Viel(e) Herz(en) für kognitiv beeinträchtigte Menschen
«Es kann doch nicht sein, dass man bei der Suche nach Liebe und Sex auf andere angewiesen ist», sagt Madeleine Zehnder. Darum hat sie ehrenamtlich eine Datingplattform für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung aufgebaut.
Aufgezeichnet von Anina Frischknecht:
Es war fast wie bei Aschenputtel – die Disconächte, an die ich meine Bewohnerinnen und Bewohner begleitete. Endorphin-Feste, auf die sie sich schon Tage vorher freuten. Dann tanzten sie, flirteten und knutschten. Aber um Punkt neun war der Zauber vorbei. Meine Schicht war zu Ende. Und wenn ich ging, mussten sie auch gehen. Wohl oder übel. Zeit für nachhaltige neue Bekanntschaften blieb keine. Zeit für die grosse Liebe schon gar nicht.
Aus dieser Erfahrung, eigentlich wegen meines schlechten Gewissens, kam ich auf die Idee einer Datingplattform, die auf Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zugeschnitten ist. Sex und Liebe sind doch wie Essen und Trinken. Ein Urbedürfnis. Doch im System, in dem Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung leben – dem System, in dem ich arbeite –, wird das ausgeklammert, und alles andere ist wichtiger. Freizeitgestaltung etwa oder die freie Arztwahl.
Es kann doch nicht sein, dass Menschen bei der Suche nach Liebe und Sex auf andere Menschen angewiesen sind. Das wollte ich ändern. Ich bildete mich zur Fachfrau Sexuelle Gesundheit aus, gründete den Verein Sexgüsi und baute mit einem Webdesigner die Plattform Deindate.ch auf. Ehrenamtlich. Als Hilfe zur Selbsthilfe. Seit einem Jahr sind wir online.
Die Diagnosen meiner Userinnen und User kenne ich nicht. Aber ich kenne ihre Geschichten, denn ich telefoniere mit allen, wenn sie sich das erste Mal registrieren. Ich helfe vielen von ihnen beim Erstellen der Profile – und auch bei Liebesfragen.
Die Liebe, nach der sich Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sehnen, ist oft idealisiert und kindlich, fast wie im Märchen. Zusammen auf einem Bänkli sitzen, eine Schifffahrt machen, Glace essen. Und wenn die Realität nicht so ist wie im Märchen, sind sie enttäuscht. Dann bin ich fast wie eine Dating-Fee und versuche ihnen zu helfen.
450 Userinnen und User sind momentan registriert, sie sind zwischen 19 und 70. Ich hoffe, es werden noch viele mehr. Denn in der Schweiz leben fast 80'000 Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, von Asperger bis Trisomie 21. Körperliche Nähe wünschen sich wohl alle. Doch der Zugang zu einer Online-Datingplattform ist für viele erschwert, auch bei Deindate.ch. Entweder fehlen ihnen die technischen Fähigkeiten und die Unterstützung, oder sie kennen unser Angebot nicht.
Sex ist ein Tabu. Der Sex von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung erst recht. Im Institutionsalltag darüber zu reden, ist nicht einfach. Man hat Angst vor ungewollten Schwangerschaften und Grenzüberschreitungen. Der vermeintlich beste Schutz dagegen: keinen Sex haben, besser gesagt, keinen Sex fördern.
Oft ist auch der Internetzugang streng reguliert. Pornoseiten sind gesperrt, Aufklärungsseiten wie jene der Aids-Hilfe Schweiz ebenfalls. Und auch meine Plattform Sexgüsi. Dabei suchen die Menschen nicht nach One-Night-Stands. Sie suchen nach Zweisamkeit, Wärme und Liebe. Sex ist oft die Folge.
Keine Aufklärung ist keine Lösung. Im Gegenteil: Ohne Aufklärung wissen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung nicht, wie man sich schützt. Vor Schwangerschaften, vor Krankheiten. Oder vor Gewalt und Missbrauch.
Es gibt leider viele Fälle, in denen kognitiv beeinträchtigte Menschen sexuelle Gewalt erfahren mussten. Auch auf Datingplattformen. Ein Beispiel geht mir nur schwer aus dem Kopf. Eine junge Frau hatte sich mit einem Mann verabredet. Doch bei ihrem Chatpartner zu Hause warteten auf sie mehrere Männer, die sie vergewaltigt haben. Meine Plattform ist deshalb exklusiv für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Leider ist das in unserer Gesellschaft noch immer nötig.