«Er sagt, ich sei neurotisch»
Frage: Ich wohne mit meinem Freund zusammen und habe ständig Angstzustände, wenn er nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause kommt. Ruft er nicht an, fürchte ich sofort, ihm sei etwas zugestossen. Er kann das nicht verstehen und sagte kürzlich im Streit, ich sei hochgradig neurotisch. Hat er recht, und was heisst neurotisch überhaupt? Liliane F.
Veröffentlicht am 22. Mai 2007 - 13:45 Uhr
Neurose ist ein Begriff aus der Psychopathologie, der Lehre von den seelischen Störungen. Es ist unfair, solche Begriffe in einem Streit zu gebrauchen. In diesem Zusammenhang wirken sie nur entwertend und dienen lediglich dazu, zu verletzen und Ärger auszudrücken. In der Fachsprache hat der Begriff aber durchaus eine Bedeutung. Es wird grob zwischen Neurosen und Psychosen unterschieden. Psychosen sind sehr schwere Erkrankungen, die das Verhältnis zur Welt und zu den Mitmenschen massiv erschüttern und verändern. Sie müssen in der Regel mit Medikamenten und in vielen Fällen in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden.
Schizophrenie etwa fällt in diese Kategorie. Die Betroffenen haben den Bezug zur Realität verloren. Sie leiden oft unter wahnhaften Vorstellungen, sind überzeugt, von einer Sekte verfolgt zu werden, glauben, einen göttlichen Auftrag erfüllen zu müssen, oder sie hören Stimmen, die sonst keiner hören kann.
Nicht mehr Herr ihrer selbst
Neurosen nennt man die leichteren Störungen, unter denen wir alle mehr oder weniger leiden. Zwischen Gesundheit und Neurose gibt es nämlich keine scharfe Grenze, und neurotische Störungen umfassen das ganze Spektrum: von leichter Behinderung bis zu schweren, belastenden und quälenden Konflikten. Beispiele wären übertriebene Ängste - etwa vor Spinnen oder Schlangen oder eben vor dem Unfall eines nahestehenden Menschen -, Zwänge wie Putz- oder Grübelsucht, chronische Verstrickungen in der Partnerschaft und psychosomatische Erkrankungen wie Migräne, Verdauungs- oder Schlafstörungen.
Neurotischen Menschen ist gemeinsam, dass sie etwas erleben, was sie gar nicht wollen. Sie werden von unerwünschten Gefühlen gequält oder verhalten sich anders, als sie es möchten. Sie sind gewissermassen nicht mehr Herr ihrer selbst - Teile der Seele haben sich selbständig gemacht. Mit gutem Willen allein ist nichts auszurichten, denn eine neurotische Störung bedeutet immer eine Lebenseinschränkung. Ein Stück Freiheit ist verlorengegangen, und die Betroffenen spüren, dass sie nicht so können, wie sie möchten: Energie ist blockiert, man fühlt sich in einer Sackgasse, dreht sich im Kreis.
Wer unter einer Neurose leidet, findet sich stets in denselben ausweglosen Situationen wieder und ist offenbar unfähig, etwas daraus zu lernen und das Problem zu lösen. Experten sprechen auch von Wiederholungszwang: Im Gefängnis der Neurose kann man nicht anders, als immer wieder denselben Fehler zu machen.
Es gelingt auch nicht, sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Wer darunter leidet, braucht Psychotherapie. Das unbewusst gefundene neurotische Arrangement stellt zwar das seelische Gleichgewicht wieder her, aber es ist eine Art Schiefheilung. Bildlich gesprochen: Das gebrochene Bein ist zwar wieder zusammengewachsen, aber eben schief, und der Betroffene humpelt fortan durch die Gegend. Eine echte Heilung geschieht einzig dadurch, dass die unbewusste schlechte Konfliktbewältigung wieder aktiviert und durchgearbeitet wird. Dann kann eine bessere, angemessene Lösung gefunden werden. Die innere Spannung lässt nach, Symptome verschwinden, und es wird Freiheit im Verhalten zurückgewonnen.