Es ist … eine Puppe
Menschen mit geistiger Beeinträchtigung können ausprobieren, was es heisst, ein Baby zu haben. Ein programmierter kleiner Schreihals machts möglich.
Veröffentlicht am 17. März 2015 - 12:31 Uhr
Heute bekommt Melanie Elias ein Baby. Sie wünscht sich ein Mädchen. Aber das bestimmt nicht sie, sondern Projektleiterin Dagmar Orthmann. Und zuerst muss Melanie mehr über Säuglinge lernen.
«Das Baby nörgelt, was könnt ihr tun?», fragt Orthmann. Die Kursteilnehmer wollen mit Vornamen genannt werden. «Es will ganz nah am Herzen der Mama sein», ruft Melanie. Oder ein Bäuerchen machen, sagt Orthmann. «Ein Bäuerchen ist ein Görpslein», sagt Melanie. Die 23-Jährige mit dem schelmischen Lachen ist aufgeregt, kann kaum stillsitzen. Sie will immer das erste Wort haben. Oder das letzte.
Fünf junge Menschen mit leichter geistiger Beeinträchtigung sitzen im Kursraum der Wohnschule Arkadis. Orthmann führt sie in die Mutter- und Vaterschaft ein. Die 49-jährige Psychologin konzipierte die Babysimulation «Storch+» an der Universität Freiburg (siehe Box).
Der Babysimulator wurde 1993 in den USA entwickelt, um Teenagerschwangerschaften zu verhindern. Seit 2002 gibt es in Deutschland Elternpraktika mit dem Simulator. Diese wurden für «normale» Teenager konzipiert, für kognitiv beeinträchtigte sind sie zu anspruchsvoll. Deshalb hat das Eidgenössische Büro für Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen die Uni Freiburg beauftragt, den Simulator für geistig Behinderte zugänglich zu machen. Seit 2012 arbeitet die Psychologin Dagmar Orthmann daran. Bei «Storch+» gibt es mehr Zeit zum Erklären, und die «Elternschaft» kann geteilt werden. Zudem können Ruhezeiten programmiert und der «Schreirhythmus» verändert werden.
Melanie soll erst an der ausgeschalteten Puppe üben. Sie hat Schiss, versteckt sich hinter Thomas Rösli. Der 30-Jährige tröstet sie: «Das kommt gut. Ich bin ja da. Du kannst dem Papi vertrauen.» Melanie schafft das Wickeln problemlos.
Dann bekommen die beiden «ihr» Baby. Es ist tatsächlich ein Mädchen. Melanie juchzt. Jasmin soll es heissen. Es wird gemessen, gewogen und erhält eine Geburtsurkunde. «Oh, willkommen auf der Welt, Jasmin», sagt Thomas. Melanie und Thomas leben in der Wohnschule der Stiftung Arkadis in Olten. Dort lernen Leute mit einer kognitiven oder Lernbeeinträchtigung während dreier Jahre, möglichst selbständig zu leben.
Nun machen die zwei freiwillig ein Schnupperpraktikum als Eltern. Vier Tage und drei Nächte lang versorgen sie einen Babysimulator. Dieser sieht aus wie eine Puppe, im Körper steckt aber eine elektronische Box, die auf den Rhythmus eines dreimonatigen Säuglings programmiert ist. Die Puppe schreit, wenn sie trinken will oder die Windeln nass sind. Sie weint, wenn sie ein Görpslein machen muss oder in den Arm genommen werden will. Ist sie zufrieden, gluckst sie fröhlich. Vergisst man, ihren Kopf zu stützen, lässt sie sich drei Minuten lang nicht beruhigen. Schüttelt oder schlägt man sie, schaltet sie sich aus. Jeder Handgriff wird vom Simulator aufgezeichnet und direkt in Orthmanns Computer übertragen.
Jasmin ist verdächtig still. Ob sie überhaupt richtig eingeschaltet ist? Thomas schiebt den Buggy durch die Migros. Melanie muss sich auf das Einkaufen konzentrieren. Und dann, just als sie die Eier aufs Band legt, fängt Jasmin an zu schreien. «Nein, gopferdammi, grad im blödsten Moment!», ruft Melanie. Sie muss sich mit dem Chip an ihrem Handgelenk bei Jasmin als Mutter anmelden, aber der Reissverschluss des Babyschlafsacks klemmt.
