Wieder Zwist um Pflegekosten
Dank der neuen Pflegefinanzierung schreiben manche Heime hübsche Gewinne. Geholt wird das Geld bei den Heimbewohnern oder beim Steuerzahler.
Veröffentlicht am 13. August 2012 - 15:35 Uhr
Geändert hat sich weder das Heim noch die Betreuung. Nur der Preis für den Aufenthalt im Alterszentrum Eiche in Dagmersellen LU ist deutlich höher: «Statt 55'000 Franken pro Jahr kostet die Pflege nun 93'000 Franken», schrieb ein Leser dem Beobachter.
Wer soll das bezahlen? Darüber sind sich Gemeinden, Kantone, Heime, Heimbewohner und Kassen uneins. Klar ist: Die Alterspflege kostet im Jahr schweizweit rund vier Milliarden Franken. Die Kassen übernehmen etwa die Hälfte. Für den Rest müssen Heimbewohner und Steuerzahler geradestehen.
Vertreter der Gemeinde Dagmersellen legten an einer Bürgerversammlung weitere Beispiele vor. Für einen Heimbewohner der Pflegestufe 6, also einen, der auf regelmässige Hilfe angewiesen ist (siehe «Pflegestufen»), fielen im Jahr 2010 für die Pflege durchschnittlich 2190 Franken pro Monat an, 2011 waren es 4095 Franken. Kost und Logis im Doppelzimmer kosten neu 118 statt 100 Franken pro Tag. Die Aufschläge verfehlten ihre Wirkung nicht: Im letzten Jahr freute sich das Alterszentrum Eiche an 878'000 Franken Überschuss. Der wurde für Rückstellungen und Abschreibungen verbucht. Weniger Freude hatte die Gemeinde: Dagmerseller Steuerzahler schossen für die einheimischen unter den 59 Bewohnern fast eine Million Franken zu.
Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Raubzug auf Steuerzahler und Heimbewohner, ist in Wahrheit die Konsequenz der Vollkostenrechnung, die seit Einführung der neuen Pflegefinanzierung gilt. Der Fall des Dagmerseller Heims ist ein gutes Exempel. Teurer wurde für jeden «Eiche»-Bewohner die Tagestaxe für Kost und Logis und Betreuung wie Animation im Haus – um rund 6500 Franken pro Jahr. Die Kosten für die eigentliche Pflege hingegen werden aufgeteilt: Wer Pflege benötigt, muss seit Anfang 2011 höchstens Fr. 21.60 pro Tag übernehmen, und die Krankenkassen zahlen maximal 108 Franken. Das reicht meist nicht aus, um die Kosten zu decken. Die Differenz geht zulasten der öffentlichen Hand, sprich: des Steuerzahlers.
Im Kanton Luzern müssen die Gemeinden bis zu 70 Millionen Franken im Jahr zuschiessen. Der Kanton hat einen Schlüssel definiert, wonach die Bewohner im Schnitt 20 Prozent der Pflegekosten übernehmen, Kassen und Gemeinden jeweils 40 Prozent. Braucht jemand wenig Pflege, bezahlen er und seine Kasse prozentual mehr in den Topf – in der Regel. Steigt der Pflegebedarf, steigen die Kosten für die Steuerzahler. Die Übernahme der Kosten aus der Pflegefinanzierung führte unter anderem dazu, dass Luzern, Emmen und Hochdorf derart hohe Fehlbeträge schreiben, dass sie die Steuern anheben wollen. Die Gemeinde Hochdorf, deren Rechnung 2011 ein Defizit von 7,3 Millionen Franken auswies, strich frustriert die 1.-August-Feier. Sie hätte 4000 Franken gekostet.
Doch zurück nach Dagmersellen. Beim erwähnten Beispiel mit Pflegestufe 6 sieht die Rechnung für einen Bewohner der «Eiche» so aus: 18 Franken mehr pro Tag für Kost und Logis, Fr. 15.40 weniger für die Pflege. Also Fr. 2.60 mehr am Tag für den Bewohner, dafür Fr. 51.40 am Tag für die Gemeinde. Richtig teuer wird ein Bewohner auf Pflegestufe 12: Für ihn berappen die Dagmerseller Steuerzahler Fr. 134.80 pro Tag, er selber knapp 50 Franken am Tag weniger.
