Denn sie wissen nicht, was sie tun
Trotzig, laut, frech: Pubertierende Jugendliche können ganz schön anstrengend sein. Doch neue Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen, dass die Kids gar nichts dafür können.
Heute sieht es die 17-jährige Katarina Tereh gelassener: «Sie hat sich wohl einfach Sorgen gemacht.» Vor drei Jahren aber, als sich der tägliche Kleinkrieg zwischen der jungen Bernerin und ihrer Mutter auf dem Höhepunkt befand, war von Verständnis keine Spur (siehe Porträts). Die Frage der Mutter, ob sie eigentlich einer Sekte verfallen und deshalb kaum mehr zu Hause sei, empfand Katarina als Affront: «Wie konnte sie mich dermassen falsch einschätzen?» Zu jener Zeit habe sie mit ihrer Clique oft in der Stadt herumgehangen, «einfach so». Aber das komme in der Logik von Erwachsenen halt nicht vor. Was sie damals dachte: «Eltern begreifen überhaupt nichts!»
Gegenseitiges Unverständnis, plötzliche Entfremdung, Eltern, die von Beschützern zu Gegenspielern werden: typische Erscheinungen der Pubertät. Doch was Eltern und Erziehern seit je den Verstand raubt, muss heute durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse anders erklärt werden. Denn seit die Forscher den Jugendlichen in den Kopf schauen können, weiss man, dass die Wahrheit im Gehirn liegt. Und als Schlussfolgerung daraus: Die heranwachsenden Nervensägen verhalten sich nicht absichtlich so – sie können gar nicht anders.
Bis vor kurzem glaubte man noch, die Verwandlung der lieben Kinder zu biestigen Monstern, die nichts tun, als zu widersprechen und zu provozieren, sei ausschliesslich eine Sache der in Aufruhr geratenen Hormone. Nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Weit mehr ins Gewicht fallen die Vorgänge im Kopf der etwa Zwölf- bis Neunzehnjährigen: Ihr Denkapparat macht in der Pubertät eine Phase äusserst komplexer Veränderungen durch, einen ähnlich tief greifenden Wandel wie während der entscheidenden Entwicklungszeit in der frühen Kindheit.
«Das Gehirn entwickelt sich in den Teenagerjahren extrem dynamisch», bestätigt Lutz Jäncke, 48, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Jäncke ist seit 2002 Inhaber des ersten und einzigen Lehrstuhls dieser noch jungen Disziplin in der Schweiz, die den Zusammenhang zwischen Gehirn und Verhalten untersucht. Die wichtigste Erkenntnis in Bezug auf die Pubertätsforschung: Der Frontallappen, der Gehirnbereich unmittelbar hinter der Stirn, reift bis ins 20. Lebensjahr. Diese derart verzögerte Entwicklung war bislang nicht bekannt und wurde erst durch die Verwendung moderner Scanning-Verfahren bestätigt.
Diese Veränderungen im Denkorgan lassen die Pubertierenden die Welt vorübergehend anders erfahren – und in manchen Situationen wissen sie schlicht nicht, was sie tun. Denn beim besagten präfrontalen Kortex handelt es sich ausgerechnet um jenen Bereich, der so wichtige Verhaltensformen wie Disziplin, Aufmerksamkeit, Motivation, Urteils- oder Einfühlungsvermögen steuert (siehe Nebenartikel «Jugendliches Gehirn: Wenn die Bremse fehlt»). «Hardwaremässig sind Jugendliche weniger in der Lage, umsichtig zu planen, Impulsen zu widerstehen oder Konsequenzen abzuschätzen», erklärt Neuropsychologe Jäncke. «Ihnen fehlt die wirkungsvolle Selbstkontrolle.»
Der präfrontale Kortex funktioniert bei Erwachsenen als eine Art «Vorstandschef» des Gehirns, und genau diese Bremse ist bei den Teenies noch nicht so effizient. Zudem erlebt die so genannte weisse Substanz im Gehirn während der Pubertät einen zweiten Wachstumsschub, es werden also neue Verbindungen im Gehirn gebildet, so dass die Verkabelung zwischen den Hirnstrukturen zunimmt. Danach wird das Gehirn auf das Notwendige zurückgestutzt und spezialisiert. «Nur was gebraucht wird, bleibt erhalten», beschreibt Jäncke diese dramatischen Reifungsvorgänge.
Angesichts der Grossbaustelle im jugendlichen Gehirn darf es nicht erstaunen, wenn sich Eltern über ihre plötzlich merkwürdigen Sprösslinge nur noch wundern können. «Das passt doch gar nicht zu ihr», denkt sich jeweils Christoph Hebing aus Muri BE, wenn seine 16-jährige Tochter Helena wieder mal «diese gewisse Arroganz» an den Tag legt (siehe Porträts). Wenn sie sich in etwas verrenne, gelte für Helena nur noch ihre eigene Meinung, sagt der 48-jährige Schauspieler und Theaterpädagoge, alles andere sei rein gar nichts wert. «Diese Intoleranz nervt mich manchmal gewaltig», gesteht Hebing. Tochter Helena, auf der anderen Seite des familiären Schützengrabens, sieht dies freilich exakt umgekehrt: «Er will nie nachgeben, auch wenn ich die besseren Argumente habe.»
