Kaputte Kinderseele
Wenn ein Kind schizophren ist, leidet die ganze Familie. Angehörige wissen das – und oft sind sie hoffnungslos überfordert.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Plötzlich brach das Unerklärliche in ihr Leben. Elsbeth Bader (Name geändert) erinnert sich, als ob es gestern gewesen wäre. Beim sonntäglichen Kaffee stammelte ihr Sohn Michael, im Radio würden seine Gefühle und Gedanken übertragen. Er war der Uberzeugung, man wolle ihn vernichten. Nichts konnte ihn von seiner Vorstellung abbringen; sie war Wirklichkeit. «Ich fühlte mich entsetzlich hilflos», sagt Elsbeth Bader.
Das war vor neun Jahren. Michael war 20 – und schizophren. Die Krankheit erschütterte Elsbeth Bader. Sie sei eine stolze Mutter gewesen, «und nun stimmte alles, was ich für den Jungen getan hatte, mit einem Schlag nicht mehr». Ihre Identität war in Frage gestellt. «Ich fühlte mich meinem eigenen Leben nicht mehr gewachsen.»
Immer wieder fragte sie sich, was sie falsch gemacht hatte. Wieso hatte sie die ersten Anzeichen nicht richtig gedeutet? Als Teenager war der Junge unordentlich und unzuverlässig geworden, schwänzte die Schule und trieb sich nächtelang mit Freunden herum. Elsbeth Bader tat dies als pubertäre Flausen ab. «Ich sah nicht, wie durcheinander seine Welt war.»
Nach dem ersten Klinikaufenthalt dachte Elsbeth Bader, nun sei wieder alles wie früher. Doch bald folgte die nächste notfallmässige Einweisung. Über dreissig Mal wurde Michael in die Klinik eingeliefert – immer zwangsweise. Es wollte nicht enden. Zu Hause richtete er in Kürze das nackte Chaos an. Alle Appelle, sich helfen zu lassen, liessen ihn unberührt. Nicht er war krank, alle andern waren verrückt. «Mein Sohn war mir oft völlig fremd», sagt Elsbeth Bader. Manchmal packte sie die Wut. Dann brüllte sie den Jungen an. «In diesen Augenblicken habe ich ihn gehasst.» Danach bereute sie es jeweils zutiefst.
Eines Nachts bedrohte Michael im Wahn seine Mutter. Er wollte sie umbringen, um ihre Seele zu retten. In Todesangst alarmierte sie die Polizei. «In diesem Moment empfand ich nichts mehr für meinen Sohn; ich wollte ihn nur noch weghaben.» Danach weinte sie, weil sie sich vor dem eigenen Kind schützen musste.
«So konnte es nicht weitergehen. Ich wäre kaputtgegangen», ist Elsbeth Bader überzeugt. Sie stellte Michael vor die Tür – und fühlte sich als Rabenmutter. Wenn sie heute ihren verlorenen und verwahrlosten Sohn sieht, verzweifelt sie fast. Wie viele Träume hatte sie doch für ihn gehabt! Trotzdem: Die Hoffnung, dass Michael wieder gesund wird, wird sie nie aufgeben.
Wenn ein Kind schizophren ist, leidet immer die ganze Familie. Das wissen die Angehörige aus eigener Erfahrung. Die Familie gerät komplett durcheinander.
Meistens stehen Eltern den Veränderungen ihres Kindes, seinen Ängsten, dem Misstrauen, den Verfolgungsgefühlen und den Wahnideen ratlos gegenüber. Gutes Zureden und Ermahnen verpuffen oder provozieren neue Konflikte, es ist fast unmöglich, in emotionsgeladenen Situationen richtig zu reagieren.
In einer Krise bringt es nichts, mit dem Kind über seine Ideen zu streiten. Da es nicht merkt, dass sein Erleben nicht der Realität der Mitmenschen entspricht. Eltern könnten dann nichts anderes tun, als dies zu akzeptieren und das Gespräch in einem ruhigen Moment zu suchen.
Die Praxis zeigt: Eltern bemerken oft erst spät, dass ihr Kind ernsthaft krank ist. Aus Selbstschutz. Die vermuteten Konsequenzen einer Erkrankung sind so weit reichend, dass man sie wegschieben möchte. Ausserdem bricht die Krankheit häufig in der Pubertät aus – und klar definierte Merkmale für Schizophrenie gibt es nicht. Man sollte deshalb nicht jedes von der Normalität abweichende Verhalten als krank betrachten. Der Gang zum Hausarzt oder zum Psychiater drängt sich aber auf, wenn ein Kind die Umwelt offensichtlich völlig anders erlebt.
