«Hilfe, mein Mami hört Stimmen»
Eine Mutter von zwei Kindern leidet an Schizophrenie. Die Familie lebt in einem labilen Gleichgewicht – und in ständiger Angst vor dem nächsten psychotischen Schub.
Veröffentlicht am 26. Mai 2015 - 09:38 Uhr
Es ist Sonntagmorgen in der Früh. Ein Achtjähriger sitzt vor einem Reihenhäuschen auf einem Bänkli. Da Grossmutters Fensterläden geschlossen sind, schläft sie wohl noch. Leon (alle Namen geändert) weiss, er muss Sorge tragen zu seinem Grosi Beatrice. Zwei Nervenzusammenbrüche hat es schon erlitten, in den Nächten wälzt es sich schlaflos im Bett. Also wartet er geduldig. Endlich hört er das Schloss klicken, die Grossmutter öffnet die Tür, und Leon tauscht die neblige Kälte gegen die grossmütterliche Wärme.
Leons Mutter Katharina leidet an Schizophrenie. Schon seit er auf der Welt ist. Doch Leon erinnert sich nicht gern zurück, zu viel Unschönes hat er erlebt. Dann tut er es doch, kneift die Augen zusammen und sagt mit dünner Stimme: «Einmal hielt sie uns eine Woche lang in der Wohnung fest.»
Manchmal hat die 36-jährige Katharina eine Psychose. Dann verliert sie den Bezug zur Realität, hört Stimmen und fühlt sich verfolgt – was typisch ist für paranoide Schizophrenie. Als sie sich vor vier Jahren mit den Kindern in der Wohnung verschanzte, dachte sie, im Stockwerk unter ihr würden Bekannte über sie verhandeln. «Mami klopfte mit dem Besenstiel auf den Boden und schrie: ‹Aufhören! Aufhören!›», erinnert sich Leons Schwester, die 15-jährige Sandra. Den beiden Kindern blieb nichts anderes übrig, als in ihren Zimmern auszuharren. «Leon spielte mit den Playmobil, ich schaute fern.»
Tagelang lässt Katharina niemanden in die Wohnung – ausser ihrer Mutter. Aber auch sie darf nur ein paar Minuten bleiben, dann scheucht Katharina sie, vom Wahn getrieben, aus dem Haus. «Es war erschreckend», sagt die 59-Jährige. «Während einer Psychose verliert Katharina das Vertrauen zu allen, leider auch zu ihren Liebsten.» Nur vor ihren Kindern hat Katharina nie Angst. Sie und die Kinder in der verschlossenen Wohnung – gegen den Rest der Welt draussen.
Als die Kinder nicht mehr zur Schule kommen, meldet der Lehrer dies dem Sozialdienst. Da Katharina sich jeglichem Gespräch verweigert, setzt die Polizei dem Geschehen nach einer Woche ein jähes Ende. In Absprache mit den Behörden bricht sie die Tür auf und verfrachtet Katharina in Handschellen in eine psychiatrische Klinik. Die Kinder hätten erstaunlich gefasst neben der Mutter auf dem Sofa gesessen. «Ihnen bleibt wohl nichts anderes übrig, als zu lernen, wie sie mit der kranken Mutter umgehen können», sagt eine Sozialdienstmitarbeiterin.
Leon und Sandra werden für die Zeit, in der die Mutter in der Klinik ist, bei der Grossmutter untergebracht. Die Sozialbehörde ordnet für die Kinder zudem eine Beistandschaft an, später kommt eine psychiatrische Familienbegleitung hinzu. Wichtig sei, eine erneute Psychose der Mutter möglichst schnell zu erkennen. «So können wir möglicherweise verhindern, dass sie gegen ihren Willen abgeführt wird», sagt die Sozialarbeiterin. Katharina sagt heute, sie wäre damals sofort mitgegangen – «hätten sie mich doch nur gefragt».
«Mami bekam einen starren, kühlen Blick. Wir erkannten sie nicht wieder.»
Sandra
Wenn Katharina eine Psychose hat, erkennt sie oft auch die eigene Mutter nicht mehr. Einmal im Winter begegneten sie und die Kinder Beatrice auf der Dorfstrasse. Katharina lief geradewegs an ihr vorbei. «Ich sah, wie die Kinder froren und litten. Doch ich konnte nichts sagen», sagt die Grossmutter. «Ich lächelte meinem Grosi nur zu», sagt Leon. Dann liefen sie aneinander vorbei. Beatrice traurig, Katharina in ihrer Welt, die Kinder dazwischen. Ein anderes Mal versteckte sich die Mutter mit den Kindern stundenlang in einer Grube im Wald. «Mami bekam einen starren, kühlen Blick. Wir erkannten sie nicht wieder. Sie wollte gar nicht mehr nach Hause gehen», erinnert sich Sandra.
Es fing alles bei einer Technoparty in einer Dorfbeiz an. Katharina, damals noch in der Lehre als Coiffeuse, lässt sich von einer Freundin dazu überreden, Ecstasy zu probieren. «Drei Wochen später lief sie verwirrt durch die Strassen», sagt Beatrice. Die Wissenschaft geht davon aus, dass bei Schizophrenie die genetische Veranlagung eine Rolle spielt. Katharinas Grossvater war schizophren und ist mit der Pistole auf sein Umfeld losgegangen. Drogen können die Krankheit ausbrechen lassen. «Als Katharina die Droge nahm, kam alles zusammen: Mein Mann und ich waren in Scheidung, Katharina hatte Liebeskummer. Womöglich war das alles zu viel für sie», sagt Beatrice.