Die Eier sind bei der Kassierin angelangt, hinter Melanie reihen sich die Kunden. Jasmin will den Schoppen nicht nehmen, also müssen es die Windeln sein. Melanie kramt in der Tasche, schnauft und schwitzt. Ihr bleiben nur zwei Minuten für die Versorgung. Thomas steht schon bei der Einpackmulde und trinkt seine Cola. «Du könntest mir auch helfen, du Globi!», ruft sie. Endlich, die frischen Windeln haben angedockt, das Schreien verstummt. «Tschuldigung», murmelt Melanie verlegen.
Kaum haben Melanie und Thomas ihre Einkäufe verstaut, geht das Geschrei wieder von vorne los. Köpfe drehen sich in ihre Richtung, irritiert blicken die Umstehenden in den Kinderwagen. Das Babygeschrei klingt dumpf. «So peinlich!», nuschelt Thomas. Jasmin will jetzt den Schoppen. Sie schluckt und schluckt und schluckt, eine ganze Viertelstunde lang. Auf dem Heimweg schon wieder Gebrüll. «Wenn sie jetzt wieder Durst hat, kriege ich einen Anfall», stöhnt Thomas.
Sein Handy summt, der Betreuer will wissen, wann die beiden endlich vom Einkaufen zurückkommen. «Hallo?! Wir haben ein Baby, ich bin über Nacht Vater geworden!», ruft Thomas.
«Kognitiv beeinträchtigte Eltern sind schneller gestresst», erklärt Dagmar Orthmann. «Wenn sie auf mehrere Dinge gleichzeitig achten müssen, überfordert sie das oft.»
Die Psychologin forscht am Heilpädagogischen Institut der Uni Freiburg zu Elternschaft von intellektuell Beeinträchtigten. Das Feld wurde bisher erst zaghaft erschlossen. Studien zeigen aber, dass behinderte Eltern für die Gesundheit und die Sicherheit ihrer Kinder oft nicht genügend sorgen können. In der Regel benötigen sie dauerhafte Unterstützung. Ausserdem haben die Kinder laut einer norwegischen Studie von 1997 häufiger kognitive, sprachliche, motorische und psychosoziale Probleme.
Melanie hätte gerne einmal ein Kind. Wie Kinder gezeugt werden, weiss sie. Sie hatte schon mehrere Freunde und verhütete mit Pille und Kondom. «Bei Melanie kann ich mir am ehesten vorstellen, dass sie wirklich Mutter werden könnte», sagt Sozialpädagogin Christa Bürgi, die die junge Frau in der Wohnschule mitbegleitet. Melanie sei verantwortungsbewusst und kognitiv stark. Beeinträchtigt sei sie eher im psychosozialen und im emotionalen Bereich.
Als Kind habe sie schwierige Zeiten erlebt. Mehr möchte Melanie dazu nicht sagen. Seit sie in der Wohnschule lebt, geht es ihr besser. Sie hat eine zweijährige Attestlehre als Hauswirtschaftspraktikerin gemacht und arbeitet jetzt in einer geschützten Werkstatt – WCs putzen, Küche aufräumen und Mittagessen ausschöpfen.
Bis in die 1980er Jahre wurden vorwiegend Frauen mit einer geistigen Behinderung zwangssterilisiert. Heute darf niemand mehr ohne seine Einwilligung sterilisiert werden. Behinderte haben das gleiche Recht, sich zu entfalten, wie Nichtbehinderte. «Dazu zählt auch die Elternrolle», sagt Orthmann. Wenn Behinderte Eltern werden, müsse man aber für dauerhafte Unterstützung sorgen. «Eltern und Kinder sollten möglichst zusammenbleiben können.» Das sei aber schwierig, weil es in der Schweiz kaum begleitete Wohnformen für behinderte Eltern mit Kind gebe.
Jasmin schreit auch in der Nacht. Melanie und Thomas gähnen am Morgen synchron. Thomas hat seine Matratze in Melanies Schlafzimmer geschleppt, damit sie sich mit Versorgen abwechseln können. Die beiden waren einmal kurz ein Paar, heute sind sie Freunde. Anstrengend sei die Nacht gewesen. «Aber es ist köstlich, man hörte das Baby atmen. Ein Weltwunder!», sagt Thomas.