Könnten die Erkenntnisse aus der Neuropsychologie die bisweilen verhärteten Fronten im Hause Hebing aufweichen? Teilweise schon, findet die Zürcher Jugendpsychologin Eva Zeltner: «Das Wissen, dass die Jugendlichen nicht absichtlich auf Konfrontationskurs gehen, erlaubt es den Eltern, sich mehr zu distanzieren, also nicht alles auf die eigene Person zu beziehen.» So würden falsche Emotionen aus dem Spiel bleiben, wodurch sich manche Situation entspannen liesse.
Die erfolgreiche Buchautorin warnt aber davor, die Gegebenheiten im noch unausgereiften Gehirn als Vorwand zu nehmen, im Erziehungsalltag die Zügel schleifen zu lassen – so unter dem Motto: Es nützt ja doch nichts. «Eltern müssen auf ein problematisches Verhalten ihrer Kinder unbedingt reagieren, sie sollen Stellung beziehen und Grenzen setzen», sagt Zeltner. Dies auf der Basis eines Wertesystems, das früh genug etabliert werden müsse. «Wer glaubt, es reiche, seine Kinder erst mit Beginn der Pubertät mit Regeln und einem Rahmen vertraut zu machen, wird sein blaues Wunder erleben.»
Auch Neuropsychologe Lutz Jäncke, selber Vater zweier Jungs im Alter von zehn und fünfzehn Jahren, rät vom Laisser-faire ab. «Wir Eltern müssen uns manchmal so verhalten, als wären wir der präfrontale Kortex unserer Kinder, also gleichsam die Bremse für ihre im Überfluss vorhandenen Emotionen.» Teenager bräuchten in hohem Mass Hilfestellungen bei der Selbstdisziplinierung oder beim Strukturieren von Tagesabläufen. «Fördern und Fordern gehören unabdingbar zusammen», sagt der Gehirnforscher. Man müsse früh anfangen, die Kinder an Aufgaben heranzuführen. So sei der Stolz über ein gelungenes Fussballspiel oder eine bestandene Prüfung die beste Droge, die es gebe. Sein Fazit: «Leistungsmotivation muss trainiert werden, weil diese Anlage im Frontallappen noch nicht genügend vorhanden ist.»
Jäncke geht gar noch einen Schritt weiter und fügt provokativ an, dass im Grunde genommen das gesamte heutige Schulsystem überdacht und reorganisiert werden müsste: «Die Pubertät ist eigentlich die ungünstigste Zeit, um Kinder in die Schule zu schicken und zu prüfen.» Das bildungsmässige und berufliche Selektionsverfahren genau in diesem wichtigen Lebensabschnitt durchzuführen sei grotesk, findet der Wissenschaftler: «Wo die Jugendlichen doch sonst schon mit allem überfordert sind.»
Mit solchen Ideen rennt Lutz Jäncke, der häufig im Rahmen von Lehrerfortbildungen referiert, vorderhand aber noch keine offenen Türen ein. Anton Strittmatter, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, ist skeptisch: «Ich halte es für sehr gewagt, solche Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen der neueren Hirnforschung zu ziehen. Dafür ist es viel zu früh.» Für die Entscheidung, ob das gewachsene System des Bildungswesens umgekrempelt werden müsse, sei die Faktenlage noch zu dürftig.
Während sich die Schule an Hergebrachtes klammert, warten auf entnervte Eltern von entfesselten Pubertierenden jeden Tag neue Herausforderungen. Gut, dass es aber auch da noch Hoffnung gibt. So freut sich Myrtha Steiner aus dem schwyzerischen Wollerau jedes Mal darüber, wenn ihr Florian – mit 15 «weder Fisch noch Vogel» – beim alltäglichen Kräftemessen auch immer wieder seine weichen Seiten zeigt. «Bis heute geht er nie aus dem Haus, ohne sich mit einem Küsschen zu verabschieden», sagt die 47-Jährige. «So lässt er mich spüren, dass er mich trotz allem gern hat.»
Die Jugendpsychologin Eva Zeltner dürfte nicht falsch liegen, wenn sie in ihrem neuen Buch «Halt die Schnauze, Mutter!» ein versöhnliches Fazit zieht: «Wenn auch die Pubertät für die meisten Kids und ihre Eltern eine turbulente bis schwierige Phase bedeutet, so hinterlässt sie doch bei der Mehrheit keine bleibenden Schäden.»
Buchtipps
- Barbara Strauch: «Warum sie so seltsam sind»; Berliner Taschenbuch-Verlag, 2004, 336 Seiten, Fr. 18.10
- Eva Zeltner: «Halt die Schnauze, Mutter!»; Zytglogge-Verlag, 2005, 184 Seiten, 29 Franken