Fünf Wochen vor seinem Tod
«Meine Lebenspartnerin und ich werden noch ein kleines Fest machen. Das wird Tränen geben. Aber sie hat Kinder und Familie, die ihr beistehen, wenn ich nicht mehr da bin. Zumindest wird das letzte Bild, das sie von mir hat, ein schönes sein.
Der Entscheid zum Suizid ist an Weihnachten 2008 gefallen, am Ende eines Jahres voller Schaffenskraft. Zwar verliess ich das ganze Jahr lang meine Wohnung kaum mehr, weil ich Angst hatte, auf der Strasse zu stürzen, aber ich war gern zu Hause. Ich malte voller Plausch und zünftig. Ich fühlte mich auch nicht einsam, weil mich die Arbeit zufrieden machte und meine Lebenspartnerin, die getrennt von mir wohnt, mich regelmässig besuchte.
Dann der Hörsturz, ich erblinde auf dem linken Auge und merke, wie auch mein rechtes Auge immer schwächer wird. Meine zwei Lieblingsbeschäftigungen, Malen und Lesen, kann ich plötzlich nicht mehr ausüben. Zudem habe ich seit Jahren grauenhafte Knieschmerzen, gegen die ich schon so viele Schmerztabletten geschluckt habe, dass mein Magen kaum mehr Essen behalten kann. Ich bin immer unabhängig gewesen und stolz darauf – soll ich mich bald wie ein Baby rumtragen und mir den Hintern wischen lassen? Nein, das ertrage ich nicht.
Nichts gegen Ärztinnen und Krankenpfleger, aber seit meiner Kindheit muss ich für mich selbst sorgen – von Mutter und Vater habe ich weder Zärtlichkeit noch Unterstützung erhalten. Ich bin ein Einzelkind aus einfachen Verhältnissen und habe mir alles selbst erkämpft. Das ist eine Erfahrung, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht: Ich muss selbst bestimmen, wenns gut kommen soll. Wieso soll das beim Sterben anders sein? Zudem liebe ich die Freiheit über alles.
Ich habe das Leben und die Frauen geliebt, habe rassige Autos gefahren und bin viel gereist. Das ist jetzt vorbei. Die einzige Freiheit, die mir noch bleibt, ist die Freiheit, selbst über meinen Tod bestimmen zu können.
Meine Exfrau, mit der zusammen ich vor 30 Jahren Mitglied bei Exit wurde, hat den Moment fürs selbstbestimmte Sterben verpasst: Jetzt ist sie dement und lebt in einem Pflegeheim. Das will ich für mich nicht.
Turo Kipf
Falls Exit nicht akzeptiert hätte, mich zu begleiten, hätte ich mich allein umgebracht. Aber stellen Sie sich vor, meine Lebenspartnerin und meine Freunde hätten mich mit einem Plastiksack über dem Kopf oder im Blut finden müssen!
Zu genau solchen Suiziden will der Bundesrat nun die Leute aber zwingen. Er will, dass keine Organisationen helfen dürfen, wenn man aus dem Leben scheiden möchte. Da will der Staat den Menschen noch in seinem allerletzten Entscheid bevormunden. Das erinnert mich an den Militärdienst, wo auch Dummköpfe über mein Leben bestimmt haben.
Ich sehe schon, dass eine liberale Haltung zur Sterbehilfe auch problematisch sein kann, vor allem für alte, pflegebedürftige Menschen, die eigentlich noch weiterleben wollen, aber von Angehörigen unter Druck gesetzt werden, ihrem Leben ein Ende zu machen. Aber da müssen die Sterbehilfeorganisationen genau hinschauen, ob Druck ausgeübt wird. Es kann nicht die Lösung sein, Sterbehilfe nur Sterbenskranken zu gewähren und somit Leute wie mich zu bevormunden.
Meine Lebenspartnerin ist traurig über meinen Entschluss, sagt aber, sie begreife ihn. Es tut mir leid, ihr das antun zu müssen. Aber soll ich deswegen ein Jahr länger erblinden, taub werden, Schmerzen haben und womöglich den Moment verpassen, meinen Tod selbst bestimmen zu können?
Meine Exfreundin – jetzt sage ich schon Ex! Meine Freundin will aber mit der Sache selbst nichts zu tun haben. So werden an jenem Tag im Januar zwei Sterbehelfer von Exit zu mir kommen. Ich habe es auch sonst niemandem gesagt. Sonst würden die Leute kommen und sagen: Jä spinsch du denn eigentlich? Dieses Gschnurr will ich nicht.
Über Weihnachten werde ich keine Anrufe mehr annehmen und nicht mehr an die Tür gehen. So halte ich es schon seit Jahren über die Festtage. Es beschäftigt mich nicht gross, was in den letzten Wochen bis zu meinem Tod passiert.
Wie ich den Tag meines Todes genau gestalten werde, weiss ich noch nicht. Aber ich werde mich in Jeans im Gästezimmer aufs Bett legen, einen Kopfhörer aufsetzen und eine CD von Artie Shaw, Louis Armstrong oder Lionel Hampton hören. Dann werde ich die Giftmischung trinken. Wie einen letzten Gin Tonic.»