Die neunjährige Maria isst fast nichts, kann nicht allein einschlafen und wacht schreiend auf. Zur Schule geht sie nur noch in Begleitung ihrer Mutter – und weigert sich, den üblichen Weg zu nehmen. Denn dort sah sie kürzlich, wie eine Velofahrerin von einem Lastwagen überrollt wurde.

Marias Reaktion auf das aussergewöhnlich belastende Erlebnis ist normal und gehört zum Verarbeitungsprozess. «Die Symptome verschwinden meistens innerhalb von vier Wochen oder nehmen zumindest deutlich ab», sagt Markus Landolt, leitender Psychologe am Kinderspital Zürich und Experte in Psychotraumatherapie.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Um das Trauma zu überwinden, braucht ein Kind in erster Linie Eltern, die mit der Situation umzugehen wissen und sich nicht scheuen, wenn nötig Hilfe zu holen. «Die Familie spielt bei der Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses eine tragende Rolle», sagt Psychologe Landolt.

«Die meisten Kinder wollen erzählen»

Das Kind sollte über das Erlebte sprechen dürfen, aber nicht dazu gedrängt werden. Das ist in der Regel auch nicht nötig: «Die meisten Kinder wollen erzählen, oft sprudelt das Erlebte einfach aus ihnen heraus», sagt Landolt. Das ist für Eltern nicht immer leicht auszuhalten, hilft dem Kind aber, das Geschehen einzuordnen. Dieser Prozess dauert seine Zeit, weil im Moment des traumatisierenden Ereignisses so viel Stresshormone ausgeschüttet werden, dass das Gehirn nicht mehr normal arbeitet. Bilder werden nur noch als Blitzlichter und nicht unbedingt in korrekter zeitlicher Folge abgespeichert, die Erinnerung ist bruchstückhaft. Falls sie das bleibt, können Traumatisierte noch Monate später plötzlich in Angst und Schrecken verfallen, ohne den Grund dafür zu verstehen.

Wenn ein Kind hingegen weiss, dass es von einem roten Auto angefahren wurde, begreift es seine Panik beim Anblick eines roten Fahrzeugs – und verliert sie mit der Zeit. Es gehört zum Heilungsprozess, sich über diese «Trigger» genannten Auslöser bewusst zu werden. Bei jüngeren Kindern, die sich noch nicht gut ausdrücken können, wird deshalb empfohlen, das Erlebte nachzuspielen oder zu zeichnen.

Es hängt von vielen Umständen ab, ob und wie schnell das traumatische Erlebnis verarbeitet werden kann. Ein Faktor ist das Ereignis selbst. Gewalt von anderen Menschen, insbesondere in der eigenen Familie, traumatisiert Kinder oft fürs Leben. Naturkatastrophen dagegen können in der Regel besser verarbeitet werden.

Alle Kinder zu begleiten ist nicht nötig

Auch die Vorgeschichte eines Kindes spielt eine entscheidende Rolle. «Von einem einmaligen Trauma erholen sich die meisten Kinder gut», sagt Landolt. So gut, dass man etwa wieder davon abgekommen ist, nach einem Verkehrs- oder Brandunfall alle Kinder psychologisch zu begleiten. Stattdessen eruieren Psychologen mit einem Fragebogen, wer gefährdet ist, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln – und konzentrieren sich auf diese Personen (siehe «Was ist eine posttraumatische Belastungsstörung?»).

Bei allen anderen beschränkt sich die Psychologie darauf, die Verunfallten und ihre nächsten Bezugspersonen über mögliche Folgen und Alarmzeichen aufzuklären. Die möglichen Symptome reichen von vorübergehenden Rückschritten in der Entwicklung über aggressives Verhalten bis zur Vermeidung all dessen, was Erinnerungen hervorrufen könnte. «Ausserdem wirft so etwas gerade bei Kindern sehr viele Fragen auf», sagt die Notfallpsychologin Anna Menzi von Krisenintervention Schweiz. «Was passiert, wenn man stirbt?» ist nur eine davon, die sich vor allem kleinere Kinder stellen. Bei älteren tauchen eher Fragen nach dem Sinn des Lebens auf.

In der ersten Zeit nach dem traumatischen Erlebnis ist es wichtig, dass das Kind möglichst rund um die Uhr eine vertraute Person um sich hat. Denn das gibt ihm, was es im Moment am meisten braucht: Sicherheit. Wenn die Eltern das nicht gewährleisten können, weil sie selbst traumatisiert oder verletzt sind, sucht man nach anderen nahen Bezugspersonen, einer Nachbarin, der Gotte, dem Götti. Gleichzeitig raten Fachleute, möglichst schnell zum gewohnten Tagesablauf zurückzukehren, weil auch das Sicherheit vermittelt. Selbstverständlich müssen alle Leute, die das Kind täglich sehen, über den Vorfall informiert sein – und im Idealfall Bescheid wissen über mögliche Traumafolgen. «Die Schule ist eines der wichtigsten Sozialisierungsfelder für Kinder. Es wäre also sinnvoll, wenn Menschen, die täglich Kinder betreuen, über Traumatisierungen informiert wären», sagt Psychologin Menzi.

Das Trauma überhaupt erkennen

Das wäre auch präventiv sinnvoll. Über die Hälfte der Teenager weiss aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn einem plötzlich der Boden unter den Füssen weggezogen wird – das zeigt eine Schweizer Studie von 2013, an der über 6700 Neuntklässler teilnahmen. Sie standen daneben, als jemand von einem Auto angefahren wurde, oder sind selbst schwer verletzt worden. Sie wurden Zeuge eines Selbstmords oder Überfalls – oder haben eine Naturkatastrophe überlebt. Wer die typischen Folgen solcher potenziell traumatisierender Erlebnisse nicht kennt, ist ihnen hilflos ausgeliefert und hält sich unter Umständen gar für verrückt. «Aufklärung ist auch deshalb ein wichtiger Teil unserer Arbeit», sagt Psychologin Menzi. Dennoch geschieht Aufklärung in der Praxis oft erst, nachdem etwas passiert ist. Und manchmal gar nicht, denn längst nicht alle traumatisierenden Ereignisse sind von so grosser Tragweite, dass Notfallpsychologen informiert werden.

Maria hatte Glück im Unglück. Sie war mit weiteren Kindern auf dem Heimweg, als der Unfall geschah. Die Schule wandte sich noch am selben Tag an eine Fachstelle. Der Psychologe klärte Kinder, Lehrer und Eltern über mögliche Folgen des Erlebten auf. Maria nimmt wieder ihren alten Schulweg – auch allein. «Ich denke nur noch selten daran», sagt die heute Zehnjährige.

Was ist eine posttraumatische Belastungsstörung?

Sie entwickelt sich in der Folge eines traumatischen Ereignisses, das nicht wirklich verarbeitet werden konnte. Es kann ein normales Leben oder die normale Entwicklung beeinträchtigen. Damit es nicht so weit kommt, sollten Eltern Folgendes beachten: Symptome und Verhaltensweisen wie Schreckhaftigkeit, (Trennungs-)Angst, Nervosität, Wiedererleben der Situation, Alpträume, Konzentrationsschwierigkeiten, Vermeidungsverhalten, Nachspielen des Geschehens gelten am Anfang als normal. Wenn sie nicht kontinuierlich abnehmen und/oder länger als vier Wochen andauern, sollte man eine Fachperson kontaktieren.

Eltern sollten Verhaltensänderungen beim Kind genau beobachten und sich im Zweifelsfall lieber einmal zu oft an eine Fachperson wenden.