwochnachmittag», sagt Nicole Becker. Sie ist froh, dass sie so regen Kontakt zu den beiden haben. Selbstverständlich ist das nicht.

Denn ihr anderer Sohn Peter lebt von der Freundin getrennt. Die gemeinsame sechsjährige Tochter bekommt er derzeit nicht zu sehen. Die Mutter verweigert das Besuchsrecht, der Vorwurf des sexuellen Übergriffs steht im Raum. Schon zum zweiten Mal innert dreier Jahre, und das, obwohl sich bereits beim ersten Mal gezeigt hat, dass die Anschuldigungen haltlos sind. Nun muss der Vater erneut auf seine Tochter verzichten. Und mit ihm die Grosseltern der Kleinen.

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«So gern mit ihr in den Zoo gehen»

«Es ist schrecklich, wir würden so gerne einfach mal mit ihr in den Zoo gehen oder sonst etwas unternehmen, doch das ist nicht möglich», sagt Nicole Becker. Das Ehepaar bedauert nicht nur, die Rolle als Grosseltern nicht wahrnehmen zu können, sondern vor allem das Mädchen: «Sie braucht doch auch ihren Vater.»

Für alle fünf Enkel haben sie Weihnachtsgeschenke gekauft. Doch auf einem werden sie wohl sitzenbleiben. In der bunten Schar, die am 25. Dezember bei Beckers um den Christbaum sitzen wird, bleibt auch dieses Jahr ein Platz frei.

Jedes Jahr erleben in der Schweiz etwa 15'000 Kinder, dass ihre Eltern sich trennen. In 90 Prozent der Fälle einigen diese sich gütlich über das Sorgerecht meist wird es der Mutter allein zugesprochen. Dem Vater wird dann in der Regel ein Besuchsrecht von zwei Wochenenden pro Monat plus drei Wochen Ferien pro Jahr eingeräumt. «Obwohl Väter heute oft in die Kinderbetreuung eingebunden sind, verharren viele Richter in diesen alten Mustern. Sie missachten so das Wohl der Kinder und degradieren die Väter zu Wochenend-Papis», moniert der in der Familienrechtskammer des Kantonsgerichts St. Gallen tätige Jurist Linus Cantieni.

Laut Schätzungen von Fachleuten kommt es bei der Ausübung dieses Besuchsrechts in einem Drittel aller Fälle dann auch noch zu Unstimmigkeiten. Beim Beratungszentrum des Beobachters melden sich fast täglich Eltern, bei denen es mit dem Besuchsrecht hapert, darunter auch viele Väter, die ihre Kinder gar nicht mehr zu sehen bekommen. Dabei geht oft vergessen: Nicht nur die Väter leiden, sondern auch deren Eltern, die Grosseltern der betroffenen Kinder.

Ob die Briefe jemals ankommen, ist ungewiss

Was das bedeutet, wissen auch Verena und Felix Meier. Seit bald einem Jahr haben sie ihre zehnjährige Enkeltochter Katrin nicht mehr gesehen. Ihr Sohn Andreas und die Mutter, eine gebürtige Holländerin, haben sich bereits vor sieben Jahren getrennt. Das Besuchsrecht war über all die Jahre immer wieder Thema. «Sie hat ständig, auch schon vor der Trennung, versucht, das Kind von uns und dem Rest der Familie, ihren Onkel, Tanten, Neffen und Nichten, fernzuhalten. Wir konnten Katrin nur im Rahmen des väterlichen Besuchsrechts sehen», sagt Felix Meier. Das schlechte Gewissen war stets mit dabei, denn die Zeit, die Katrin mit den Grosseltern verbrachte, war gestohlene Zeit: «Eigentlich wäre sie ja für den Vater reserviert gewesen», sagt der 66-jährige pensionierte Lokführer.

