Ich weiss, was du fühlst
Wichtiger als gute Schulnoten ist Einfühlungsvermögen. So bringen Sie es Kindern bei.
aktualisiert am 13. Juli 2017 - 13:31 Uhr
Für US-Präsident Barack Obama ist sie die notwendige Voraussetzung, um die Welt zu verändern. Und der dänische Familientherapeut und Buchautor Jesper Juul nennt sie «die härteste und wichtigste Währung von allen»: Empathie, auf Deutsch Einfühlungsvermögen – also die Fähigkeit, am Gefühl und an den Absichten einer anderen Person teilzuhaben und sie dadurch zu verstehen.
Aus der Forschung weiss man, dass beim mitfühlenden Menschen dieselben Hirnareale aktiviert werden wie beim Gegenüber – wir fühlen im wahrsten Sinn des Wortes mit, was in dessen Kopf passiert. Das heisst aber auch: Wer sich selber nicht spürt, seine eigenen Gefühle nicht kennt oder wahrnimmt, kann sich auch nicht in andere hineinfühlen. Tatsächlich fanden Forscher bei sogenannten Psychopathen, also Menschen ohne Empathie, wenig bis gar keine Reaktionen in den dafür zuständigen Hirnregionen.
Die Fähigkeit zur Empathie ist angeboren. Doch nur in einer Umgebung, in der Gefühle und Mitgefühl vorgelebt werden, kann sie sich entwickeln. Experten vergleichen sie deshalb manchmal mit der Sprache: Wer nie jemanden reden hört, wird selbst nie sprechen, auch wenn die Veranlagung vorhanden wäre.
Die «Intelligenz des Herzens» wird bei Kindern immer weniger geschult, beobachtet Juul. Zu viele Kinder wüchsen mit Eltern auf, die «wie Schauspieler immerzu ihre Elternrolle aufführen». Manche Eltern wollten ihre Kinder vor allem schützen, ersparten ihnen den Anblick eigener Trauer, etwa beim Tod der Grosseltern. «Doch Kinder, die nicht wissen, was es heisst, traurig oder frustriert zu sein, kennen auch kein Mitgefühl.» Wer sich dauernd verstellt und seine Gefühle unterdrückt, zieht den Nachwuchs zur Gefühlskälte heran.
Aber selbst unter idealen Bedingungen braucht der Mensch lange, bis er imstande ist, die Gefühle und Gedanken anderer zu lesen. Säuglinge beginnen zu weinen, wenn andere Kinder schreien, oder lassen sich vom Lachen der Eltern anstecken. Dieses Phänomen wird fachsprachlich als «Gefühlsansteckung» bezeichnet und hat mit Empathie oder Mitgefühl noch wenig zu tun.
Eltern erleben beim Heranwachsen ihrer Kinder ein Wechselbad der Gefühle. Beobachter-Mitglieder erhalten diverse Erziehungstipps für das Kleinkindalter bis hin zur Pubertät. Ausserdem erfahren sie, was sie bei Erziehungsproblemen tun können (beispielsweise Kinder vor den Gefahren des Internets zu warnen).
Erst im Alter von zirka 18 Monaten, wenn ein Kind anfängt, bewusst zwischen sich und anderen zu unterscheiden, machen die Kleinen erste Erfahrungen mit Freud und Leid der anderen. Diese Phase der empathischen Entwicklung wird auch «egozentrische Empathie» genannt, weil die Kinder sich zwar mitfühlend zeigen und den Kummer anderer spüren, aber dann vor allem das tun, was sie sich in derselben Situation wünschen würden: Ist die Mutter traurig, bekommt sie den Nuggi oder das über alles geliebte Kuscheltier zum Trost.
Parallel zum Verständnis für die Gefühlswelten anderer Menschen wächst die Erkenntnis, dass nicht alle gleichermassen Hilfe oder Mitgefühl verdienen. Schon im Alter von vier Jahren spenden Kinder nur noch jenen Trost, die ihn in ihren Augen verdienen: Schwächeren und Jüngeren, vertrauten Personen und jenen, die ihre Notlage nicht selbst verschulden.
Im Kindergarten beobachtet man deshalb eine grosse Bandbreite unterschiedlicher Reaktionen. Wenn ein Kind stürzt, greifen die einen Kameraden tröstend oder helfend ein, während andere eine erwachsene Person zu Hilfe rufen. Wieder andere reagieren bestürzt, aber ohne das betroffene Kind zu trösten; wieder andere beachten das Geschehen gar nicht. Diese Unterschiede haben auch mit Vererbung zu tun. Doch viel wichtiger, so sind Fachleute heute überzeugt, ist die Erziehung.
Wenn Kinder untereinander gemein sind, jemanden auslachen oder foppen, nützen Strafen wenig. Sie lenken die Aufmerksamkeit des Kindes nicht auf das Gefühlsleben des Opfers, sondern im besten Fall darauf, wie er oder sie sein Verhalten künftig unterdrückt – oder besser versteckt.
Wenn sich die Eltern stattdessen in aller Ruhe mit dem Kind zusammensetzen und es fragen, wie es sich an der Stelle des ausgelachten Kollegen fühlen würde, lenken sie die Aufmerksamkeit auf die Gefühlslage des anderen. Und sie vermitteln ihrem Kind, dass es für sein Handeln verantwortlich ist.
Verheerend auf die empathische Entwicklung wirken Gewalt und traumatische Erfahrungen. Der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth sagt, dass «die negative Konditionierung unsensibel macht gegenüber den Gefühlen anderer Menschen, weil sie das Hirn verformt». Studien zeigen, dass Kinder mit einer guten und verlässlichen Beziehung zu den Eltern eher sozial reagieren als solche, die mit eigenen Problemen beschäftigt sind. «Je besser der Kontakt zu uns selber ist, desto tiefer kann unser Verständnis für andere sein», resümiert Juul.
- Geschichten hören und erzählen: Das Eintauchen in die Welt anderer, das Teilen ihrer Erlebnisse ist nicht nur spannend, es fördert gleichzeitig das Verständnis für andere und ihr Tun.
- Gefühle respektieren: Kinder haben wie Erwachsene das Recht, traurig oder wütend zu sein und sich zu freuen. Sprüche wie «Das kann doch gar nicht weh tun» oder «Sei nicht so ein Angsthase» sollte man vermeiden, weil sie dem Kind vermitteln, dass seine Gefühle falsch oder unwichtig sind.
- Kindern regelmässigen Kontakt zu anderen Kindern ermöglichen: Kindern mit vielen Freunden oder älteren Geschwistern fällt es leichter, sich in andere Menschen einzufühlen.
- Auf den Familienton achten: Einander aufmerksam zuhören und sich gegenseitig ausreden lassen, fördert das Verständnis füreinander.
- Vorsicht bei brutalen Spielen und Filmen: Die Fähigkeit, auch fremde Gefühle nachzuempfinden, kann Angst oder auch Aggressionen auslösen.