Katharina wird von den Eltern in eine Klinik gebracht. Ihr Lehrmeister weint an ihrem Bett, als er seine sonst so zuverlässige Lehrtochter sieht. Später bricht Katharina die Lehre ab – die Ausbildung beginnt sie zu überfordern, sie findet sich im alten Leben nicht mehr zurecht. Als sie mit zwanzig ihre Tochter bekommt, beruhigt sich ihr Leben etwas. Dank Medikamenten lebt sie zehn Jahre lang in einem stabilen Zustand. Dann geht die Beziehung zum Vater der beiden Kinder in die Brüche. Katharinas neuer Partner ist drogenabhängig und klaut ihr ihre Tabletten gegen die Schizophrenie. Sie erleidet einen Rückfall. Drei Psychosen hatte sie seither, die über Wochen dauerten. Jedes Mal wird sie in die Klinik eingeliefert, jedes Mal muss die Grossmutter einspringen. Die Kinder wechseln sich ab: Eine Nacht darf Leon neben der Grossmutter ins Doppelbett kriechen, die andere ist Sandra dran.
Nach der zweiten Psychose zieht der Vater der Kinder wieder zur Familie. Doch für diese ändert nicht viel. «Papi schläft unter der Woche immer aus. Dafür arbeitet er am Samstag», sagt Sandra. Heute sorgt der Vater für das Einkommen der Familie, zudem bekommt Katharina seit zwei Jahren eine Invalidenrente.
Nach einiger Zeit beginnen die Behörden, sich langsam zurückzuziehen. «Dank den Medikamenten ist Katharina heute ziemlich stabil. Die Situation hat sich beruhigt», sagt die zuständige Sozialarbeiterin. Doch die Kinder leiden darunter, dass der Vater das Familienleben verschläft – und die Mutter in ihrer eigenen Welt gefangen ist. Sandra, die gegenwärtig eine Lehrstelle sucht, fühlt sich allein gelassen. Zu beschäftigt sind die Eltern mit ihren eigenen Sorgen.
Ohne Psychose sitzt Katharina oft antriebslos in der Küche und raucht. Tagelang. Manchmal putzt sie, manchmal nicht. Muttersein sei eine schöne Aufgabe, sagt sie. «Es ist nicht schwierig.» Beatrice sagt, sie sei froh, dass die Tochter zu den Kindern «Gott sei Dank immer lieb ist».
Mehrmals wöchentlich suchen die Kinder bei der Grossmutter Unterschlupf. So wie heute. Für ihre Lieblinge hat Beatrice Kuchen mit Smarties bereitgestellt. Die Frau mit den vielen Fältchen um die Augen erzählt, Leon habe nach der ersten Psychose wie wild begonnen, Puzzles zu legen. «Er hatte Angst um seine Mutter, denn er erkannte sie nicht wieder. Leon musste sich an etwas halten können, sich andauernd beschäftigen und ablenken.»
Der Bub misst in seinem Hausaufgabenbuch konzentriert Bilder aus. Die Schwester sitzt daneben. Ein Teenager mit dunklen Kleidern, dezent geschminkt, selbstbewusst. Wenn Sandra über ihre Mutter spricht, klingt es eher, als würde sie über ihre Tochter reden. Die abgeklärte, reife Art des Teenagers mit den grossen braunen Augen lässt erahnen, wie wenig sie je Kind sein durfte.
«Es macht mich traurig. Doch ich weiss ja, dass Mami nichts dafür kann.»
Sandra
Ob sie auch wütend ist auf ihre Mutter? «Ja», sagt sie. Wenn diese wieder Stimmen höre, fühle sie sich so nebensächlich. «Während einer Psychose kann Mami keine Liebe zu uns aufbauen, das macht traurig. Doch ich weiss ja, dass sie nichts dafür kann.»
Oft sind psychisch kranke Eltern die einzig nahen Bezugspersonen der Kinder. Die Eltern isolieren sich und damit meist auch ihre Kinder. Sie schäme sich manchmal, eine Freundin nach Hause zu nehmen, sagt Sandra. «Und manchmal jagt Mami diese auch wieder weg.» Die Gefahr ist gross, dass Kinder psychisch kranker Eltern selbst auch erkranken. Jedes zweite Kind in psychiatrischer Behandlung hat kranke Eltern. Schätzungsweise 20'000 Kinder leben in der Schweiz mit mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil. Umso wichtiger, dass sie ein stabiles Umfeld haben.
In Katharinas Familie ist Beatrice der Fels in der Brandung. Doch ihre Kräfte lassen nach. Wegen Rückenproblemen ist sie arbeitsunfähig, heute lebt sie von der Sozialhilfe. Ihr Mann, Katharinas Vater, hat sich längst aus dem Staub gemacht – er hielt es mit der Familie nicht mehr aus. Doch Beatrice kämpft, will ihren Grosskindern einen ruhigen Hafen bieten. Auch wenn es nur ein Sonntagmorgen ist.
Mit weichen Händen streicht sie Leon liebevoll über den Kopf, bevor sie ihm Pepsi nachgiesst. Während er sich über sein Etui mit den perfekt gespitzten Farbstiften beugt, meint sie: «Für uns Angehörige ist die Krankheit von Katharina besonders schlimm. Wenn sie eine Psychose hat, checkt sie selbst nichts mehr. Dann haben wir Angst um sie.»
Es ist ruhig geworden im Zimmer. Sandra schaut nachdenklich aus dem Fenster. Dann sagt sie: «Im Moment ist alles gut. Aber wenn Mami einen Rückfall hätte, wäre das für uns alle der Horror.»