Ein fröhliches, aufgestelltes Kind sei sie. «Wir zwei haben meist Gesellschaftsspiele zusammen gespielt. Sie war immer sehr anhänglich», erinnert sich die frühere Krankenschwester Verena Meier, 68. Einmal hat Katrin ihren Grossvater sogar gebeten, ihren Klassenkameraden in der Schule von seinem Beruf zu erzählen. «Jedes Kind sollte jemanden aus der Familie einladen, und sie hat mich ausgesucht», erzählt Felix Meier. «Das war toll.»

Heute kennen die Meiers nicht einmal die Adresse ihrer kleinen Enkelin. Die Mutter ist nach Holland ausgewandert, Meiers erhielten lediglich die Anschrift der anderen Grossmutter. «Ob die Karten und Briefe, die wir Katrin schicken, jemals ankommen, wissen wir nicht», sagt Felix Meier.

Katrins Vater fährt regelmässig nach Holland, um seine Tochter zu sehen. Treffpunkt ist jeweils als neutraler Ort der Bahnhofskiosk. «Wir vermissen sie sehr. Auch wenn wir sie insgesamt nicht so oft sehen konnten, so war sie doch immer am alljährlichen Familienfest dabei, verstand sich gut mit den anderen acht Enkelkindern. Sie fehlt uns», sagt Felix Meier. Er spricht von seelischer Grausamkeit, die dem Kind mit der Trennung von Vater und Grosseltern angetan werde. «Und das auch noch von den Behörden abgesegnet, das ist das Schlimmste. Unser Kindsrecht ist armselig.»

In der Entwicklung von Kindern können Grosseltern eine wichtige Rolle spielen. Im Familiengefüge bilden sie für die jüngste Generation so etwas wie ein Fenster zur Vergangenheit. Durch die Beziehung mit ihren Grosseltern lernen Kinder ihre eigenen Wurzeln kennen, entdecken Wesenszüge an sich selber, die sie bei ihren Eltern vielleicht nicht finden. Auch für die Erziehung der Kinder können Grosseltern wertvoll sein. Heinrich Nufer, ehemaliger Leiter des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind, spricht von einer Wächterfunktion. «Grosseltern stehen im Gegensatz zu den Eltern nicht mehr direkt in der Verantwortung und können deshalb den Erziehungsstil der Eltern von aussen beurteilen und hinterfragen.»

Grosseltern haben kein Recht auf Enkel

Gerade auch in Scheidungs- und Trennungssituationen können Grosseltern ihren Enkelkindern viel Halt geben. Sie bilden den neutralen Boden, bei Omi und Opi können Kinder ihr Herz ausschütten, ohne sich für oder gegen den einen oder anderen Elternteil entscheiden zu müssen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Grosseltern sich im Scheidungskampf nicht auf eine Seite schlagen. Wenn eine solche langjährige, liebevolle Verbindung zu den Grosseltern hingegen von einem Tag auf den anderen abgebrochen wird, leidet das Kind doppelt: Es verliert nicht nur einen Elternteil, sondern auch noch die Grosseltern.

Verhindern lässt sich das bis heute kaum. «Ich habe schon erwogen, eine Anzeige gegen die Mutter wegen Kindsentzugs einzureichen, liess es dann aber bleiben», sagt Nicole Becker. Das Kind noch mehr verstören, das möchte sie nicht. Auch Felix Meier hat sich schon überlegt, rechtliche Mittel zu ergreifen. «Aber ich will nicht noch mehr Öl ins Feuer giessen. Zudem weiss ich gar nicht, ob ich überhaupt ein Recht darauf habe, mein Enkelkind zu sehen.» Sowohl die Beckers als auch die Meiers fühlen sich machtlos.

Tatsächlich gibt es für Grosseltern in solchen Situationen kaum juristische Möglichkeiten. Ein verbürgtes Recht auf ihre Enkelkinder haben sie nicht. Im Familienrecht ist nur verankert, dass im Falle «ausserordentlicher Umstände» der Anspruch auf persönlichen Verkehr auch Drittpersonen eingeräumt werden kann, wenn das dem Kindswohl dient. In der Realität ist diese Bestimmung aber toter Buchstabe. «Mir ist kein einziger Fall bekannt, in dem dieses Recht eingefordert und schliesslich auch zugesprochen wurde», sagt Jurist Linus Cantieni. Vielen Grosseltern dürfte der Gesetzesartikel gar nicht bekannt sein. Und solange kein Richter darüber geurteilt hat, ist auch nicht klar, was unter «ausserordentlichen Umständen» genau zu verstehen ist.