Angesichts des Plus von 878'000 Franken in der «Eiche» war Dagmersellen mit den massiv erhöhten Taxen wohl übers Ziel hinausgeschossen. Gemeinderätin Irene Tschupp Bättig, zuständig für die Finanzen, will noch nicht von Fehlkalkulation sprechen: «Ende Oktober sehen wir klarer. Dann haben wir die Grundlagen für die nötigen Rückstellungen und künftige Investitionen erarbeitet.» Peinlicherweise fehlt eine detaillierte Anlagebuchhaltung für das Alterszentrum. Daher stochert die Gemeinde im Budgetierungsnebel. Für 2012 wurde Gegensteuer gegeben – und der Berechnungsfaktor pro Pflegeminute gesenkt.
Zuvor hatte man von der Hand in den Mund gelebt: Rückstellungen wurden keine gebildet, stattdessen subventionierte man die Pflege quer und nahm jährliche Defizite in Kauf, die beinahe eine Million Franken erreichten. Mit der neuen Pflegefinanzierung wurde im Kanton Luzern nun genau festgelegt, welche Kosten wem belastet werden dürfen – eine Querfinanzierung der Pflege darf es nicht mehr geben.
Das Gesetz schreibt zudem vor, dass die Aufenthaltstaxe, die dem Bewohner verrechnet wird, künftig auch die Anlagekosten samt Amortisation und Zins sowie die Investitionen ins Heim zu decken hat. Doch wie hoch diese jährlichen Rückstellungen sein sollen, wie rasch sie gebildet und ob sie ausschliesslich der Pauschale für Kost und Logis zugeordnet werden, darüber herrscht im Finanzierungsdschungel der Pflege schweizweit keine Klarheit (siehe Artikel «Staat schröpft Heimbewohner»).
Einige Beispiele verdeutlichen, wie hier jeder nach eigenem Gutdünken fuhrwerkt. So verrechnen die Heime im Kanton Solothurn eine separate Infrastrukturpauschale von 28 Franken pro Tag, im Kanton Bern sind es bis zu 35 Franken. Andernorts werden diese Kosten nach unterschiedlichen Schlüsseln auch der Pflege und der Betreuung zugeordnet. Eine weitere Variante fand die Stadt Zürich: Sie rechnet 35 Prozent der Kosten für Gebäude, Energie und Fahrzeugdienst über die Pflegetaxe ab.
Für Preisüberwacher Stefan Meierhans ist klar: «Allgemeingültige Vorgaben sind nötig.» Und er sagt auch, wie gerechnet werden soll und was aus seiner Sicht unzulässig ist. Gemäss Preisüberwachungsgesetz ist eine Vollkostenrechnung inklusive Investitionen nicht zu beanstanden. Doch laut Meierhans sind «die effektiv anfallenden Kosten auf die gesamte Nutzungsdauer der Objekte zu verteilen. Damit sollen dem einzelnen Bewohner nur jene Kosten verrechnet werden, die in der von ihm bewohnten Periode anfallen.» Also dürfen ihm keine jahrelang versäumten Rückstellungen aufgebürdet werden.
Das ist ein Fingerzeig an Heime wie die «Eiche» in Dagmersellen: Die Gemeinde darf die Tarife erst erhöhen, wenn ihre Berechnung transparent ist.
Das deckt die Krankenkasse
Die zwölfstufige Abrechnungsstruktur definiert das Mass der Pflegebedürftigkeit eines Heimbewohners und leitet daraus die Leistung ab, die die Kassen übernehmen müssen, zum Beispiel für
- Stufe 1 (bis 20 Minuten Pflegebedarf pro Tag) 9 Franken
- Stufe 4 (61 bis 80 Minuten pro Tag) 36 Franken
- Stufe 6 (101 bis 120 Minuten pro Tag) 54 Franken
- Stufe 8 (141 bis 160 Minuten pro Tag) 72 Franken
- Stufe 12 (über 220 Minuten pro Tag) 108 Franken