Selbst wenn die Krankheit offensichtlich ist, suchen viele Eltern erst Hilfe, wenn sie am Rand ihrer Kräfte sind. Im Haushalt dreht sich alles um das Kind, und nach aussen ist die Familie isoliert. Väter und Mütter erleben die Schizophrenie als Attacke auf ihr Selbstwertgefühl; von Schuldgefühlen geplagt, können sie sich niemandem anvertrauen. Aus Scham und Angst vor Vorurteilen wird die Erkrankung ihres Kindes verheimlicht.
Die Familien werden oft in einem gesellschaftlichen Vakuum zurückgelassen. Selbst die Türen von Fachleuten bleiben häufig verschlossen; die Eltern werden mit ihren Sorgen und Anliegen nicht ernst genommen. Dabei zeigen Studien, dass die Heilungschancen besser sind, wenn die ganze Familie unterstützt wird.
Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen wird wieder gesund, einem Drittel geht es mit der Zeit wieder besser – allerdings oft erst nach vielen Rückfällen. Der Rest bleibt chronisch krank. Eltern müssen sich damit abfinden, dass ihr Kind vielleicht nie mehr der Mensch sein wird, der er einmal war. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Der Alltag kann zu einer grossen Belastung werden.
Die wenigsten Eltern weisen ihrem Kind die Tür. Aber: Sie dürfen auch nein sagen, wenn ein Zusammenleben nicht mehr möglich ist. Auch schizophrene Kinder müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Nur so könne sich etwas ändern. Loslassen ist schwierig, aber letztlich helfen Eltern damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihrem Kind.
Schizophrene Erkrankungen gehören zu den schwersten psychischen Störungen. Der Name weckt allerdings falsche Vorstellungen. Es handelt sich dabei nicht um gespaltene Persönlichkeiten, die etwa bei Tage freundlich und nachts Ungeheuer wären. Der Wortbestandteil «schizo» (griechisch: schízein = trennen) weist lediglich darauf hin, dass trotz unrealistischen Wahnideen die Intelligenz von der Krankheit nicht beeinträchtigt wird.
Schizophrene Erkrankungen sind gar nicht so selten. Einer von 100 Menschen erkrankt mindestens einmal im Leben daran. Man unterscheidet zwei Gruppen von Symptomen: Unter «positiven» Symptomen versteht man Übersteigerungen des normalen Erlebens. Das Eindrücklichste sind Wahnvorstellungen: Der Betroffene sieht sich etwa als Weltenretter oder fühlt sich verfolgt. Oft hört er Stimmen. Andere Patienten haben das Gefühl, ihre Gedanken würden abgesaugt oder es würden ihnen Gedanken eingeimpft.
«Negative» Symptome sind Einschränkungen des normalen Erlebens: Tatendrang und Unternehmungslust versickern, das Denken wird eingeschränkt, die Gefühle flachen ab, Freude, Trauer, Wut, Stolz und Neugier gehen verloren. Auch Mimik und Gestik verarmen. Als Folge davon kommt es zu einem sozialen Rückzug und zu einer Vereinsamung der Betroffenen.
Weitere Infos
www.vask.ch: Dachverband der Vereinigungen der Angehörigen von Schizophreniekranken
1 Kommentar
Da nicht-organische Schizophrenien bis zum heutigen Tag nicht rein körperlich-biologisch erklärt werden konnten, plädiere ich dafür, den Raum der Diskussion zu weiten und die Rolle der Eltern wieder stärker in den Blick zu nehmen.
Denn was in der Psychose „verlorengeht“ - das Ich, die Individualität, die Haut, die gleichsam mein Innenleben von der Außenwelt trennt - dieses Ich musste sich auch bei gesunden Menschen erst langwierig und oft mühsam entwickeln. Entscheidend hierfür ist eine förderliche Eltern-Kind-Beziehung. Um wachsen zu können, braucht ein Kind eine Umgebung, die ihm erlaubt, sich ohne Angst selbst ausprobieren zu können.
Es gibt jedoch Eltern, die - so abartig das auch klingen mag - Angst davor haben, das Kind ins eigene Leben wachsen zu lassen. Sie möchten es lieben, halten es aber nicht aus, wenn es anders ist als sie. Mit seelischer Gewalt (Dominanz, Abweisung, Kälte) halten sie das Kind in ihrem Bann. Nach außen kann ein solches Kind und ein solche Jugendlicher perfekt angepasst sein. Es kann bei anderen sogar den Eindruck eines Muster-Kindes machen.
Doch der Preis der Unterdrückung eigener Triebe und Gefühle ist hoch.
Zahlen tun ihn nicht die Eltern.