Das erste Mal weg von daheim
Heimweh ist etwas völlig Normales und kein Grund, ein Kind von den guten Erfahrungen in einem Lager abzuhalten. Die richtige Einstellung der Eltern hilft, die Trennung zu meistern.
Veröffentlicht am 18. Januar 2010 - 14:20 Uhr
Noch zwei Wochen, dann gehts ab ins Skilager. Sven und Tim aus Schlieren ZH freuen sich. Bedenken haben einzig die Eltern, weil ihre Kinder noch nie so lange von zu Hause weg waren: «Sind sie mit bald sieben und acht Jahren nicht noch zu klein, um eine ganze Woche allein in die Ferien zu gehen?», sorgen sie sich. «Was ist, wenn sie Heimweh haben oder etwas passiert?»
Dieter Simon, Schulleiter der Primarschule Reigoldswil BL, kennt Sorgen und Nöte von Eltern wie auch von Kindern. Seine Schule führt seit vier Jahren immer in der letzten Januarwoche ein polysportives Lager in Bergün durch, für alle Dritt- bis Fünftklässler – etwa 50 bis 60 Kinder. «Zwei, drei Kinder haben jeweils Heimweh», so Simon. Vor allem die Jüngeren. Nach seiner Ansicht hängt viel von der Einstellung der Eltern ab. «Als Erziehungsberechtigter habe ich es ja in der Hand, wie ich mein Kind vorbereite.» Oft habe er das Gefühl, die Kinder hätten weniger Probleme mit der Trennung als die Eltern.
Auch für Margarete Bolten vom Zentrum für Kinder- und Jugendpsychotherapie an der Universität Basel ist klar, dass die Haltung der Eltern einen entscheidenden Einfluss hat, wie ein Kind die Trennung meistert (siehe Box «Tipps für Eltern»). «Denken die Eltern ‹Mein Kind ist noch nicht reif› oder ‹Wir sind schlechte Eltern, wenn wir dem Kind das jetzt zumuten›, unterstützen sie es automatisch weniger stark.» Dem Kind entgingen dadurch wichtige Erfahrungen. Man könne es vergleichen mit einem Trainer, der seinem Schützling das Training nicht zutraut – sportlicher Erfolg sei so nicht zu erreichen. Laut Bolten ist ein Kind spätestens mit zwölf Jahren in der Lage, in ein Lager zu fahren. Je nachdem, wie viel Erfahrung es bereits mit Trennungen habe oder wie ausgeprägt seine Autonomie sei, falle es eben schwerer oder leichter.
Um ihre eigenen Bedenken zu beseitigen, half es den Eltern von Sven und Tim, mit den Lagerleitern zu reden. «Zu wissen, dass alles gut organisiert ist, dass die Lagerleiter viel Erfahrung haben und wir informiert würden, wenn die Kinder sehr stark Heimweh hätten, hat mich sehr beruhigt», sagt ihre Mutter. Sie hat jetzt jedenfalls ein gutes Gefühl, wenn sie ans Skilager ihrer Kinder denkt.
Auch Schulleiter Simon spricht vor dem Lager mit den Eltern, vor allem mit jenen, die befürchten, ihr Kind könnte Heimweh bekommen. «So können wir abmachen, wie wir reagieren. Etwa, ob das Kind zu Hause anrufen darf oder nicht – denn je nach Kind verschlimmert sich die Situation, wenn es die Eltern hört.» Auch mit den Kindern wird vor dem Lager über ihre Befürchtungen gesprochen. «Ein Vorteil bei uns ist sicher, dass die älteren Kinder die Situation vor Ort kennen», so Simon. Sie würden mit den Jüngeren Erfahrungen austauschen. «Der eine sagt vielleicht, er habe im ersten Jahr auch Heimweh gehabt, aber es habe dann Tee und Tröpfli gegeben, und so sei es verschwunden.» Jedenfalls habe in den letzten vier Jahren noch nie ein Kind nach Hause müssen.
Vor zwei Jahren sind indes zwei Kinder gar nicht erst mit ins Lager gegangen – die Eltern fanden, Wintersport sei nichts für sie. Bei einem weiteren Kind hatten die Eltern Bedenken, es mitgehen zu lassen – wegen seines Asthmas. Die meisten kantonalen Schulgesetze sehen vor, dass eine Dispensation von einem an sich obligatorischen Lager möglich ist – aus medizinischen, religiösen oder disziplinarischen Gründen. Im Baselbiet entscheidet die Schulleitung. Wer von der Teilnahme befreit ist, hat nicht einfach frei, sondern wird schulisch sinnvoll beschäftigt, sprich: Er muss in der Regel in einer anderen Klasse in den Unterricht.
Bleibt zu hoffen, dass Sven und Tim kein Heimweh bekommen oder – wenn es so sein sollte – das Reden mit den Leitern und die psychologisch wirksamen «Heimwehtröpfli» helfen. Probeweise schlafen die beiden nächstes Wochenende schon mal bei den Grosseltern.
Tipps für Eltern: So bereiten Sie Ihr Kind auf ein Lager vor
Margarete Bolten vom Zentrum für Kinder- und Jugendpsychotherapie der Universität Basel rät:
- Horchen Sie zuerst in sich hinein: Was halte ich vom Lager? Welche Gefühle habe ich, wenn ich daran denke, dass mein Kind für einige Tage wegfährt? Welche Ängste und Befürchtungen habe ich? Wie wahrscheinlich und wie realistisch ist es, dass meine Befürchtungen tatsächlich eintreten? Warum mute ich die Trennung meinem Kind nicht zu?
- Besprechen Sie auch die Gedanken und Gefühle Ihres Kindes in Bezug auf das Lager. Vorab kann auch schon mal probeweise trainiert werden, zum Beispiel indem das Kind eine Nacht bei der Grossmutter, dem Götti oder einer Kollegin schläft.
- Überlegen Sie, wie Sie im Fall einer «Heimwehkatastrophe» reagieren wollen. Besprechen Sie dies sowohl mit dem Lehrer als auch mit dem Kind.
- Lassen Sie das Kind einen Talisman, ein Plüschtier, ein Foto, einen Brief mitnehmen.
- Besprechen Sie mit dem Kind, was es tun könnte, wenn das Heimweh kommt, wie es sich am besten ablenken könnte (etwa durch Lesen, Musikhören, Reden mit anderen).
- Seien Sie Vorbild: Erzählen Sie von eigenen positiven Erfahrungen. Ignorieren Sie möglichst Ablehnung und Verweigerung, aber loben Sie unbedingt mutiges Verhalten.
- Wenn Ihr Kind das Lager erfolgreich bewältigt hat, sparen Sie nicht mit Lob.