«Er hat immer Wutausbrüche»
Wie Kinder lernen mit ihren Aggressionen umzugehen.
Veröffentlicht am 24. Juni 2013 - 17:46 Uhr
Myrta S.: «Unser Erstklässler hat immer wieder Wutanfälle. Zu Hause und manchmal auch in der Schule. Er ist viel aggressiver als sein älterer Bruder. Wie können wir das in den Griff bekommen?»
Nicht Sie müssen das in den Griff kriegen, sondern der Sohn selber. Aber natürlich müssen Sie und auch die Lehrerin ihm dabei helfen. Als Grundhaltung braucht es erstens: nicht wertendes Verstehen und zweitens: eine klar wertende Haltung. So soll einerseits klar sein, dass Konflikte gewaltfrei zu lösen sind, aber anderseits sollen Erziehungspersonen ohne Urteil zu verstehen versuchen, wie die Wut zustande kommt.
Alle Gefühle, auch negative wie Ärger, Hass und Wut, sind berechtigt, aber die Form des Ausdrucks soll zivilisiert und fair sein. Das kann und muss man lernen.
Natürlich ist es für temperamentvolle Menschen oder für Dünnhäutige, die schnell verletzt sind, schwieriger, ihre Gefühle kontrolliert zu äussern, als für robustere, weniger heissblütige Naturen.
Es gibt verschiedene psychologische Theorien, wie Aggressionen entstehen. Sigmund Freud und Konrad Lorenz waren beide überzeugt, dass den Menschen eine grosse Aggressivität angeboren ist. Beide sprechen von einem Aggressionstrieb, der sich auffüllt wie ein Reservoir und von Zeit zu Zeit ausgelebt werden muss. Er kann in Ehrgeiz und Unternehmungslust umgewandelt und zum Karrieremotor werden, oder er findet im Sport ein körperliches Ventil. Das Ausüben einer Kampfsportart etwa kann also aggressiven Kindern helfen, ihre Explosivität in den Griff zu bekommen.
Eine zweite Theorie zeigt, dass aggressives Verhalten gelernt wird. Wenn Eltern oder Geschwister mit Gewalt Erfolg haben, wird dieses Modell übernommen. Daher ist es für Erziehende sehr wichtig, ein gewaltfreies Vorbild abzugeben.
Eine dritte Theorie verweist auf die Rolle der Frustrationen. Wenn wichtige Grundbedürfnisse, Wünsche oder Ziele unterdrückt werden, entsteht Wut. Betroffene Kinder werden aggressiver sein als solche, die einen grossen Bereich ihres Lebens selber gestalten können. Anderseits muss auch eine gewisse Frustrationstoleranz eingeübt werden. Verwöhnte Kinder können sehr aggressiv werden, wenn ihnen die Welt plötzlich nicht mehr zu Füssen liegt.
Der Mensch ist möglicherweise von seinem Potential her wirklich das aggressivste Lebewesen, wenn man etwa an all die blutigen Kriege denkt, die immer wieder geführt werden. Aber wir sind auch soziale Wesen mit angeborener Fähigkeit, uns in andere einzufühlen.
Angesichts dieser Tatsachen braucht es emotionales Lernen. Emotionale Intelligenz bedeutet, dass man seine Gefühle wahrnehmen kann, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Und dass man auch die Gefühle anderer erkennt und respektiert. Emotionales Lernen wird heute bereits auf allen Schulstufen gefördert und geschieht idealerweise auch zu Hause. Sowohl für die Schule als auch für Eltern gibt es viele Hilfsmittel (siehe «weitere Infos»).
- Bei starken Wutanfällen abwarten, bis das Gröbste vorbei ist (Eingreifen macht es nur schlimmer, wirkt eskalierend).
- Nachfragen, wie die Wut genau entsteht (vergrössert das Verständnis des Erziehers und hilft dem Kind bei der Selbstbeobachtung; diese verlangsamt den Prozess, was wiederum die Kontrollmöglichkeit erhöht).
- Verhaltensalternativen besprechen (wie kann die Wut oder der Ärger geäussert oder abgebaut werden, ohne andere zu kränken oder zu verletzen?).
- Unnötige Frustrationen vermeiden (Kinder brauchen Bewegungsfreiheit und Herausforderungen).
- Gezielt Frustrationstoleranz einüben (lernen, Unangenehmes eine Weile auszuhalten, Belohnungen etwas aufzuschieben).
- Versuchen, selber immer ein Vorbild für gewaltlose Konfliktlösung zu sein.
- Klaus A. Schneewind, Beate Böhmert: «Kinder im Grundschulalter kompetent erziehen. Der interaktive Elterncoach ‹Freiheit in Grenzen›»; Verlag Huber, 2009, 192 Seiten, inklusive DVD (häusliche Konfliktbeispiele auf DVD mit verschiedenen Lösungsvarianten)
- www.esski.ch: (Eltern und Schule stärken Kinder: Angebote der Fachhochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz für Schule und Elternhaus)