«Wieso ist er so misstrauisch?»
Frage: Mich kränkt das Verhalten meines neuen Partners. Er ist sehr zurückhaltend. Wenn ich ihn darauf anspreche, sagt er, er sei Frauen gegenüber eben sehr misstrauisch. Ich finde, dass es dafür bei mir keinen Grund gibt. Ich vertraue ihm doch auch. Martina F.
Veröffentlicht am 26. Mai 2008 - 17:10 Uhr
Leider kann man nicht einfach von sich selbst auf andere schliessen. Jeder Mensch ist ein Individuum mit eigener Lebensgeschichte und empfindet anders. Gefühle sind auch nicht automatisch gegenseitig. Sie verstehen das Misstrauen Ihres Partners nicht - also fragen Sie nach! Ohne Vorwurf, ohne Selbstverteidigung, nur neugierig. Vielleicht hat er in einer anderen Beziehung schmerzhafte Erfahrungen gemacht, vielleicht hat er schon als kleines Kind erfahren, dass es Menschen gibt, denen man nicht trauen kann.
Sollte herauskommen, dass da «ein Hund begraben liegt», dass er krankhaft misstrauisch ist, sollte er sich eine Psychotherapie gönnen, um das aufzuarbeiten. Wahrscheinlich führt aber bereits das offene Gespräch zu einer Entlastung: indem Ihre Kränkung verschwindet, weil Sie erkennen, dass das Misstrauen nichts mit Ihnen zu tun hat, und indem es auch durchaus möglich ist, dass das Aussprechen der Ängste bei Ihrem Partner zu einem Anwachsen des Vertrauens führt.
Die Wettbewerbsgesellschaft erschwert Vertrauen
Unabhängig von den individuellen Wurzeln bei einzelnen Menschen glaube ich, dass Misstrauen ein zunehmendes Übel der modernen Gesellschaft ist. Die Zeiten, in denen man Geschäfte mit einem Handschlag besiegelte und davon ausgehen konnte, dass die gegenseitigen Verpflichtungen eingehalten würden, sind vorbei. Heute muss man im Geschäftsleben misstrauisch sein, weil man davon ausgehen muss, dass in einer immer härter werdenden Wettbewerbsgesellschaft jeder rücksichtslos den eigenen Vorteil sucht. Deshalb brauchen wir einen Preisüberwacher, Konsumentenschutzorganisationen und nicht zuletzt den Beobachter, die auf unfaire Praktiken hinweisen. Immer mehr beeinflusst das Wirtschaftsklima aber auch die persönlichen Beziehungen. Mit der zunehmenden Ökonomisierung hat das Misstrauen auch im Privatleben Einzug gehalten.
Auch die Wissenschaft hat sich mit dem Thema Vertrauen befasst. Es wird definiert als «eine soziale Einstellung, die aus den gemachten Sozialisationserfahrungen einer Person resultiert». So erwirbt man zum Beispiel ein Urvertrauen in der ganz frühen Kindheit, wenn man eine liebevolle, zuverlässige Bezugsperson erleben darf. Spätere Erfahrungen mit Freunden und ganz besonders mit Liebespartnern verstärken die Grundeinstellung oder verändern sie allenfalls ein wenig.
Vertrauen hat drei Seiten. Erstens eine kognitive: Man weiss, dass man der Person vertrauen kann. Zweitens eine emotionale: Man fühlt sich sicher mit dieser Person. Und drittens eine Verhaltenskomponente: Man weiss, welche Handlungen vom Gegenüber zu erwarten sind. Vertrauen reduziert damit also die Komplexität der sozialen Wirklichkeit. Man fühlt sich sicher, weil man überzeugt ist, dass viele gefürchtete Dinge nicht passieren werden, und weil man ungefähr voraussehen kann, was man mit dem Partner erleben wird. Vertrauen ist da, wo man keine Angst haben muss.
Weil Vertrauen Zeit und positive Erfahrungen braucht, um sich stabil aufzubauen, ist es oft nicht gegenseitig. Ob man misstrauisch oder vertrauensvoll auf die Welt und den anderen zugeht, hängt eben von den gemachten Erfahrungen ab. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass es auch nach den grössten Enttäuschungen möglich ist, durch korrigierende Erfahrungen wieder Vertrauen zu gewinnen.