Dass sich an der Situation aber auch nichts ändert, wenn Grosseltern ausdrücklich ein Umgangsrecht eingeräumt wird, zeigt der Blick über die Landesgrenzen. Gemäss deutschem Familienrecht haben die Grosseltern Anspruch darauf, ihre Enkelkinder regelmässig zu sehen. Der Haken dabei: Es handelt sich um ein Recht der Grosseltern auf ihre Enkelkinder, nicht aber um ein Recht der Kinder auf ihre Grosseltern. «Konkret bedeutet das, dass die Grosseltern ihr Recht einfordern müssen. Sie müssen dem Gericht beweisen, dass es dem Kindswohl dient, wenn sie ihr Enkelkind regelmässig sehen dürfen. Das ist aber nahezu unmöglich», erklärt Rita Boegershausen. Sie ist selber Grossmutter und hat 1998 in Deutschland die «Bundesinitiative Grosseltern» (Bige) mitbegründet. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Grosseltern auch in strittigen Trennungs- und Scheidungsfällen Kontakt zu ihren Enkelkindern pflegen können und dass das Kindswohl tatsächlich an erster Stelle steht. Das Fazit nach zehn Jahren Engagement fällt ernüchternd aus: «Wir haben praktisch nichts erreicht. Grosseltern werden weiterhin ausgegrenzt, Kindesinteressen missachtet.»

Immerhin wird in Deutschland mittlerweile bei Trennungs- und Scheidungsverfahren immer öfter auf die sogenannte Cochemer Praxis zurückgegriffen – ebenfalls ein Ziel der Bige. Das in der Stadt Cochem entwickelte Modell setzt im Scheidungsprozess auf eine übergreifende Zusammenarbeit aller involvierten Amts- und Beratungsstellen und der Eltern mit dem Ziel, die gemeinsame Verantwortung beider Elternteile für ihre Kinder zu stärken. So soll verhindert werden, dass die Eltern überhaupt vor Gericht ziehen. Durch möglichst rasche Entscheide der einzelnen Amtsstellen wird zudem die Entfremdung eines Elternteils vom Kind vermieden.

«Schweiz hinkt 20 Jahre hinterher»

In der Schweiz ist eine baldige Einführung eines solchen oder ähnlichen Modells eher unwahrscheinlich: «Solange Anwälte davon leben, dass sich Eltern um ihre Kinder streiten, wird sich wenig ändern», glaubt Kinderpsychologe Heinrich Nufer. Und Jurist Cantieni meint: «Familienrechtlich hinkt die Schweiz Europa in einigen Bereichen rund 20 Jahre hinterher.» Grosseltern, die ihre Enkel nicht mehr sehen dürfen, rät er, Familienberatungsstellen aufzusuchen oder bei den Vormundschaftsbehörden vorstellig zu werden.

Dass für die Grosseltern und ihre Enkel etwas getan werden muss, hat auch Oliver Hunziker erkannt. Der Präsident der Vereinigung für gemeinsame Elternschaft ist dabei, mit engagierten Grosseltern eine Interessengemeinschaft aufzubauen. «An unseren Veranstaltungen treffe ich sehr oft auf niedergeschlagene und hilflose Grosseltern. Es ist Zeit, aktiv zu werden.» Hunziker hat nun die Schweizer Grosselterninitiative ins Leben gerufen (siehe Links zum Artikel).

Auf dass nächste Weihnachten vielleicht ein paar Eltern im Trennungsstreit bedenken, wie gerne ihre Kinder sich von Omi und Opi verwöhnen lassen würden.