Thomas muss aufs Klo, hält aber das Baby im Arm. Und Melanie ist gestresst, sie sucht nach einer Tasche, in der sie Schoppen und Windeln verstauen kann. Sie übernimmt, legt Jasmin vorsichtig in den Buggy. Thomas lässt auf sich warten. Melanie muss am Abend aber kochen. «Komm endlich!», ruft sie. «Wenn du ein richtiges Baby hast, kannst du auch nicht so lange auf dem WC hocken.»
«Nein, gopferdammi, grad im blödsten Moment!»
Melanie Elias, Teilnehmerin beim Projekt Storch+
Melanie und Thomas nehmen ihre Aufgabe als Eltern sehr ernst. «Kognitiv Beeinträchtigte brauchen zwar länger, um Dinge zu verstehen. Aber wenn sie eingestiegen sind, sind sie mit Leib und Seele dabei», sagt Orthmann. Bei der Simulation mit der elektronischen Babypuppe spüre man körperlich, wie sich schlaflose Nächte anfühlten, man müsse ständig Entscheidungen treffen und sich mit dem Partner organisieren. «Das ist besser, als nur über Elternschaft zu reden.» Die Teilnehmer lernten, mit ihren eigenen Grenzen umzugehen.
«Aber natürlich ist der Unterschied zu echter Elternschaft riesengross», sagt Orthmann. Der Simulator verhält sich stereotyp, reagiert nicht auf die Stimmung der Eltern, lacht nicht und zappelt nicht beim Wickeln. Am Anfang seien die Teilnehmerinnen und Teilnehmer begeistert vom Baby. Dann aber lasse der Jö-Effekt nach, die Belastung werde spürbarer. «Meist sind sie dann ernüchtert.» Viele vertagen den Kinderwunsch erst einmal.
Dagmar Orthmann holt eine weitere Puppe aus der Tragtasche. Diese hat einen kleinen, deformierten Kopf und dünne Beine. «Ist das vielleicht ein Baby, das mehr Unterstützung braucht? Ein behindertes?», fragt Melanie. Die Mutter habe während der Schwangerschaft Alkohol getrunken, erklärt Orthmann. «Wie meine Mutter!», ruft Thomas. Sie sei schwer alkoholkrank gewesen, als er im Bauch gewesen sei. Er ist ein Adoptivkind, seine biologischen Eltern hat er nie kennengelernt.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schätzt, dass rund eines von 100 Kindern mit einer Fetalen Alkoholspektrumsstörung, einer vorgeburtlichen Schädigung durch Alkoholkonsum der Schwangeren, zur Welt komme. Alkohol sei damit der häufigste Grund für eine Behinderung, sagt Orthmann. Schon mässiges Trinken kann dem Fötus schaden. Die Teilnehmer haben verstanden: kein Alkohol in der Schwangerschaft.
Das Baby wird um fünf Uhr abends ausgeschaltet. «Es braucht schon viel Nerven», bilanziert Melanie. Anstrengend sei es gewesen, aber so schön. «Oh, Jasmin, jetzt verlässt du uns!», ruft sie. Ob sie es nicht behalten könne?
«Das kommt gut. Ich bin ja da. Du kannst dem Papi vertrauen.»
Thomas Rösli, Teilnehmer beim Projekt Storch+
Thomas hat genug gesehen. «Uff, ich bin froh, dass ich wieder meine Ruhe habe!», sagt er. Die Nächte seien der blanke Horror gewesen. Ein Kind sei nichts für ihn, das habe er jetzt gemerkt. Er sei überfordert gewesen.
Ausserdem bringe es nichts, ein Kind zu bekommen: «Es wird einem ja eh weggenommen.» – «Erzähl keinen Seich!», unterbricht ihn Melanie wütend. Orthmann klärt. Niemand dürfe einem das Kind wegnehmen, solange man gut für es sorge. Wenn Kinderschutzbehörden aber begründete Sorge um das Kindswohl hätten, könne es trotzdem geschehen. Thomas’ Angst sei also nicht ganz unbegründet.
«Ich habe es sicher schlecht gemacht», sagt Melanie vor dem Auswertungsgespräch. Nein, hat sie nicht: Orthmann gibt ihr knapp acht von zehn Punkten. Sie habe die meisten Versorgungen richtig gemacht – nur manchmal habe sie vergessen, den Kopf zu stützen. «Das tut mir selbst im Herzen weh», sagt Melanie. Sie ist sich nicht sicher, ob sie wirklich ein Kind grossziehen könnte. «Es wäre mir vielleicht zu anstrengend.» Erst muss sie sowieso lernen, wie man selbständig wohnt.