Wie bringen wir unsere Werte auf einen Nenner?
In einer Partnerschaft treffen unterschiedliche Werte aufeinander. Wie kann man da als Eltern bei der Erziehung der Kinder eine einheitliche Linie fahren?
aktualisiert am 5. Juli 2018 - 11:40 Uhr
Leserfrage: «Meine Frau und ich sind völlig verschieden. Wie bereiten wir unser Kind dennoch konsequent aufs Leben vor?»
Sobald Leute zusammenleben, braucht es Regelungen. Wenn man alles, was zwischen ihnen passiert, jeweils neu klären und bestimmen wollte, käme man zu nichts anderem mehr. Regelungen vereinfachen und ordnen den Alltag. Dabei braucht es kein schriftlich verfasstes Regelwerk, vieles entsteht aus kleinen pragmatischen Absprachen. Wer schon mal in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, kennt das: Kompostkübel? Im Sitzen pinkeln? Putzplan?
«Am wohlsten fühlt man sich in einem Umfeld, in dem das Wesentliche klar geregelt ist und daneben Raum für Individuelles besteht.»
Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin
Allen sozialen Systemen liegt eine Mischung aus Struktur und Prozess zugrunde. Ohne Struktur entsteht anstrengendes Chaos, zu viel Struktur tötet die Lebendigkeit. Am wohlsten fühlt man sich in einem Umfeld, in dem das Wesentliche klar geregelt ist und daneben Raum für Spontanes und Individuelles besteht.
Ähnlich funktioniert es in der Familie. Jede hat ihr Werte- und Normensystem. Wenn die Kinder noch klein sind, definieren die Eltern, was gilt. Später nutzen die Eltern im besten Fall die Chance auf gemeinsame Weiterentwicklung und passen auch Normen und Regeln den sich ändernden Bedürfnissen an.
Wie sieht nun ein solches Gleichgewicht zwischen Regelung und Freiraum aus? Traditionelle Familiensysteme funktionierten über eine grosse Anzahl von unumstösslichen Regeln. Vorgegeben war, wie «man» sich verhält. Kinder wurden ständig durch diese Wertebrille beobachtet und bei jeder Abweichung korrigiert . Eltern waren sich einig, man «zog an einem Strang». Dass viele Erwachsene sich selber nicht an diesen Verhaltenskodex hielten, stand nicht zur Diskussion.
Dieses Erziehungssystem war starr auf Gehorsam und Anpassung ausgerichtet, es gab wenig Raum für Ausnahmen, wenig Flexibilität. Heute hat Erziehung andere Ziele. Sie soll Entwicklung ermöglichen, damit Kinder eigenständig und sozial kompetent werden. Nur so sind sie Anforderungen der heutigen Zeit gewachsen.
Wie können Eltern erreichen, dass ihr Kind ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt und lernt, selbständig zu handeln und zu denken? Welche Rolle spielt eigentlich die vererbte Anlage in der Erziehung? Beobachter-Mitglieder finden im Merkblatt «Was können Eltern mit ihrer Erziehung erreichen?» Antworten auf Grundfragen der Erziehung.
Was heisst das nun bezüglich der Frage, wie konsequent und einig Eltern sein müssen?
- Gewichten Sie! Werden Sie sich klar, was für Sie beide die «hard Facts» sind, Regeln, die immer gelten und mit den Kindern nicht diskutiert werden . Sie sichern das Kindswohl und müssen konsequent durchgesetzt werden. Beispiel: kein Alkohol mit 13 Jahren.
- Es gibt Werte und Normen, die Ihnen beiden mehr oder weniger wichtig sind, wie Ordnung im Zimmer oder vor dem Bildschirm verbrachte Zeit. Hier macht es Sinn, als Eltern nicht permanent diametral entgegengesetzt zu reagieren. Aber es gibt durchaus Spielraum für individuelle Ausgestaltung bei der Umsetzung. Und immer daran denken: Kinder machen nicht das, was wir sagen, sie machen das, was wir tun.
- Der Rest schliesslich regelt sich, wie sich auch das Miteinander von Erwachsenen regelt. Indem man sich innerlich klar wird, was man möchte, und das sichtbar macht. Indem man Verantwortung für eigene Bedürfnisse übernimmt und die eigenen persönlichen Grenzen in einer persönlichen Sprache verteidigt: «Mir ist das zu laut.» «Ich will, dass du mich kurz in Ruhe lässt.»
Beispiel: Das Kind erklimmt ein Klettergerüst auf dem Spielplatz. Die Mutter ist schon bei zwei Meter Höhe alarmiert. Sie verbietet dem Kind, höher zu klettern, und kommuniziert das: «Sorry, mehr halte ich nicht aus. Ich weiss, du könntest noch weiter, aber das stresst mich zu sehr.» Am nächsten Tag ist der Vater dabei und bleibt auch bei vier Metern gelassen.
Persönliche Grenzen sind nicht fix und immer gleich. Sie variieren in Abhängigkeit von Tagesform und Stresslevel. Solche Unterschiede können Kinder gut akzeptieren, eine Regel ist unnötig.
- wenige, aber eindeutige Regeln
- Raum für Individualität lassen, flexibel anleiten und
- Vorbild sein
- Mut zu Klarheit und Verantwortung übernehmen für persönliche Grenzen
«Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Gelassen durch die Jahre 5 bis 10»; Danielle Graf, Katja Seide; Verlag Beltz, 2018, 360 Seiten, CHF 27.90